Diskriminierung beginnt im Kopf

Die Blogosphäre spiegelt die Gesellschaft. Das kann man in einer Debatte sehen, die in zwei Blogs derzeit über barrierefreie Wahllokale geführt wird.

In einem Blogeintrag von Christiane Link zeigte sie sich entsetzt über eine Diskussion im Hauptstadtblog zum Thema „barrierefreie Wahllokale“. Viele Leute in diesem Blog fanden, dass Behinderte doch Briefwahl machen könnten, dann müsste man keine teuren Umbauten von Schulen und anderen Gebäuden bezahlen. Alle anderen Lösungen seien Luxus. Außerdem würde ja der Wahlvorstand hinauskommen, damit die Rollstuhlfahrer draußen ihre Wahl vornehmen könnten. Briefwahl sei doch ein geeignetes und bequemes Mittel, das Problem zu lösen und kein Geld zu kosten. Als Christiane sich dagegen aussprach, wurde ihr in ihrem eigenen Blog, wo inzwischen auch eine Debatte ausgebrochen war, unterstellt, ihre Betroffenheit hindere sie am logischen Denken. Das war dann schon beleidigend.

Dabei sollte man das Thema mal ganz ruhig angehen. Behindertengerechte Wahllokale sind für mich zunächst einmal eine Selbstverständlichkeit. Der Wahlgang ist in unserer Demokratie ein Bürgerrecht, und die Wahl muss gleich, unmittelbar und geheim erfolgen. Dies gilt für alle Bürgerinnen und Bürger, also auch für behinderte Menschen. Beim heutigen Stand der Dinge kann man das durch mehrere Maßnahmen gewährleisten. Erstens muss es für Blinde Wahlschablonen geben, die von den Blindenverbänden mit einfachen Mitteln und wenig Kosten hergestellt werden. Zweitens muss das Wahllokal für Menschen mit Gehbehinderung zugänglich sein. Das kann man meistens gerade in großen Städten dadurch erreichen, dass man das entsprechende Gebäude unter anderem unter diesem Gesichtspunkt aussucht. Es herrscht ja kein Mangel an Gebäuden. Natürlich ist es unsinnig, einen Gebäudeumbau allein zum Zwecke der Durchführung einer Wahl zu fordern. Bloß hat das in dieser Debatte auch niemand getan. Es ging darum, beim Aussuchen der Wahllokale darauf zu achten, dass die Gebäude barrierefrei sind, die man auswählt. Und wenn es wirklich so wenige barrierefreie Gebäude geben sollte, dass es keine Ausweichmöglichkeit gibt, dann geht es doch nicht nur um die Wahllokale, die man umbauen muss, oder?

Das ist nämlich der eigentliche Punkt in der Debatte. Es geht nur vordergründig um Wahllokale. Wenn alle öffentlichen Gebäude zugänglich wären, wären es naturgemäß auch die Wahllokale, und niemand müsste sich mehr Gedanken um Luxus oder Kosten machen. Das Problem fängt aber schon viel früher an, nämlich im eigenen Kopf. Was die Leute nicht begreifen ist, dass es viel zu wenig barrierefreie Gebäude gibt. Einer schrieb, dass man sich statt der Wahllokale um Bus und Bahn kümmern sollte. Aber wo bitteschön sollen die behinderten Menschen hinfahren, wenn sie am Ende ein nichtbarrierefreies Gebäude erwartet? Das ganze Umfeld muss barrierefrei sein, und das geht nicht von heute auf morgen, aber es kostet Geld. Die Politiker täten gut daran, das offen zu sagen, um nicht das Schreckgespenst der Kostenexplosion in die Köpfe springen zu lassen. Wahlrecht ist Bürgerrecht, Teilhabe ist Menschenwürde, also gibt es die dringende Notwendigkeit, öffentliche Gebäude zugänglich zu machen, nicht nur zum Zweck der Wahl, sondern allgemein.

