Ich schäme mich und bin entsetzt

Wie ein Blindenverband sich selbst diskriminiert

Wie das Leben so spielt: Man protestiert gegen eine ungerechte, absolut falsche Entscheidung, und plötzlich steht man als begossener Pudel da. So ging es mir mit dem Protest der Blindenverbände gegen die Abschaffung des Landesblindengeldes in Niedersachsen.

Dabei fing das Ganze mit einer Selbstverständlichkeit an. Als ich hörte, die niedersächsische Landesregierung wolle das einkommensunabhängige Landesblindengeld abschaffen, engagierte ich mich wie viele Andere auch, um den Nachteilsausgleich zu erhalten. Als Blinder hat man einfach Mehraufwendungen, die durch die Behinderung kommen, und gegen die man nichts machen kann. Das fängt schon bei den kleinen Hilfsmitteln an. Kauft sich ein Sehender mal eben eine Uhr für 20 Euro, dann zahlen wir 80. Für ein Buch, das im Laden 15 Euro kostet, zahlen wir als Hörbuch gut und gerne 75 Euro und so weiter. Klar ist auch, dass wir hin und wieder Assistenz benötigen, die natürlich bezahlt werden will. Und wenn ich mich irgendwo nicht auskenne, nehme ich auch schon mal ein Taxi, obwohl ich auch Leute kenne, die das nicht tun, weil es ihnen spaß macht, die Wege zu erkunden. Einverstanden, soll jeder halten, wie er oder sie will. Blindengeld ist also kein Almosen, sondern ein finanzieller Beitrag, um die durch die Behinderung entstandenen Nachteile auszugleichen. Nur dafür darf und sollte es ausgegeben werden. Dadurch, dass das einkommensunabhängige Blindengeld abgeschafft wird, werden blinde Menschen mit einem Einkommen schlechter gestellt als Sehende Personen mit einem vergleichbaren Einkommen. Außerdem dürfen blinde Menschen mit niedrigen Einkommen nichts mehr ansparen, weil sie dann den Anspruch auf die einkommensabhängige Blindenhilfe verlieren, die übrigens auch auf dem Prüfstand des Bundesgesetzgebers steht.

Keine Frage, wenn eine so einschneidende Maßnahme ins Haus steht, engagiert man sich. Am 11. September 2004 fand in Hannover eine Demonstration von mehr als 10.000 Menschen statt, die ein eindrucksvolles Zeichen setzte, dass viele sich diese Maßnahme nicht einfach gefallen lassen würden. Kritiker des Blindengeldes werfen uns immer vor, wir hätten einen Vorteil gegenüber anderen Behindertengruppen, die würden nämlich keine Pauschalzahlungen bekommen. Das ist richtig, aber daraus könnte man ja auch die Forderung nach allgemeinem Nachteilsausgleich für behinderte Menschen herleiten. Für mich war es eine Selbstverständlichkeit, genau das zu tun.

Trotz des Kampfes hat sich Ursula von der Leyen, eine der beliebtesten Politikerinnen Deutschlands und CDU-Sozialministerin in Niedersachsen, nicht beirren lassen und zum 1. Januar 2005 das Blindengeld abgeschafft. Der Blinden- und Sehbehindertenverband Niedersachsen (BVN) reagierte darauf folgerichtig und strengt nun ein Volksbegehren für die Wiedereinführung des Landesblindengeldes an. Auch hierfür würde ich mich, wäre ich Niedersachse, wirklich engagieren.

Aber heute habe ich zwei Artikel im Blog von Christiane Link gesehen, die mich wirklich wütend gemacht haben. Die Blindenverbände spielen die Mitleidskarte aus, vertrösten die Politiker auf das baldige Aussterben der Klientel und erbetteln die Beibehaltung der Bezüge. Da sich ein Verband wie der BVN zu einem Volksbegehren entschlossen hat, hatte ich naiverweise angenommen, Modernisierung und Beweglichkeit hätten dort Einzug gehalten. Umso entsetzter war ich, als ich mir heute dann die Internetseiten zum Volksbegehren durchlas.

