From a Distance

Vor ein paar Tagen hörte ich eine Live-Version des Stücks „from a distance“ gesungen von Nancy Griffith. In ihrer Vorrede sagte sie: „Das schöne an diesem Stück ist, dass es so viele Meinungen dazu gibt, dass jeder das Lied anders versteht.“ Auch ich habe eine eigene Meinung dazu.

Weder Bette Middler, die es zu einem Hit machte, noch Nancy Griffith haben dieses Lied geschrieben. Ich weiß gar nicht, von wem es eigentlich ist. Es gibt eine schöne Version von Raul Malo, Nancy Griffith und Donna Summer, in der Donna Summer ein paar Zeilen auf deutsch singt: „Aus der Ferne bist du wie mein Freund, obwohl wir im Kriege sind. Und aus der Ferne kann ich nicht verstehen, warum Kriege nötig sind.“ Dieses „from a distance“ müsste man vielleicht eigentlich korrekt mit „aus der Ferne betrachtet“ übersetzen. „God is watching us – from a distance“ heißt der Refrain. Gott wacht über uns – aus der Ferne.

Ich finde diesen Text, je länger ich ihn kenne, immer beeindruckender. Zumal Nancy Griffith recht hat, er ist auslegbar. „God is watching us“ kann etwas sehr tröstliches haben, vor allem, weil es immer wiederholt wird. Ich finde diesen Text eine gelungene Möglichkeit, Religion und den Glauben an Gottes lenkende Hand mit der Eigenverantwortung des Menschen zu verbinden und zu versöhnen.

„Aus der Ferne betrachtet ist die Welt blau und grün, und die schneebedeckten Berge sind weiß. … Aus der Ferne betrachtet leben wir in Harmonie. … Aus der Ferne betrachtet sind wir alle Instrumente einer gemeinsamen Band. … Aus der Ferne betrachtet haben wir genug von allem, und niemand hat Mangel (z. B. Hunger). Es gibt keine Gewehre und Bomben und keine Krankheiten, und es gibt keine hungrigen Mäuler zu stopfen. … Gott betrachtet uns – aus der Ferne.“

Für mich sagt dieses Lied viel freundlicher, was Karat in ihrem blauen Planeten viel ungeschminkter sagen: „Uns hilft kein Gott, uns’re Welt zu erhalten“. Wir sind selbst dafür verantwortlich. Aus seiner Ferne betrachtet nämlich gibt es bei uns keine Probleme, so wie er es für seine Kinder einst plante. Aus der Ferne betrachtet ist diese Erde das Paradies, das er uns schenkte. Nur wenn man näher heran geht, kann man sehen, was wir Menschen daraus gemacht haben. Gott tut das nicht. Gott betrachtet uns aus der Ferne, und es ist sein gutes Recht. Wir sind es, die das, was wir haben, richtig verteilen müssen, damit es stimmt, dass wir keine Kriege, Hungersnöte und Krankheiten haben auf dieser gesegneten Welt. Gott mag uns betrachten, aber wir dürfen nicht vergessen, dass er es aus der Ferne tut. Wir sind es, die hier leben und unsere Verantwortung zu tragen haben. Diese Verantwortung für uns und unsere Mitmenschen kann uns niemand nehmen. Gott ist’s zufrieden, denn er hat ein großartiges Werk getan.

Ich habe schon einmal geschrieben, dass ich ein Religionsskeptiker bin. Je älter ich wurde, desto vorsichtiger wurde ich im Bezug auf Religion. Religion führt allzu oft dazu, dass man sein Gewissen und seine Verantwortung, vor allem aber sein selbstständiges Denken an der Kirchentür abgibt. Nach meiner Überzeugung fordert „From a distance“ uns auf, gute Verwalter dessen zu sein, was Gott uns geschenkt und hinterlassen hat. Und zwar in eigener Verantwortung, denn Gott ist weit, er betrachtet das große Ganze. Seine Anweisungen sind grob und allgemein gehalten, und wir müssen selbst die „Ausführungsbestimmungen“ erlassen. Diese Verantwortung für die Schöpfung ist unser ureigenstes Gebiet, kein Gott wird es irgendwann einfach richten. Wir sind es, die als Ebenbilder Gottes Verantwortung tragen müssen.

Ich mag ein Religionsskeptiker sein. Wenn Religion aber die Verantwortung übernimmt, uns Menschen die Eigenverantwortung zu lehren, die aus dem Status des Ebenbildes Gottes und aus der Tatsache erwächst, dass die Erde eigentlich genug für alle hat, dann wird sie nach meiner Ansicht ihrem Auftrag gerecht. Die Kirche, die Religion kann eine moralische Instanz der Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe und Verantwortung sein, denn Gott betrachtet uns, seine mit Verstand beseelten Geschöpfe, aus der Ferne.

Copyright © 2005, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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2 Antworten zu From a Distance

  1. Melody sagt:

    „From a distance“ wurde glaube ich von Julie Gold geschrieben, in 1985. Ich wühle hier gerade herum, aber ich finde meine CD nicht wieder …

  2. Manuela sagt:

    Ich mag die Version von Angelika Milster ganz besonders.
    Den deutschen Text schrieb Michael Kunze.
    Der Autor Wolfgang Hampel hat ähnliche Texte und Gedichte geschrieben.

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