Die Barrieren fangen im Kopf an. Was nützt es, architektonische, also technische Barrieren abzubauen, wenn man noch immer nicht die gleiche Sprache spricht, wenn es für bestimmte Leute immer noch so ist, dass für Behinderte besondere Regelungen getroffen werden müssen, die sie von den sogenannten „Normalen“ abgrenzen, die sie ausgrenzen? Kommunikationsbarrieren, mentale Barrieren, Unsicherheit, Unverständnis, das muss abgebaut werden. Das ist aber gar nicht so leicht. Natürlich kämpfen wir für den gleichberechtigten Zugang zu Wahllokalen, heute durch andere Auswahlkriterien, langfristig durch eine barrierefreiere Umwelt allgemein. Wer das für zu teuer hält, der braucht sich um Bus und Bahn auch keine Gedanken zu machen. Die Barrierefreiheit in Kirche und Schule ist eine Notwendigkeit, die weit über das Wahllokal hinausgeht. Das ist nur ein Mosaikstein. Es fehlt in den Köpfen das Bewusstsein für diese Notwendigkeit, und das ist der Grund, warum in dieser Debatte hart aufeinandertreffende Meinungen existieren, und warum man sich letztlich nicht versteht. Das ist schade, aber es spiegelt die heutige Gesellschaft wieder.

Copyright 2006, Jens Bertrams.


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Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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4 Antworten zu Diskriminierung beginnt im Kopf

  1. andras_fecke sagt:

    „Die Barrieren fangen im Kopf an.“ Und genau da hören sie auch auf. Wir sollten das, so schwer es auch sein mag, ändern.
    Soldarische Grüsse,
    Andreas

  2. Claudia sagt:

    Wir „Nichtbehinderten“ haben in dieser Hinsicht noch viel zu lernen. Ich dachte z.B. jahrelang ich arbeite in einem behindertengerechten Haus. Als meine Kollegin dann erkrankte und auf den Rollstuhl angewiesen war, merkte ich erst, dass die Rampe in unserem Foyer nur zu befahren war, wenn man sehr viel Kraft in der Armmuskulatur hat. Als später ihre Kraft in den Armen nach lies und ich ihr ab und zu behilflich war, sie über das Aussengelände mit zwei winzigen kleinen Stufen schob, stellte ich mich nicht sehr geschickt dabei an.
    Das war ganz anders, als bei den Rollstuhlfahrer im Fernsehn, die so locker, flockig Basketball spielen.
    Und von unserem Behinderten-WC, das als Kartonabstellkammer benutzt wird wußte ich vorher auch nichts.

  3. Fabian Schwarz sagt:

    Vielen Dank für das hintergründige und versachlichende, aber dennoch nachhaltige Plädoyer von einem „besonders betroffenen“ Hauptstädter!

  4. Das Nest sagt:

    Hallo Claudia!

    Deinen Beitrag zu lesen hat gut getan. Ja, ich finde es gut, wenn im Fernsehen auch die Behinderten gezeigt werden, die echt was drauf haben und was können, wie die Basketballer. Richtiger altag allerdings wird ständig nur verklärt oder verzerrt dargestellt: Entweder leisten die Behinderten übermenschliches, oder sie sind völlig hilflos (dann aber bitte keine deutschen Behinderten), oder sie haben ständig und selbstverständlich natürlich immer einen Haufen liebender und sorgender Freunde um sich, die sich gegenseitig dauernd auf die Schulter klopfen und sich versichern, daß sie es gaaaaaanz toll finden, „wie Du das machst.“ Es gibt da nur wenig realistisches, und das liegt nicht zuletzt auch zum Teil an den behinderten, die den Medien gegenüber oft sehr mißtrauisch gegenüber stehen und nur ihren eigenen Klüngel betreiben.

    Ach, jetzt bin ich ins Dozieren gekommen. Sorry. ich wollte nur sagen, Claudia, daß ich es schön fand, daß du uns an Deinen Erfahrungen hast teilhaben lassen.

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