Dreist im schlimmsten Sinne finde ich, dass der BVN es so darstellt, als würden alle anderen Behindertengruppen Pauschalbezüge bekommen. Die Rollstuhlfahrer aus der Pflegeversicherung, und die Geistig behinderten Menschen bekämen ihren Heimplatz einkommensunabhängig finanziert. Neben der Tatsache, dass längst nicht alle Menschen mit Lernschwächen in Heimen leben, werden hier schlichtweg Unwahrheiten verbreitet zu Lasten der Nichtblinden unter den Menschen mit Behinderung. Viele Menschen, die auf einen Rollstuhl als Fortbewegungsmittel angewiesen sind, erhalten keine oder nur sehr geringe Mittel aus der Pflegekasse. Dass Menschen mit einer Gehbehinderung automatisch Anspruch auf Pflegeleistungen hätten, ist nämlich ein Märchen. Außerdem ist die Pflegeleistung zwar eine Leistung, die bei Alltagsverrichtungen helfen soll, sie befasst sich aber eigentlich nicht mit Teilhabe an der Gesellschaft, dafür ist sie nicht da. Blindengeld aber dient eben nicht dem pflegerischen Bereich, der Körperpflege, Haushaltsführung und Mobilität, oder nur begrenzt, sondern der Teilhabe am Gesellschaftsleben, an Veranstaltungen, der Assistenz bei notwendigen, selbstbestimmten Tätigkeiten.

Wer blind ist, braucht kein Mitleid. Wer eine Behinderung hat, braucht Barrierefreiheit und Akzeptanz in der Gesellschaft. Diese Akzeptanz wird nicht durch mitleidheischende PR-Tricks erreicht, wie sie in den Artikeln von Christiane Link kritisiert und für das Volksbegehren vom BVN durchgeführt werden. Wenn von Blindheit als einem schweren Schicksal gesprochen wird, fühle ich mich diskriminiert. Ich habe einige Probleme aufgrund meiner Behinderung, die es einfach zu lösen gilt, und für die ich einen Nachteilsausgleich brauche. Aber ein schweres, lebenserschütterndes Schicksal ist es nun nicht, das dafür sorgt, dass ich aus dem Weinen nicht mehr herauskomme. Wenn der Blindenverband den Politikern rät, einmal mit verbundenen Augen durch ihren Tag zu gehen, sich anzuziehen, zu frühstücken, Lebensmittel einzukaufen und zur Arbeit zu gehen, mag das sehr plastisch sein. Aber was in den Nachsätzen folgte, war dann überhaupt nicht mehr witzig: Der Politiker würde eine schräge Kleidungskombination tragen, auf der das halbe Frühstück klebe, zu spät und mit einer Beule zur Arbeit kommen, weil er gegen ein Schild gelaufen sei, das in Kopfhöhe gehangen habe, und sich mittags statt der Dose Eintopf eine Dose Hundefutter öffnen. Da blieb mir die Spucke weg. Was bildet sich dieser Verband eigentlich ein? Was glaubt er eigentlich, wie seine Klientel lebt? glaubt er, das Blindengeld sei dazu da, dass ein Sehender einem Blinden jeden Morgen die frische Kleidung rauslegt, die zusammenpasst? Dass ein Sehender einen Blinden füttert, damit er nichts auf sein weißes Hemd verschüttet? Glaubt der Verband, das Blindengeld sei dazu gedacht, dass eine Assistenz jeden Blinden jeden Tag zur Arbeit bringe, damit er nicht vor ein Schild rennt oder die Bushaltestelle findet? Und das mit dem Hundefutter kommentiere ich erst gar nicht! Das ist es aber, was bei dieser Art von PR rüberkommt!

Nein: Das Blindengeld ist dazu da, eine Assistenz zu zahlen, die einem bei der Markierung der Kleidungsstücke hilft, oder ein Farberkennungsgerät zu kaufen. Das Blindengeld ist dazu da, eine blindengerechte Küche einzurichten, damit man sich sein Frühstück und Mittagessen selbst herrichten kann. Und schließlich muss das Mobilitätstraining bezahlt werden, damit man die Wege seiner Umgebung lernt, wenn man es sich nicht auf eigene Faust traut. Mobilitätstraining wird nämlich nur von außen finanziert, wenn damit der Weg zum Arbeitsplatz gemeistert werden soll. Alles andere muss man selbst zahlen. Das ist es, was rüberkommen sollte!

Morgen, am 22. Juni, wird eine Aktion unter dem Titel „Blinde Schicksale“ durchgeführt, bei der symbolisch die Schicksale von 5 Menschen in einem Trauerzug zum Sozialministerium getragen werden. Dass dabei kein Blinder mit dem Bettelstab herumläuft, ist wirklich alles. Besonders erschüttert hat mich, dass diese Veranstaltung von einem eigentlich sehr fortschrittlichen und redegewandten Verbandsvertreter geleitet wird. Es ist Uwe Boysen, blind, Richter an einem hohen Gericht in Bremen, und Vorsitzender des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. (DVBS). Dass er der Meinung ist, dass Mitleid helfen könnte, das Blindengeld zurückzuerlangen, ist mir mindestens unverständlich.

