Toooor! Tor van der Laan in letzter Minute!

Kaum dreht man sich mal zwei Stunden vom Radio weg, um selbst Radio zu machen, ist in den
Niederlanden das Kabinett gefallen. Spannend ist, was in einem anderen Land als Deutschland
in einem solchen Fall passiert, und warum das überhaupt geschehen konnte!

Noch gesternabend schien es, als könne man das ganze Problem rund um Ayaan Hirsi Ali nun auf
kleiner Flamme kochen. Die beiden großen Regierungsparteien, der Christlich-Demokratische Appell (CDA) und die Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD), betrachteten die
Krise um die Staatsbürgerschaft von Ayaan Hirsi Ali als beigelegt. Rita Verdonk, die eiserne
Lady, hatte getan, was das Parlament von ihr verlangt hatte, nämlich alle Möglichkeiten
positiv geprüft, die es Ayaan Hirsi Ali ermöglichten, einen niederländischen Pass zu
behalten. Bei genauerem Hinsehen wäre die ganze Krise und Geschichte nicht notwendig
gewesen. Ayaan Hirsi Ali hatte zwar bezüglich ihres Namens bei ihrer Einbürgerung gelogen,
sie war aber im Prinzip befugt, den Namen Ayaan Hirsi Ali zu führen, weil Ali der
Geburtsname ihres Großvaters war, der sich später Magan genannt hatte, warum auch immer. Die
ganze Affäre hätte verhindert werden können, wenn Rita Verdonk sich mit ihrer Entscheidung,
die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, mehr Zeit gelassen hätte, wie bei jedem anderen Fall
auch, und die Sache gründlich überprüft hätte. Oder wenn sie überhaupt nicht tätig geworden
wäre, denn schließlich war ja nichts Neues offenbar geworden.

Gesternabend in der Debatte des Parlaments kristallisierte sich heraus, dass die Ministerin
diese damalige schnelle und mit zu wenig Sorgfalt getroffene Entscheidung wohl vor allem
getroffen hatte, um sich im Wahlkampf ihrer eigenen Partei zu profilieren. Dort wurde
nämlich von den Mitgliedern der künftige Spitzenkandidat bei den nächsten Parlamentswahlen
gewählt. Diese Wahl hat Rita Verdonk trotz des harten Auftretens verloren. Jedenfalls
glauben viele, es habe sich um einen innerparteilichen Profilierungsversuch gehandelt.
Nachdem das Parlament heftig eingeschritten war, machte die Ministerin zwar ihre
Hausaufgaben, aber nicht, ohne von Ayaan Hirsi Ali eine Art Entschuldigungsbrief zu
erpressen, in dem sie die Schuld für die Verwicklungen auf sich nahm. Sie behauptete, und
vor allem ihre Freunde ließen wissen, dass dieser Brief nicht ganz freiwillig entstanden
war. Daraufhin fragte das Parlament gestern offiziell nach, der Ministerpräsident bestritt
zunächst, aber in der Nacht gab er zu, dass der Brief sein musste, damit Ministerin Verdonk
nicht das Gesicht verlor. Daraufhin wurde gegen Ministerin Verdonk im Parlament ein
Misstrauensantrag gestellt, der aber abgelehnt wurde. Allerdings wurde er von der Partei Demokraten 66 (D66), die eher im linksliberalen Spektrum
anzusiedeln ist, unterstützt. Und Lousewies van der Laan, die noch amtierende
Fraktionsvorsitzende dieser Partei, erklärte klar und deutlich, dass das Kabinett nun die
Wahl habe, Rita Verdonk zu entlassen, oder die Unterstützung der D66 zu verlieren. Damit
übte die kleinste Regierungspartei, die um den Wiedereinzug ins Parlament bangen muss,
kräftig Druck aus.

Bei einer Beratung heute Mittag sah das Kabinett keine Notwendigkeit, Rita Verdonk zu
entlassen, weil das Misstrauensvotum keine Mehrheit im Parlament erreicht habe. Als der
Ministerpräsident dies in der Sitzung offiziell bekannt gab, reagierte Frau van der Laan,
indem sie dem Kabinett die Unterstützung entzog. Nach einigem hin und her traten auch die
Minister von D66 zurück, das Kabinett war am Ende.

