Liveübertragung für Ohrfunk

Eine Sendewoche des Wahnsinns durchlaufe ich gerade, deren Höhepunkt mit Sicherheit die Liveübertragung gestern war.

Ohrfunk übertrug live die Fachtagung „Sozialstaat unter der Augenbinde“, und es war ein voller Erfolg.

Manchmal denke ich, es würde nett sein, bei Ohrfunk.de eine Anstellung zu haben. Ich würde nicht wesentlich mehr arbeiten als derzeit, und ich würde definitiv Geld dafür kriegen. Manchmal denke ich aber auch, dass es gut ist, wie es ist, und dass ich zufrieden damit bin. In dieser Woche beispielsweise wird man mich rund 20 Stunden auf Ohrfunk hören, im Gegensatz zu 6 oder so in den anderen Wochen. Einer der Gründe war meine Radiosendung zum 11. September, der andere Grund war die Liveübertragung gestern. Für einen Internetsender mit rund 15 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, von denen viele in der Hauptsache zuliefern, war das wirklich ein Ding, und es hat einen riesen Spaß gemacht.

In dieser Woche feiern die BliSta und der DVBS ihr 90jähriges Jubiläum. Grund für beide hier in Marburg ansässigen Organisationen, drei tolle Tage zu veranstalten. Dazu gehörte auch eine Fachtagung unter dem Titel: „Sozialstaat unter der Augenbinde“. Dabei sollte es um die Perspektiven des Sozialstaats aus Sicht Blinder und Sehbehinderter Menschen gehen. Die Öffentlichkeitsarbeiter der beiden Organisationen hatten mich gefragt, ob ich nicht Interesse hätte, die Veranstaltung live zu übertragen, zumindest die drei Referate und die anschließende Podiumsdiskussion. Es sollte nämlich spannend werden, denn die drei Referenten waren ausgesuchte Kenner der Materie. Der erste war Hubert Hüppe, Bundestagsabgeordneter und behindertenpolitischer Sprecher der CDU-CSU-Bundestagsfraktion. Er sollte die Perspektiven des Sozialstaates für blinde uns sehbehinderte Menschen aus Sicht der deutschen Politik erläutern. Der zweite Referent war Michael Krispel aus Österreich, der ein anderes Modell von Sozialstaat skizzierte, so dass man einen Vergleich ziehen konnte, und der dritte war DR. Heinz-Willi Bach, ein in Blindenkreisen bekannter Wirtschaftswissenschaftler, der einen Vergleich verschiedener Grundmodelle des Sozialstaats in Europa anstellte. Bei der Podiumsdiskussion war noch Uwe Boysen dabei, der Vorsitzende des DVBS, Jurist, Richter in Bremen und Sozialwissenschaftler.

Wie gesagt, ich wurde gefragt, ob ich nicht interesse hätte, die Veranstaltung am Donnerstag zwischen 14 und 18 Uhr über Ohrfunk zu übertragen. Natürlich hatte ich Interesse. Allerdings ist es damit nicht getan. Mein eigenes Studio verfügt hier nicht über eine Ausrüstung, mit der ich solche Live-Übertragungen ermöglichen könnte. Nicht mal ein vernünftiges Mikrofon kann ich hier mein Eigen nennen. Aber Axel Schruhl, mein Kollege aus Veitshöchheim, bot mir an, mit seiner Ausrüstung hierher zu eilen, um mir bei der Übertragung Hilfe zu leisten. Die Fachtagung fand aus Platzgründen in der Turnhalle desSchulgeländes der Blindenstudienanstalt statt, und es ergab sich ein Problem, an das wir alle vorerst nicht gedacht hatten: Es gab keinen DSL-Anschluss im Gebäude. Aber für eine Radioübertragung war der nun zwingend erforderlich. Hier muss ich den Verantwortlichen bei der BliSta ein ganz großes Kompliment machen. Pressesprecher Rudi Ullrich und Georg Bender vom elektroniklabor machten es möglich, dass die Trurnhalle für diesen Nachmittag verkabelt wurde.

Natürlich war ich im Vorfeld nervös. Solche Veranstaltungen bergen nach meiner Erfahrung immer unglaublich viele Risiken, und oft gehen Dinge schief, mit denen man vorher gar nicht rechnet. Wir brachen am Donnerstagmittag mit einem computer, einem Mischpult, zwei Kopfhörern und zwei Mikrofonen auf, um es tatsächlich zu versuchen. Natürlich waren unendlich viele Kabel noch dabei, und wir hofften, dass wir an das Saalmischpult angeschlossen werden konnten. Ein zweites Problem, mit dem wir uns befassen mussten, war das ausgangssignal unseres Senders, die DSL-Anbindung nämlich. Wie hoch war die Kilobit-Rate beim Senden, wie gut also die Qualität? Allerdings waren wir überrascht, als beide Probleme binnen Minuten nach unserer Ankunft gelöst waren. Ein DSL-6000-Anschluss war vorhanden, und eine Verbindung zum Saalmischpult konnte ohne Probleme hergestellt werden. Das erlaubte uns sogar, unseren Plan umzuschmeißen. Wir hatten vor gehabt, in jeder Pause zum Studio unseres Kollegen Sven nach München zu geben, damit der von dort aus Musik einspielte. Weil wir aber in unserer üblichen Qualität senden konnten, war das nicht nötig, und wir konnten die Sendung und die Leitung der Sendung selbst in der Hand behalten und mussten nicht alle 3 Minuten telefonieren. Einen kurzen Schrecken verspürte ich, als ich hörte, wie schlecht die Saalakkustik war. Hätte ich nicht meinen Kopfhörer auf gehabt und den Ton gehört, der am Mischpult ankam, hätte ich ehrlich gesagt mit meinen Ohren nicht allzu viel von der Veranstaltung verstanden. Doch unser Signal war wirklich gut. So kam es, dass Murphie’s Gesetz irgendwie an uns vorbei ging, und die anspannung löste sich, als gegen 13:30 Uhr unsere Sendung über eine stabile Internetverbindung begann. Es war ein tolles Gefühl, für so einen kleinen Sender mit so einer billigen Technik ein qualitativ so hochwertiges Programm übertragen zu können. Die Referate waren auch sehr interessant. Hubert Hüppe sprach über die Behindertenpolitik der großen Koalition. Natürlich verkaufte er das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz als großen Erfolg, natürlich schränkte er beim Grundsatz „Ambulante vor Stationäre Pflege“ ein, dass es imModellversuch auch Fälle gibt, wo eben die ambulante Pflege teurer als die Stationäre ist, fügte aber gleich hinzu, dass es eben keine Frage der Kosten, sondern des Menschenrechts sei, den Grundsatz so beizubehalten und zu fördern.