Ich schäme mich, wenn ich höre, was Blindenverbände tun, um ihre Pfründe zu sichern. Ich selbst bin davon betroffen. Wenn ich zukünftig Assistenz brauche, wird man mich nicht als gleichberechtigten, selbstbewussten Menschen ansehen, sondern als einen Mitleidsfall, der Hilfe braucht. Gerade aber die Akzeptanz als gleichberechtigte Glieder der Gesellschaft ist es aber, die für uns so wichtig ist. Zumindest für mich. Fürsorgeobjekt war ich lange genug, und viele Kontakte mit Nichtbehinderten, Kontakte auf gleicher Augenhöhe, hat mir das nicht gebracht. Die Broschüren und Äußerungen der Blindenverbände werden nicht dazu führen, dass sich das ändert.

Ich schäme mich dafür, dass wir Geld dafür zahlen, dass unsere Vertreter uns auf diese negative, diskriminierende Weise vertreten. Und ich weiß, warum ich immer schon was gegen Verbände hatte.

Copyright © 2005, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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9 Antworten zu Ich schäme mich und bin entsetzt

  1. Ich bin, nachdem ich das alles gelesen habe, deiner Meinung!

  2. Christiane sagt:

    Sie werden so das Blindengeld nicht retten. Sobald sie vor einem Entscheider stehen, der kein Mitleid hat, sind die Argumente Essig.

  3. Pingback: Notizblog.de

  4. Ute sagt:

    Tja… Das Dumme ist eben, daß auch Blinde in leitenden Positionen ihrer eigenen Interessensgemeinschaften oft noch nicht ihre eigene Blindheit verarbeitet haben und sich selbst – oder ihre „Schicksalsgenossen“ unterschwellig selbst noch als bemitleidenswert betrachten. Meines Erachtens resultieren u.a. daraus derart polemische Tiraden und Einstellungen.

    Mein Vater war lange Zeit Vorsitzender der Bezirksgruppe Dortmund des DBV und hat sich seinerzeit den Mund fusselig geredet, damit Blinden nicht mit Mitleid, sondern mit Verständnis entgegengetreten wird. Dummerweise wird das vom nächsten Blinden wieder kaputtgemacht, der sich selbst für bemitleidenswert hält und entsprechend argumentiert.

    Noch dümmererweise kommt auf einen aufgeklärten, mobilitätstrainierten und fitten Blinden meist mindestens ein anderer, der es sich lieber mit sehenden Helfern bequem macht und im Notfall lieber auf die Tränendrüse drückt. Leider sind genau das aber diejenigen, die das Bild des Blinden in der Öffentlichkeit am meisten prägen – weil sie einfach mehr auffallen als der Blinde, der seinen Weg in jeder Hinsicht alleine geht und seinen Alltag selbständig organisiert.

  5. Hallo Ute:

    „Noch dümmererweise kommt auf einen aufgeklärten, mobilitätstrainierten und fitten Blinden meist mindestens ein anderer, der es sich lieber mit sehenden
    Helfern bequem macht und im Notfall lieber auf die Tränendrüse drückt. Leider sind genau das aber diejenigen, die das Bild des Blinden in der Öffentlichkeit
    am meisten prägen – weil sie einfach mehr auffallen als der Blinde, der seinen Weg in jeder Hinsicht alleine geht und seinen Alltag selbständig organisiert.“

    Hier denke ich schon, dass man differenzieren muss. Ich selbst kenne auch Situationen, wo ich eine sehende Hilfe in Anspruch nehme und brauche. Dagegen wehre ich mich nicht per se. Ich habe Probleme beispielsweise, in großen Geschäften allein einkaufen zu gehen oder meine Wohnung gründlich allein zu putzen. Da habe ich nichts gegen sehende Hilfe. Der Punkt ist, dass man diese Hilfe braucht, das auch ganz offen sagt, sich aber nicht hinstellt und dabei sagt: „Was bin ich doch ein armer Fratz.“ Es hilft nicht, so zu tun, als brauche man keine sehende Hilfe. Das würde wiederum diejenigen ins Abseits drängen, die es in bestimmten Situationen einfach nötig haben. Auch hier bin ich wie so oft für Solidarität.

