Die Nacht, als Olof Palme starb

Es ist die Nacht, in der vor 20 Jahren Olof Palme starb, und ich habe viele Erinnerungen daran.

Im Frühjahr 1986 lebte ich im Internat in Marburg. Nur alle vier Wochen fuhr ich für zwei Tage nach Solingen, von wo ich eigentlich komme. Meistens fuhr ich mit dem Zug. Bis Mittags um halb eins hatten wir Schule, dann fuhr ich per Zug über Gießen und Köln nach Solingen, wo ich so gegen halb sieben ankam. Sonntagsmittags musste ich auf demselben Weg wieder zurück. Anders war es nur, wenn wir nach Heelderpeel fuhren, in unser Ferienhäuschen, was wir damals noch sehr oft taten. Dann standen meine Eltern mittags um halb eins an der Schule, um mich abzuholen, und drei bis dreieinhalb Stunden später waren wir in Holland. Und weil sie mich Sonntagsabends auch wieder zurück brachten, musste ich mir keine Hektik mit den Zugfahrten machen und hatte alles in Allem mehr vom Wochenende.

An diesem 28. Februar 1986 begann ein sogenanntes Heimfahrtwochenende. Und es war das erste mal, dass ich lieber in Marburg geblieben wäre. Eine Mitschülerin, die mir sehr nahe stand, hatte Probleme zu hause und erwartete an diesem Wochenende den Besuch der Schulpsychologin. Ich wäre gern geblieben und hätte sie unterstützt, Normalerweise waren mir die Heimfahrtwochenenden heilig.

Es war also nicht verwunderlich, dass ich nachmittags und abends mit rebellierendem Magen in Holland vor dem Radioempfänger saß und Hitparaden und andere Pop-Sendungen im holländischen Rundfunk hörte. Es war die Zeit, als „Ohne dich“ von der münchener Freiheit und „Jeannie“ von Falco ganz oben in den Charts standen. Von „Ohne dich“ gab es sogar eine niederländische Übersetzung, und ich verbrachte den Großteil des Abends damit, sie auswendig zu lernen.

Weil ich nicht schlafen konnte, hörte ich die letzte Sendung des Tages im holländischen Rundfunk: „Met het Oog op morgen“, ein Nachtmagazin der besten Sorte, das inzwischen dreißig Jahre alt ist. Als um 0 Uhr noch einmal Nachrichten ausgestrahlt wurden, kam es als Top-Meldung: Olof Palme, schwedischer Ministerpräsident und Sozialdemokrat, war von einem offenbar verrückten Mann niedergeschossen worden und soeben verstorben. In der ersten Sekunde schenkte ich der Nachricht keine besondere Bedeutung. Politische Attentate kannten wir gerade in Deutschland seit den Zeiten der RAF durchaus. Aber die nächsten Sätze ließen mich doch aufhorchen: Palme sei niedergeschossen worden, als er mit seiner Frau von einem Kinobesuch zurückkam. Seine Leibwächter hatte er fort geschickt. Ja wo gab es denn so was? Ein Politiker ohne Leibwächter? Interessant.

Am Morgen des 1. März 1986 waren die Nachrichten voll von Berichten über Olof Palme. Willy Brandt trauerte um den langjährigen Freund und Kollegen, die blockfreien Staaten hatten einen ihrer bedeutendsten Führer verloren, und Korrespondenten erinnerten sich an ihre Begegnungen mit dem Mann, dessen Ziel es war, eine freie und offene Gesellschaft zu errichten, in der eben auch Politiker ohne Probleme ohne Leibwächter ins Kino gehen können. Einer seiner Freunde erzählte, dass Palme, als er Ministerpräsident wurde, noch ganz normal im Telefonbuch stand und Gespräche selbst entgegennahm. Und erst langsam begriff ich, dass es noch nie politische Attentate im modernen Schweden gegeben hatte bis dahin. Die Polizei tappte bezüglich des Täters auch vollkommen im Dunkeln, und das hat sich bis heute nicht geändert, abgesehen von tausenden von Theorien. Olof Palme war als Friedenspolitiker geschätzt und geachtet. In Schweden selbst sah man das zwar etwas differenzierter, aber das änderte nichts an seinen hohen Sympathiewerten. Die schwedische Öffentlichkeit war geschockt.

Der skandinavische Rat traf sich an diesem 1. März, und es gab eine bewegende Abschiedsszene für Olof Palme. Korrespondenten der ARD schilderten ihre persönlichen Begegnungen mit ihm. Vor vielen Jahren, so erzählte einer, habe er ihn getroffen, als Palme noch Verkehrsminister gewesen sei und das Rechtsfahren auf schwedischen Straßen eingeführt habe. Bis dahin war man in Schweden, wie in Großbritannien auch, links gefahren. Zwar gab es konservative Kreise, die Palme für diese Umstellung anfeindeten, aber er setzte sie durch und bezeichnete das als Modernisierung. Was aber all diese Korrespondenten immer wieder sagten war, dass sie ihn ohne Eskorte trafen, dass sie mit ihm in ein Café gingen, dass sie mit Olof Palme zwanglos und aufgeschlossen sprachen, und dass sich der Ministerpräsident als ein Mann aus dem Volk gab.

Dabei war Olof Palme hoch intelligent und gerade politischen Gegnern gegenüber auch gewillt, eine gewisse intellektuelle Überlegenheit herauszukehren. Das hat viele Konservative in Schweden zur Weißglut gebracht. Trotzdem war sein Tod ein schwerer Schock für die schwedische Gesellschaft.

Bis heute weiß man nicht, wer den schwedischen Ministerpräsidenten umgebracht hat. Man fasste zwar einen Mann, den man aber aus Mangel an Beweisen wieder freilassen musste, zumal die Gegenüberstellung mit Frau Palme erst nach Hinweisen der Polizei gelang. Indessen gibt es tausende von Verschwörungstheorien. Ein Netzwerk rechtsradikaler Polizeioffiziere könnte ebenso dahinterstecken, wie wahlweise der iranische, israelische, amerikanische, sowjetische oder südafrikanische Geheimdienst. Mit allen hatte sich Palme angelegt. Er unterstützte die PLO, er kritisierte die beiden Großmächte, er wehrte sich massiv gegen die Apartheidspolitik in Südafrika. Dann gab es da noch die Sache mit den Waffenschiebern, bei denen Palme selbst beteiligt gewesen sein soll. Alles verworren, alles dummes zeug. Was wirklich an diesem späten Abend des 28. Februar 1986 geschehen ist, wird man vermutlich nie zur Gänze erfahren.

Den ganzen 1. März beschäftigte ich mich mit dem Mord an Olof Palme. Meine Eltern bekamen mich nur zu den Mahlzeiten zu Gesicht. Ich aß wenig, aber dass ich überhaupt etwas aß, war der Tatsache zu verdanken, dass ich mich mit dem Radio befassen konnte und nicht immer an Marburg denken musste. Ich nehme an, dass meine Eltern sich gefragt haben, was mit mir los war. Erst einige Wochen später, in den Osterferien, habe ich ihnen von diesem Wochenende erzählt, und warum ich mich so zurückgezogen habe.

Deshalb ist mir diese Nacht, in der Olof Palme starb, noch so gut in Erinnerung.

Copyright © 2006, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter erlebte Geschichte, Leben, Politik veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar