Ein Märchen – Der Blinde und die Krankenkasse

Endlich weiß ich, warum ich so korpulent bin. Ich bin blind, das ist der Grund!

Diesen Schluss legt jedenfalls die Geschichte nahe, die ich gestern von einem Freund gehört habe.

Irgendwo dort, wo das Gebirge am höchsten ist, wo die Luft am Dünnsten ist, und wo folglich auch wenig Sauerstoff die Kreise eines normalen Gehirns stört, also in Bayern, saß eine Krankenkasse und arbeitete vor sich hin. Die arme Krankenkasse hatte ein gewaltiges Problem, denn sie musste sparen. Zwar hatte sie, weil sie fast kein Geld mehr an diese Kranken ausgab, aber viel Geld einnahm, weil ihr Frau Gesundheitsreform zu Hilfe gekommen war, eine Menge Geld in der Tasche gehabt, doch das hatte sie an ihre armen Topmanager verschenkt, die sich damit ihr Gehalt um 20 Prozent erhöht hatten. Jetzt war also wieder Sparen angesagt. Tag für Tag kamen die Kranken und bettelten um ihre finanzielle Zuwendung, und die Krankenkasse war schon ziemlich angeödet. Da kam ein Blinder des Wegs, ein Mann mit einem weißen Stock.
„Guten Tag, liebe Krankenkasse“, sagte der Mann nicht unfreundlich, „ich hätte gern einen Blindenführhund. Aber der muss ausgebildet werden, und das kostet natürlich Geld. Würdest du mir den wohl bezahlen? Mit einem Blindenführhund kann ich viel Schneller von einem Ort zum Andern kommen, fühle mich im Straßenverkehr sicherer und kann viel besser gehen, ohne mich in meiner Haltung wegen des Stockes so zu verkrampfen.“

Der armen Krankenkasse im Luftarmen Bayern schwante Böses. Musste sie nun etwa ihr kostbares Geld herausgeben? Sie überlegte, dass sie sich schmuckvolle Gebäude, neue Computerterminals, hübschere Angestellte und noch mehr Manager kaufen könnte, wenn sie die beträchtliche Summe bei sich behielt, die dieser Blinde von ihr haben wollte. Und wenn sie es recht bedachte, standen ihre Chancen vielleicht doch nicht so schlecht! Gerade war das bundesweite Antidiskriminierungsgesetz in einem kräftigen Wahlkampf zerplatzt, in Niedersachsen hatte man vollständig dieses Blindengeld gestrichen, und in Thüringen war man auch fast so weit. Was in diesen preussischen Provinzen ging, sollte doch auch im herrlichen Bayern möglich sein, sagte sich die Krankenkasse, und dachte ein wenig nach.

Schon nach kurzer Zeit kam ihr ein genialer Einfall. Ihre Beamten wurden in Bewegung gesetzt, um eine Ablehnung zu begründen.
„Tut mir leid“, sagte die Krankenkasse zum Blinden und zuckte mit den Schultern, schenkte ihm ein bedauerndes Lächeln und schüttelte den Kopf. Immerhin blickte sie ihn freundlich an und empfand es als eine gewisse Unverschämtheit, dass er darauf praktisch gar nicht reagierte. Etwas kühler fuhr sie fort: „Wir können Ihrem Antrag nicht stattgeben.“
„Aber warum denn nicht?“ fragte der Blinde zurück.
„Nun“, sagte die Krankenkasse, „Blindenführhunde sind ja dazu da, bei längeren Strecken zu helfen, eben wenn man oft aus dem Haus geht, viel unterwegs ist und so weiter. Für Haus und Umgebung allein wird ein Blindenführhund ja nicht notwendig sein. Aber Sie sind ja schließlich blind, nicht wahr? Also bewegen Sie sich ja fast nicht aus dem Haus. Sie sind die ganze Zeit über zu Hause, und da brauchen Sie keinen Führhund. Sie müssen verstehen, dass es herausgeworfenes Geld wäre, Ihnen den Hund zu bewilligen. Einem Blinden einen Blindenhund zu bewilligen wäre wirklich vollkommen unwirtschaftlich, denn Blinde verlassen ja nur ganz selten ihre vier Wände. Ich zumindest habe bislang noch wenige Blinde in der Innenstadt betteln sehen.“
„aber“, stotterte der Blinde, „ich habe eine Arbeit, bin viel unterwegs und mobil!“
Die Krankenkasse fuhr ihm ins Wort: „Sie sind Blind! Das ist mit Mobilität, Arbeitsplatz und langen Gehstrecken unvereinbar! – Basta!“

An diesem Abend hatte die Krankenkasse das Gefühl, etwas großartiges vollbracht zu haben. Sie hatte ihr Geld gesichert, für die Kranken natürlich. Tat sie nicht alles, was sie tat, für die Kranken? Für die, die es wirklich nötig hatten? Sozialschmarotzer und sogenannte Behinderte durchfüttern und ihnen noch Spielgefährten zu finanzieren, das war nun wirklich nicht ihre Aufgabe.

Dumm war nur, dass am nächsten Tag die Nachrichtenagentur bei ihr anklopfte…

Könnte was dran sein. Ich gehe auch nie aus dem Haus und sitze viel öfter am Computer. Alles nur, weil ich blind bin!

Copyright © 2005, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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