    Ich behaupte: Selbstbewusstsein ist gefragt. Ich stelle mic hin und sage: „Jawohl, ich fahre in einer fremden Stadt mit einem Taxi. – Jawohl ich bezahle eine Haushaltshilfe! – Jawohl, ich lasse mir beim Großeinkauf helfen.“ Na und? Das ist okay, ich bezahle auch afür, es handelt sich um Dienstleistungen, wie bei jedem anderen, der mit dem Taxi fährt und so weiter. Deshalb bin ich aber kein armer Mann!!!

  6. Pingback: Moving Target

  7. Ute sagt:

    Klar, Jens, da bin ich mit Dir einer Meinung. Ich meine auch nicht Haushaltshilfen, Taxifahrten oder Vergleichbares. Ich dachte da eher an Blinde, die nicht mal eine Dorfampel alleine überqueren können und sich auch keine Mühe geben, dies jemals zu lernen. Die sich im Restaurant das Fleisch kleinschneiden und beim Bezahlen das Kleingeld aus dem Portemonnaie klauben lassen, weil sie keine Peilung haben, welche Münze und welcher Schein welchen Wert hat. Wie oft habe ich sowas schon mitbekommen. In den Blindenvereinen sind ja genügend solcher Kandidaten vorhanden. Sowas prägt sich bei Sehenden eben leider ein. „Armes Schwein, kann nicht mal alleine essen und bezahlen!“ Daß da der eine oder andere Blindenverband mal auf die Idee kommt, dieses Klischee für die eigenen Zwecke auszuschlachten, überrascht mich nicht wirklich. Wenn’s auch mittel- bis langfristig für die Blinden eher kontraproduktiv ist…

  8. Das Nest sagt:

    Hallo! Dieser Faden ist zwar im Grunde schon kalter Kaffee, aber ich kam jetzt erst dazu, ihn mal zu lesen. Ich glaube, daß es nicht nur das Problem ist, daß aufgeklärte und mobilitätstrainierte Blinde weniger auffallen als die, die Mitleid erregen. Ich glaube, daß die fitten Blinden bei einigen Teilen der Bevölkerung eher sogar leider manchmal noch negativ auffallen. In Gesprächen finden es die Leute oft faszinierend, was blinde so können und so, aber wenn sie dann auf ihre Weise nach Wegen tasten, die für Sehende manchmal „gefährlich“ aussehen, dann wünschten sie oft doch, die Blinden hätten eine Begleitung, und manchmal denke ich schon, daß sie das denken, „um das nicht sehen zu müssen“. Oder wenn man mit mehreren Sehenden auf einem Fest unterwegs ist und sich tatsächlih trotz Gedränges sein Getränk selbst holen will, dann „hält man den Verkehr auf“, dann macht man es kompliziert und ist empfindlich, wemn man sagt, daß man etwas selbst tun möchte. Andererseits kann man glaub ich auch nicht pauschal sagen, um mich mal auf den allerersten Bericht dieses Fadens zu beziehen, daß Blinde ihre Blindheit grundsätzlich nicht als schweres Schicksal empfinden. Ich habe einige kennengelernt, die spät erblindet sind und gerade am anfang oft sogar an Selbstmord denken. Wir, diejenigen, di damit gut zurechtkommen, sollten sie nicht überrennen, sondern in den Verbänden zum Beispiel mehr darauf drängen, daß das Thema „Späterblindung“ endlich mal zum Thema wird. Das gilt übrigens in den meisten Verbänden leider auch für das Thema Sehbehinderung. Wir sollten mehr Ansprechpartner sein und geduldiger mit denen, die ihre Blindheit wirklich als schweres Schicksal empfinden. Allerdings finde ich auch wie ihr, daß wir auf die Barikaden gehen sollten, wenn Verbände diese HIlflosigkeit ausnutzen, anstatt sich selbstbewußt für das einzusetzen, was blinde wirklich brauchen, und das ist, wie schon geschrieben, Verständnis statt Mitleid. Die Blindenverbände dürfen nicht immer den einfachsten Weg gehen. Das gilt auch jetzt bei der Frage, ob Behinderte ins Antidiskriminierungsgesetz aufgenommen werden für den Preis, daß dafür homosexuelle keine Erwähnung finden. ich weiß nur eines, und das meine ich ernst: Wenn sie sich *darauf* einlassen, dann trete ich aus!

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