Das Ende eines langen Weges

Mein Abschied von der SPD

Solange ich mich erinnern kann, hat meine Familie die SPD gewählt. Für uns stand fest, dass sie es war, die sich um den Lebensstandard des „kleinen Mannes“ kümmerte.

Meine Eltern haben in Lohnarbeit in der bergischen Stadt Solingen Messer hergestellt und oft 14 Stunden am Tag, manchmal sogar 16, gearbeitet. Sie haben unserer Familie damit einen sehr bescheidenen Wohlstand geschaffen. Als ich 1975 in die Internatsschule kam, waren mir warmes Wasser ohne Heizen auf dem Herd, ein Klo im Haus und eine Badewanne fremd. Wir Kinder hatten immer genug zu essen, aber unsere Eltern nicht unbedingt. Und als ich begann, mich für Politik zu interessieren, war klar, dass nur die SPD unsere Situation verbessern konnte. Später beschlich mich manchmal der Verdacht, meine Familienmitglieder wählten die Partei nur noch aus Tradition, aber beweisen konnte ich es nicht. Eine Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie war für mich denn auch ganz natürlich.

Als Helmut Schmidt gestürzt wurde, am 1. Oktober 1982, brach für mich als 13jähriger Junge eine Welt zusammen. Ich mochte den Bundeskanzler wegen seiner Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, und wegen seiner realistischen Politik. Viele in der SPD aber mochten ihn nicht. Sie waren ihm nur Widerwillig zum NATO-Doppelbeschluss gefolgt. Jetzt, als die Regierungszeit vorbei war, entfernten sie sich auch ganz schnell von diesem Beschluss, aber ich nicht. Zum ersten mal hatte ich das Gefühl, der SPD politisch in einem wichtigen Punkt nicht folgen zu können. Doch je länger Helmut Kohl im Chefsessel im bonner Kanzleramt saß und aussaß, desto mehr folgte ich der SPD wieder in ihrer linker werdenden Politik. Und mitte der achtziger Jahre erkannte ich in Michail Gorbatschow den neuen politischen Helden. Immer mehr nahm ich mich der Inhalte der Programme der Parteien an und kam tatsächlich bei der SPD heraus. Die Grünen waren mir zu ideologisch, die SPD war und blieb die Partei der fest im Leben stehenden kleinen Leute. 1994 legte ich mir darum endlich ein Parteibuch zu und hoffte, die Partei werde endlich wieder an die Regierung kommen. 1990 hatte ich begeistert Oskar Lafontaine gelauscht, der gesagt hatte, dass die Wiedervereinigung nicht zum Nulltarif zu haben sei. Helmut Kohl hatte ihn wie einen Vaterlandsverräter behandelt, und trotzdem hatte er recht behalten. Mit Kohl sollte es keine Steuererhöhungen geben, aber es gab sie doch. Lügen und Machtgehabe machte ich bei der Kohlpartei aus, die SPD war ehrlicher und verlor die Wahl im Siegestaumel der deutschlandbegeisterten Massen.

Politik wurde immer mehr von Einzelpersonen geprägt, immer weniger von Standpunkten. In der Reihe der Engholms, Scharpings und aufkommenden Schröders war mir Oskar Lafontaine noch der sympathischste. Natürlich habe auch ich die Anschuldigungen über seine Verbindungen zum Rotlichtmilieu gehört und ernst genommen. Nur wenn ich auf die politischen Aussagen sah und auf die Ehrlichkeit, mit der sie von ihm vertreten wurden, dann hatte ich bei Lafontaine ein besseres Gefühl als bei den Andern. Je näher der Wahltermin 1998 kam, desto mehr grummelte mir der Magen. Schröder, der in Niedersachsen so furios gewählt worden war, sollte Kanzlerkandidat werden. Für mich verkörperte er eine Managergeneration, die Politik als Hilfestellung für die Wirtschaft begreift. Von Anfang an war für ihn klar, dass Reformen in der Hauptsache dazu dienen sollten, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Und in den Zielen, die er am Wahlabend verkündete – Nachhaltigkeit, Beschäftigung und verlässliche Außenpolitik – fehlte die soziale Gerechtigkeit ganz.

Trotzdem habe ich am 27. September 1998 die SPD gewählt, wie immer, seit ich 1987 wahlberechtigt geworden war. Wenige Tage zuvor war Oskar Lafontaine in Marburg gewesen, und er hatte recht ausgiebig von sozialer Gerechtigkeit gesprochen, und auch von einer Wirtschaftspolitik, die sich mit Realitäten befasste. Wo sollte der Schwung für die Wirtschaft herkommen, wenn nicht aus der Binnennachfrage. Je voller die Auftragsbücher der Wirtschaft, desto mehr besteht die Möglichkeit, dass das Preisniveau stabil bleibt. Im großen und ganzen vertrat Lafontaine eine antizyklische Wirtschaftspolitik, und dem konnte ich mich anschließen.

Als Lafontaine im Frühjahr 1999 aber plötzlich von der Bildfläche verschwand, da wurde mehr und mehr klar, welchen Kurs die Schröder-SPD fuhr. Der Genosse der Bosse, wie man Schröder zurecht nannte, setzte auf Steuererleichterungen für die Wirtschaft und den Abbau des Sozialstaates. Das hätten wir auch mit einer CDU-Regierung haben können, dachte ich mir, und war sehr enttäuscht von der Regierung.

Was mich dennoch bei der Stange hielt, war in der Hauptsache die Behindertenpolitik. Mit Rotgrün hatte es dort tatsächlich das gegeben, was man immer so hochtrabend einen „Paradigmenwechsel“ nennt. Behinderte Menschen wurden an den für sie vorgesehenen Gesetzesvorhaben ebenso beteiligt, wie andere Interessengruppen. Man konnte und durfte Vorschläge machen, was früher nicht üblich in diesem Bereich gewesen war. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Haack, setzte sich vehement für eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Gesellschaftsleben ein. Das habe ich honoriert, zumal ich in den Jahren 1998 bis 2002 sehr intensiv in der Lobbyarbeit für Behinderte tätig war und viele der auf Bundesebene handelnden Personen auch selbst kennengelernt habe. Das und die Tatsache, dass es manchmal eben ein Tief gibt, durch das man durch muss, ohne gleich beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten oder persönlicher betroffenheit bei Kürzungsmaßnahmen die Segel zu streichen, haben mich dazu bewogen, die Koalition auch 2002 noch einmal zu unterstützen. Ich bin fest davon überzeugt, dass Jede und jeder in Deutschland zur Überwindung der Krise Federn lassen muss. Jede und Jeder muss ihren oder seinen Beitrag zur Verbesserung unserer Situation leisten. Aber wenn die Beiträge einseitig verteilt werden, während die andere Seite laufend Steuergeschenke erhält, so halte ich das für einer sozialdemokratischen Partei unwürdig. Die Führungsriege um Schröder hatte damit nun überhaupt keine Schwierigkeiten.

Den Rest gab mir die Hartz-4-Deform. Die effektive Aufhebung der Bürgerrechte Arbeitsloser, das Lohndumping der 1-Euro-Jobs und die Zumutung der Zumutbarkeiten machten mir endgültig klar, dass für mich in dieser sozialdemokratischen Partei kein Platz mehr ist. Nach 10 Jahren formeller und über 20 Jahren ideeller Mitgliedschaft verließ ich die Partei meiner Ahnen.

Aber was nun?

