Gedanken zur Biomedizin

Perfekte Gesellschaft

über die politischen und gesellschaftlichen Folgen der Biomedizin

Im Wahlblog geht es derzeit unter Anderem um Bioethik. Bundeskanzler Schröder hat angekündigt, dass er für die Forschung an adulten Stammzellen sei. Das ist allerdings nicht neu.

Schon im Jahre 2001 debattierte der Bundestag über ein biomedizinisches Thema, die Zulassung der Präimplantationsdiagnose. Auch damals vertrat der Bundeskanzler eine wirtschaftspolitische Meinung. Aber damals wie heute im Blog wurden die, die gegen die Freigabe unbegrenzter Forschung am Menschen waren, verhöhnt und als Wirtschaftsfeinde beschimpft. Damals wie heute argumentierten die Befürworter, dass man sich nicht durch überkommene ethische Fragen an einer guten Entscheidung für den Standort Deutschland hindern lassen dürfe.

Meinen Kommentar, den ich am 1. Juni 2001 verfasste, verstand ich al Plädoyer für Menschenwürde undethische Reife. Weil das Thema nichts an Aktualität verloren hat, möchte ich den Text von damals in die heutige Debatte werfen:

„Forschung und Fortschritt, so glauben viele, ist die Kunst, Tabus zu brechen, über bislang unüberschreitbare Grenzen zu gehen. Im technisch-wissenschaftlichen
Bereich ist das einleuchtend: Ohne Entwicklung von Neuheiten und ohne den Mut, Grenzen der bisherigen Theorien zu überschreiten, kann kaum etwas Neues
entstehen und erforscht werden. In ethischer Hinsicht allerdings stellen sich dem Menschen gerade in der heutigen Zeit ganz andere Fragen. Hier lautet
die Kernfrage, ob alles was möglich ist, auch gemacht werden sollte, wie es bereits Altbundespräsident Heinemann bezogen auf die Umweltzerstörung einmal
formulierte.

In der Frage der Biomedizin erreichen die Diskutanten aus allen politischen Lagern einen Punkt, wo die Fraktionsgrenzen verschwinden, und wo, abgesehen
von den Grünen und der F. D. P., erstaunlich wenig festgelegt ist. Erfrischend ist die Debatte des Bundestages ohne Fraktionszwang. Bezeichnend für deutsche
Vereinheitlichungskultur allerdings ist dann – nebenbei bemerkt – auch wieder die Tatsache, daß viele eine Vielfalt der Meinungen nicht aushalten können
und sie als heftige auseinandersetzung charakterisieren. Aber es ist schon so, daß die Biomedizin ein ernsthaftes Thema ist, das nicht schnell durch die
parlamentarische Diskussion gepaukt werden sollte. Bei der Wirtschaft und im Ausland wirft man uns vor, zu zögerlich zu sein, und offenbar hat sich der
Bundeskanzler diesen Bedenken angeschlossen. Aber es erschiene gebotener, zuerst die Zauberformeln zu lernen, bevor man die Geister ruft, die man dann
nicht wieder los wird.

Ich will mich hier nicht mit den technischen und rechtlichen Einzelheiten des Bioethikproblems auseinandersetzen, sondern mich auf einen Aspekt beschränken,
der mir in der ganzen Debatte bislang zu wenig erwähnt worden ist, die gesellschaftlichen Folgen einer Freigabe der Präimplantationsdiagnostik, der Forschung
an Embryonen und später einmal des klonens oder anderer sogenannter humanitärer Genmaßnahmen. Diese Folgen lassen sich bereits am heutigen Ist-Zustand
hervorragend ablesen. Wenn ein Elternpaar heute ein behindertes Kind zur Welt bringt, so muß es sich häufig genug von Freunden und anderen Mitmenschen
sagen lassen, wie unverantwortlich es doch sei, einem solchen Kind das Leben aufzuzwingen. Die Ursachen hierfür liegen in unserem allgemeinen Umgang mit
„Regelwidrigkeiten“ und Normverletzungen begründet. Als eine „Regelwidrigkeit“ wurde Behinderung vom Gesetzgeber verstanden, bis hinein in das letzte Jahr.
Alles, was aus dem Rahmen fällt, wird nur selten toleriert, oft bekämpft. Die gröbsten Normverletzungen, die wir uns denken können sind Krankheit und Tod.
Wenn heute schon ein Kind wegen einer zu erwartenden Hasenscharte aus seelischen Gründen abgetrieben werden kann, wie ein Bundestagsabgeordneter berichtete,
dann grenzen wir das erlaubte Aussehen des Menschen auf das Schöne, Junge und Dynamische ein. Aus dem Geist heraus, der es gestattet, die Kommunikation
oder die Lebensfreude behinderter Menschen als Zumutung für die Gesellschaft zu empfinden, erwächst auch der Geist, der es ermöglicht, Menschen mit Behinderung
wegen seelischer Zumutung für die Eltern noch bis in den fünften Monat hinein abzutreiben. Und wenn sich die Eltern entschließen, das Kind zu bekommen,
müssen sie mit gesellschaftlicher Ausgrenzung rechnen.