Ich sagte es bereits, es gibt einige Unterschiede zwischen dem Deutschen und dem
Niederländischen Staatsrecht, auch und vor allem bei den ungeschriebenen Regeln des Umgangs.
In Deutschland wäre es ohneweiteres möglich, mitten in der Legislaturperiode ein neues
Kabinett zu bilden. Es müsste sich lediglich eine Mehrheit finden, die dem Kanzler
konstruktiv das Misstrauen ausspricht, indem ein anderer Abgeordneter zum Bundeskanzler
gewählt wird. In den Niederlanden kann man einem einzelnen Minister das Misstrauen
aussprechen, und dem gesamten Kabinett. Aber daran ist keine Neuwahl geknüpft, denn in den
Niederlanden wird der Regierungschef nicht gewählt, sondern von der Königin ernannt, nachdem
er oder ein anderer Politiker der Königin einen Koalitionsvertrag zwischen Parteien bzw.
Fraktionen vorlegt, die über eine ausreichende Mehrheit im Parlament verfügen. Der Auftrag
zur Regierungsbildung geht auch von der Königin aus. So wird also Jan Peter Balkenende
morgen zur Königin wandern und seinen Auftrag als Regierungschef zurückgeben. Im Normalfall
bedeutet das vorzeitige Neuwahlen. Denn wenn ein Kabinett „demissionaire“ ist, also nicht
mehr den königlichen und parlamentarischen Regierungsauftrag hat, wird es nur noch als eine
Art Verwaltungsrat betrachtet. Eine solche Regierung kann keine Gesetze mehr ins Parlament
einbringen, die von größerer Bedeutung sind, denn diese Angelegenheiten sollen einem
vollwertigen Parlament und einer vollwertigen Regierung überlassen bleiben. Nur die für die
Belange des Reiches absolut notwendigen Aufgaben kann das bereits entlassene Kabinett
geschäftsführend durchführen. So würden sich alle normalerweise schnelle Neuwahlen
wünschen. Aber in diesem Jahr ist alles anders: Niederländische Soldaten stehen in
Afghanistan, und es werden Schwierigkeiten erwartet. Außerdem muss im September ein neuer
Haushalt verabschiedet werden. Darum muss ein funktionierendes Kabinett mindestens bis Ende
September im Amt bleiben. Vermutlich wird es ein Rumpfkabinett, eine Minderheitsregierung
aus CDA und VVD geben, die dann nach dem Einbringen des Haushaltes Neuwahlen ausschreiben
werden. Ein Minderheitskabinett kommt in den Niederlanden fast nie vor, ebensowenig wie in
Deutschland. Während es aber in den Niederlanden durchaus möglich ist, solange es kein
Misstrauensvotum gibt, würde es in Deutschland an der Wahl zum Bundeskanzler scheitern und
könnte nur in der Mitte der Legislaturperiode vorübergehend entstehen, wenn der
Bundeskanzler seine Mehrheit verliert, die Opposition keinen Misstrauensantrag stellt und
der Bundeskanzler keine Vertrauensfrage an das Parlament richtet.

Noch können wir nicht sagen, wie die weiteren Schritte sein werden, das stellt sich erst in
den nächsten Tagen heraus. Allerdings ist die Sache noch nicht beendet. Zum zweiten, dritten
oder vierten mal in den letzten vier Jahren kommen die Niederlande in eine schwierige
Situation. Der Mord an Pim Fortuyn, die erste Regierungskrise Balkenende, der Mord an Theo
van Gogh, und jetzt das. Ein beinahe kleiner Streit um Ayaan Hirsi Ali wird innerhalb
weniger Stunden zur großen Krise. Aber es gibt erste Stimmen, die erkennen lassen, warum es
so weit kommen konnte. „Lange genug“, sagen Parteimitglieder der D66, „haben wir um des
lieben Koalitionsfriedens willen die fürchterlichen Menschenverachtenden Aktionen und
Verordnungen von Rita Verdonk ertragen. Jetzt ist schluss!“ Das zeigt, wie sehr sich die
Geister an der eisernen Rita scheiden.

Copyright © 2006, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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3 Antworten zu Toooor! Tor van der Laan in letzter Minute!

  1. Das Nest sagt:

    Und? wie ist es denn nun mit der Regierungskrise in Holland weitergegangen? Ich find’s schon mal ein Ding, daß solche eine kleine Partei so einen Wirbel machen kann. Was war denn die erste Regierungskrise von Balkenende?

  2. Hallo Nest,

    ja, ich habe das Ende der Geschichte noch nicht erzählt, nur vermutet. Tatsächlich ist es so gekommen, wie ich es mir dachte. Balkenende reichte seinen Rücktritt ein. Danach begann die Regierungsbildungsmaschinerie in den Niederlanden anzulaufen. Das bedeutete, dass sich die Königin mit ihren festen Beratern traf. Dazu gehören die Vorsitzenden der ersten und der Zweiten kammer, die Fraktionsvorsitzenden aller in der zweiten Kammer vertretener Parteien und der Vizepräsident des Staatsrates. Der Staatsrat ist ein beratendes, rechtsgelehrtes Kollegium, das die Regierung bei schwierigen Entscheidungen unterstützt. Personen, die sich um das Land verdient gemacht haben, können von der Königin in Absprache mit der Regierung auf Lebenszeit ernannt werden. Die Königin ist traditionell Vorsitzende des Staatsrates, die täglichen Geschäfte liegen in den Händen ihres Stellvertreters. Der gehört also auch zu den Beratern. Daraufhin hat die Königin den Staatsrat und ehemaligen Ministerpräsidenten Ruud Lubbers zum sogenannten „Informateur“ gemacht. Er sollte ausloten, ob es möglich sei, eine Minderheitsregierung aus CDA und VVD zu bilden. Er brauchte eine knappe Woche, für niederländische Verhältnisse ungeheuer wenig. Sein Ergebnis: Ja, die beiden Parteien wollen vorläufig weitermachen, und im Parlament werden sie von den christlichen Splitterparteien, der „Lijst Pim Fortuyn“ und im Falle des Staatshaushaltes sogar noch von D66 unterstützt. Für die wichtigen Vorhaben lässt sich also eine Mehrheit finden. Jetzt wurde also das Kabinett Balkenende III. gegründet, und am 22. November finden vorgezogene Neuwahlen statt.

    Die erste Regierungskrise Balkenende gab es, als die „Lijst Pim Fortuyn“ nach nur 87 Mitregentschaft 2003 an inneren Schwierigkeiten nahezu zerbrach und das erste Kabinett von Jan Peter Balkenende aufgeben musste. Wie gesagt, nach etwas weniger als drei Monaten.

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