Ich habe an den Marburger Montagsdemonstrationen teil genommen und sie zum Teil moderiert. So klein die Veranstaltungen auch waren, so sehr machten sie mir Mut, mich auch weiterhin politisch zu engagieren. Zwangsläufig befasste ich mich auch mit der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Sie war auch gegen Hartz und formierte sich zur Bundespartei. Entstanden ist die Bewegung aus Linksabweichlern der SPD. Das hat mich erst einmal zögern lassen. Obwohl ich mit Schröder nicht einer Meinung war und bin, hege ich ein sehr starkes Misstrauen gegen kommunistische oder altsozialistische Bestrebungen nach DDR-Zuschnitt. In Marburg gibt es Gruppen, die mir in meiner Arbeit beim lokalen Radio begegnen, die ich nicht einmal mit der Feuerzange anfassen würde. Sozialistische Gruppen, die behaupten, den „einfachen Mann“ zu vertreten, und schon in ihrer Sprache für diesen Vertretenen absolut unverständlich sind, die kommen auch mit einer Gutsherrenmentalität daher, die der mündige Bürger nicht braucht. Wie weit links stand also die WASG?

Als ich mir die wirtschaftlichen Ziele durchgelesen habe, konnte ich mich darin endlich wiederfinden. Ankurbeln der Binnennachfrage, Stärkung der Kaufkraft, höhere Steuern für die Besserverdienenden und damit Sanierung der Sozialsysteme. „Eigentum verpflichtet“ heißt es in unserem Grundgesetz, und das finde ich auch. Natürlich wird sich längst nicht alles, was in den Programmen der WASG steht, im politischen Alltag umsetzen lassen. Natürlich wird man immer und immer wieder Kompromisse machen müssen. Und selbstverständlich gibt es auch dann kein Paradies, wenn die WASG in der Regierung vertreten sein würde. Mir geht es um die Grundeinstellung, die Zielsetzung der Bewegung, also um ein Leitmotiv und Programm, in dem ich mich persönlich wiederfinden kann. Und das ist mit der WASG endlich wieder in Sicht.

In den letzten Tagen verfolge ich aufmerksam die Diskussion in politischen Foren wie dem Deutschen Wahlblog. Diese Diskussionen sind für mich bereichernd und erfrischend. Mit den Blogs kann man vielleicht dazu beitragen, möglichst viele Menschen wieder zu sensibilisieren für Politik und politische Prozesse. In diesem Wahlblog wird auch über die Chancen der WASG debattiert, mit der PDS zusammen in den Bundestag einzuziehen. Ich kann verstehen, dass sich viele WASG-Funktionäre und -Mitglieder gegen eine Fusion mit der PDS aussprechen. Das würde ich auch tun. Aber weil das deutsche Wahlgesetz keine Listenverbindungen zulässt, muss man einen Weg finden, jetzt ins Parlament einzuziehen, und bei gleicher Interessenlage könnte ein solches Zusammengehen, wie es jetzt vorgeschlagen wird, beiden Partnern nützen. Doch schon wieder beherrschen kleine Zwistigkeiten der Linken die Szene. Das ist enttäuschend. Denn wir brauchen eine Partei für soziale Gerechtigkeit nicht erst in 10 Jahren im Parlament, sondern jetzt! Und deswegen wäre ich für ein solches Linksbündnis. So oft die Medien die Notwendigkeit von Reformen für die Industrie und die Großverdiener auch herunterbeten, diese Notwendigkeit wird dadurch nicht wahrer. Wir brauchen eine Partei, die wieder darauf hinweist, dass es in der Bundesrepublik eine soziale Marktwirtschaft gibt und keinen Ellenbogenkapitalismus. Da die SPD diese Aufgabe nach Schröder wohl kaum noch übernehmen kann, ist dafür nur die Wahlalternative geeignet. Ich hoffe, sie wird, ob mit oder ohne PDS – bald im Parlament vertreten sein.

Copyright © 2005, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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6 Antworten zu Das Ende eines langen Weges

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  2. Christiane sagt:

    Ich finde die WASG auch interessant. Aber zur Behindertenpolitik, zu Bürgerrechten behinderter Menschen, zur Assistenzsicherung etc. finde ich nichts auf der Internetseite der WASG…

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  4. Das stimmt. Noch habe ich es der Tatsache zugeschrieben, dass sie noch so jung ist und sich positionieren muss. Aber wenn ein Wahlprogramm kommt, muss ja was drin stehen! Warten wir ab!

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