In dieses Klima hinein soll nun die neue Methode der Präimplantationsdiagnostik geworfen werden. Ei- und Samenzelle werden invitro zusammengeführt und nach
der Befruchtung wird untersucht, ob es beim Embryo genetische Schäden gibt. Ist das der Fall, kann auf das Einpflanzen in den Mutterleib verzichtet werden,
und ein behindertes Kind wird nie geboren. Nebenbei fallen dann noch Forschungsembryonen für die Wissenschaft ab, wir werden führend in der Biomedizin,
der Wirtschaftsstandort Deutschland, des Kanzlers liebstes Kind, gedeiht, und alle sind glücklich. Vor allem hat man ja ein gutes Werk getan, man hat das
Leid der Behinderung verhindert. Allerdings hat man damit noch etwas anderes getan, nämlich den Menschen ein Stück mehr an die Umwelt angepaßt. In einer
Gesellschaft, die alte Menschen abschiebt, anstatt sie in Respekt und Ehrerbietung zu pflegen, einer Gesellschaft, die vor Krankheit und Tod so entsetzlich
viel Angst hat, daß in jeder Fernsehsendung nur die Gesunden und Hübschen zu sehen sind, in dieser Gesellschaft muß das Abschaffen von Behinderung geradezu
eine Aufgabe sein.

Nun wird behauptet, daß dies im Grunde ja nur die Embryonen betreffe. Es würden weniger behinderte Kinder geboren, wer kann da etwas gegen haben? Ich! und
viele andere Menschen auch, die nicht nur fühlen, daß hier die Wissenschaftler Gott spielen wollen, daß ihre Forschung im Endeffekt nur dazu dient, den
Menschen perfekt zu machen, aussuchbar nach Katalog, einklagbar, falls er nicht so wird, wie man ihn sich gewünscht hat, wie es schon jetzt bei der Pränataldiagnose
möglich ist, wenn ein Kind trotz anderslautender Untersuchungsergebnisse behindert ist. Die Menschen, die mit mir gegen die neuen Methoden sind, die spüren
auch ganz genau, daß es nicht nur um die künftige Verhinderung von genetischen Krankheiten geht, sondern auch um die Lebenden. Wenn wir künftig weniger
Behinderte haben, dann brauchen wir die sozialen Sicherungssysteme nicht mehr, die wir jetzt noch für sie vorhalten, also schaffen wir sie ab. Ein erster
Schritt hierzu ist gerade zu beobachten, da im Land Bremen das einkommensunabhängige Blindengeld abgeschafft werden soll. Wenn wir künftig weniger Behinderte
haben, was machen wir dann mit denen, die es jetzt noch gibt, bis es so weit ist, daß unsere schöne neue Welt wirklichkeit wird? Sie passen schließlich
nicht ins Bild der Schönen, Starken, Jungen und Dynamischen. Sie verkörpern auf unübersehbare Weise, daß es keine Elitegesellschaft gibt, daß der Mensch
nicht immer gleich ist, daß er geboren wird, lebt, altert und stirbt, und daß er krank wird. Aber Kranke, Behinderte und Alte, so scheint es der mit wenig
Skrupeln behaftete Bundeskanzler zu sehen, stören die Dynamik des Wirtschaftsstandortes Deutschland, man muß sie sehen, wenn sie nicht versteckt werden
können, man muß zur Kenntnis nehmen, daß man selbst vielleicht auch einmal in eine Lage kommen könnte, über die man lieber erst gar nicht nachdenkt. Und,
was das schlimmste ist, man muß Geld für sie ausgeben.

Diese gesellschaftliche Einstellung, die schon jetzt voll entwickelt ist und Solidarität mit den Schwächeren oder denen, die Nachteilsausgleiche brauchen
geradezu wie ein wirtschaftspolitisches Verbrechen behandelt, ist der Grund dafür, daß ich Angst vor der Präimplantationsdiagnostik habe. Sie wird die
künftigen Eltern dazu zwingen, Kinder nicht zu bekommen, weil sie einen Schaden haben würden, egal, wie gering der Schaden ist, eine Hasenscharte, die
man normalerweise auch operieren kann, reicht schon. Der gesellschaftliche Druck, ja nur photogene, schöne Menschen zuzulassen, wird noch größer werden,
sobald es eine Möglichkeit gibt, die Menschen, die der gewünschten Norm nicht entsprechen, zu selektieren. Warum sollte eine Gesellschaft noch Solidarität
mit „regelwidrigen“ zeigen, wenn ihr Repräsentant fast öffentlich die reinen Wirtschaftsinteressen über die Menschenwürde stellt. Daß hierbei noch nicht
Millionen aufgestanden sind, um diese Entwicklung zu verhindern, zeigt nur deutlich, daß auch die Mehrheit der Bevölkerung nichts dagegen hat, wenn man
Behinderung schon im Ansatz verhindert, damit man sich mit dem Thema nicht mehr auseinandersetzen muß. Vielleicht gelingt es uns ja eines Tages auch, eine
Altersbegrenzung in den genetischen Code einzubauen, der Menschen nach vollendung ihres Arbeitslebens einfach schmerzlos abtötet. Für Versicherungen, Banken
und Rentenkassen wäre das so genial, Herr Bundeskanzler, daß Sie das ernsthaft erwägen sollten, denken Sie nur an die Vorteile für den Wirtschaftsstandort
Deutschland!

Die einzige Institution, die verhindern kann, daß es in Deutschland jemals so weit kommt, ist das Parlament. Darum möchte ich an die Abgeordneten des Bundestages
appellieren: Wehret den Anfängen! Verhindert die Selektion unwerten Lebens. Auch wenn die Möglichkeiten heute noch nicht bestehen: Wenn man einmal Menschen
klonen kann, dann werden wieder andere Länder schneller sein als Deutschland, und der Bundeskanzler wird wieder den Standort Deutschland in Gefahr sehen.
Ob er dann auch zustimmen wird, in Deutschland Menschen nach Katalog herzustellen? Jetzt ist, da stimme ich dem Bundespräsidenten zu, die Zeit, den Rubicon
nicht zu überschreiten.“

Copyright © 2001 – 2005, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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