Michael Krispel aus Österreich erzählte, dass Pflege-, Rehabilitations- und Nachteilsausgleichsleistungen in Österreich viel öfter aus *einer* Hand gewährt würden als das in Deutschland der Fall sei, und das, obwohl die Zuständigkeiten dort ebenfalls sehr aufgesplittert sind. In Österreich erhalten Blinde Menschen übrigens, wenn ich das richtig verstanden habe, 632 Euro Blindengeld monatlich, allerdings ist das Pflegegeld, was uns hier in Deutschland nicht gefallen würde.

Dr. Heinz-Willi Bach erläuterte anschaulich die drei unterschiedlichen Sozialstaatsmodelle, die in Europa vorherrschen: Liberal, Konservativ, Sozialdemokratisch. Hier in Deutschland haben wir ein konservatives Modell, Schweden wurde als sozialdemokratisches und Großbritannien als liberales Modell dargestellt. Es würde einfach den Rahmen dieses Artikels sprengen, wenn ich näher darauf eingehen würde, wo genau die Unterschiede liegen, aber Heinz-Willi Bach hat uns schon einen Aufsatz versprochen, zu dem er sein Referat verarbeiten will. Dann kann man da noch näher darauf eingehen.

Nach den Referaten gab es eine Kaffeepause, aber nicht für uns. Unsere Sendung lief weiter, und ich machte mich auf die Suche nach Hubert Hüppe, den ich gern interviewen wollte. Es gelang mir kurz vor Pausenschluss mit Hilfe des DVBS-Pressesprechers Michael Herbst, den Bundestagsabgeordneten aufzutreiben. Natürlich konnte ich es nicht lassen. Er hatte angekündigt, man könne mit ihm auch über Politik sprechen, und das habe ich dann auch getan. Ich fragte ihn, wie er das Gleichbehandlungsgesetz so loben könne, wo doch die Föderalismusreform alles wieder zum Teufel jage, beispielsweise im Gaststättenbereich. Zwar wich er meiner Frage aus, es gäbe bei der Föderalismusreform viel schlimmere Dinge als das wegfallende Gaststättengesetz, aber er beantwortete meine Fragen nach seinem Wissensstand, und er war nebenbei gesagt auch ein sehr unterhaltsamer Interviewpartner.

Die Podiumsdiskussion griff viele Beiträge der Referenten auf, aber noch viel schöner war, dass sie aus dem Publikum sehr bereichert wurde. Es sollte nicht um Alltagspolitik gehen, trotzdem wurden durchaus politische Fragen gestellt und beantwortet. Fast 90 Minuten lang gingen die Wortmeldungen hin und her, bis Michael Herbst die Anwesenden auf dem Podium fragte: Eine behindertengerechte Gesellschaft ist für Sie wenn … – Und Uwe Boysen antwortete: „Wenn wir eine Veranstaltung wie diese nicht mehr brauchen.“ Hubert Hüppe: „Wenn wir niemanden mehr integrieren müssen, weil alle schon drin sind.“ Michael Krispel: „wenn alle Menschen mit Behinderung im alltäglichen Leben tatsächlich gleichgestellt sind.“ Und Heinz-Willi Bach: „Wenn jeder sein Einkommen zum auskommen durch selbstgewählte, erfüllende Arbeit erhalten kann.“

Damit ging eine äußerst gelungene Veranstaltung zuende, und wir waren nur einmal kurz vom Stream gefallen. Nach einem Kurzen Resymee mit Michael Herbst konnten wir abbauen und uns unseres Erfolges freuen.

Nach dieser gelungenen Aktion steht der nächste Termin schon fest: Am 1. Dezember kommt der Bundespräsident an die Blista hier in Marburg. Wir werden vermutlich mit demselben Team wieder dabei sein.

Copyright 2006, Jens Bertrams.


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Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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Eine Antwort zu Liveübertragung für Ohrfunk

  1. Das Nest sagt:

    Hallo! Ich fand die Übertragung auch ausgesprochen gelungen! Der Ton war genial! Und die HörerInnenzahlen haben gezeigt, daß so was auch dringend gern gehört wird, was ich fast noch am besten an der ganzen Sache finde. So weit ist es also mit der Politikverdrossenheit doch noch nicht. gut so. Wie es mit dem sozialdemokratischen Modell in Schweden weitergeht, bleibt nach den letzten Wahlergebnissen wohl leider abzuwarten. Schönen Tag noch!

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