Schuldig im Sinne der Anklage

Persönliche Gedanken.

Ich frage mich, wieviele Deutsche wohl in diesen Minuten vor 60 Jahren vor dem Radio saßen und die öffentliche Verlesung des Urteils im Nürnberger Kriegsverbrechertribunal erwarteten. Leider findet man kaum noch Zeitzeugen, die davon berichten können.

Ich kann mir ein Leben in diesem Zerbombten, von Hunger und Not gepeinigten Nachkriegsdeutschland nicht vorstellen, schon gar nicht in diesem ersten wirklich heftigen Jahr 1946, wo die ersten Menschen an Hunger und Kälte starben. Ich kann mir nicht vorstellen, wie tief gedemütigt sich die Menschen fühlen mussten, die in gutem Glauben an eine Führung gelebt hatten, die sie aus den schlimmen Zeiten nach dem Versailler Vertrag hinauszuführen versprochen hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, wieviele Deutsche wirklich Scham empfanden über das, was in den 218 Tagen des nürnberger Prozesses ans Tageslicht gekommen war und seither unendlich oft, manchmal gebetsmühlenartig, wiederholt worden ist. Terror, Barbarei und Monstrosität kamen dort in einem Ausmaß ans Licht, das vor unserer technisch so entwickelten Zeit kaum denkbar gewesen ist. Doch heute denke ich daran, wie wohl die Bewohner dieses Landes, die unterlegenen Deutschen, diesen Tag erfahren haben mögen, als die Alliierten die Urteile über die führenden Nationalsozialisten sprachen, soweit diese sich nicht durch Flucht oder Selbstmord der Verantwortung entzogen hatten. Von allen hatten sie Selbstaufgabe bis zum letzten Blutstropfen verlangt, sie selbst aber machten sich davon. Auch viele Deutsche müssen sich betrogen gefühlt haben. Und das, obwohl die Behauptung, die Deutschen hätten von den Greueltaten des Regimes gar nichts gewusst, nachweislich falsch ist. In meiner eigenen Familie, die diese Behauptung übrigens immer wieder wiederholte, gab es Leute, die für eine gewisse Zeit in Konzentrationslagern gesessen haben, und von denen es später hieß, sie hätten darüber nie ein Wort gesprochen. Selbst wenn das stimmt, konnte man daraus ersehen, dass es schrecklich gewesen sein muss. Und ebenfalls in der Familie gab es einen Mann, der eine geistige Behinderung hatte und von den Nazis umgebracht wurde, obwohl in seinem Totenschein Lungenentzündung mit Todesfolge stand. Und meine Familie hat gewusst, dass er umgebracht wurde. Trotzdem konnten dieselben Leute immer wieder behaupten, dass man von den Greueltaten nichts gewusst habe. Sie haben die Synagogen brennen sehen, sie haben gewusst, dass jüdische Mitbürger verschwanden, zumindest außer Landes getrieben wurden, und das geben sie zu, trotzdem behaupten sie: „Die allermeisten Menschen haben von den Verbrechen nichts gewusst.“ Und noch eine seltsame Gedächtnisspaltung scheint es zu geben: Obwohl das ganze Leben geregelt war, obwohl man seine eigentlich sozialdemokratische Gesinnung – zumindest was meine Familie betrifft – nicht offen zeigen durfte, sagten gerade die Leute, die damals Jugendliche waren, es sei die beste Zeit ihres Lebens gewesen. Nicht des Regimes wegen, sondern der Aktivitäten bei den Jungmädeln wegen, der gemeinsamen Wandertage, des Osterfeuers und der vielen Lieder wegen, die man gemeinsam gesungen, der vielen Streiche wegen, die man gemeinsam gespielt habe. Und es habe ein Ton zwischen Jugendlichen und Erwachsenen geherrscht, der durch Respekt gekennzeichnet gewesen sei, ohne der Jugend ihre Streiche und ihren Schabernack zu verwehren. Und selbst im Kriege, sagten dieselben Leute, habe unter den Nachbarn und Freunden sehr viel Zusammenhalt geherrscht, viel mehr als heute. Und im nächsten Atemzug erzählten sie von einem Nachbarn, der ein rechter Fanatiker und Denunziant gewesen sei, vor dem man sich habe in Acht nehmen müssen. Und sie erzählten, dass die Kettenhunde, also die SS, kurz vor Kriegsende Kanonen auf unsere Siedlung gerichtet habe, um zu verhindern, dass die Leute auf eigene Faust vor den Amerikanern kapitulierten, durch weiße Betttücher im Fenster.

Dieses in sich so gespaltene Volk musste heute vor 60 Jahren das Urteil über Jene entgegennehmen, die es in den Krieg getrieben und zu Mördern gemacht hatten, unwürdig, vor die Augen der Welt zu treten. Was mag wohl in ihnen vorgegangen sein?

Dank der „Volksempfänger“ gab es viele Radios in Deutschland, meine eigene Familie hatte keinen, sie war stolz darauf, ein altes Grundig-Gerät zu besitzen. Ich frage mich, ob meine Mutter mit ihren 17 Jahren am Radio saß. Ein Jahr und einige Monate zuvor noch hatte sie am Tag der Kapitulation unserer Heimatstadt Solingen die Jungmädeluniform getragen und ihr Führerbild kostbar gehütet, obwohl ihre Mutter, meine Oma, es am liebsten schon von Anfang an zerrissen und zerstört hätte. Sie nämlich war, wie ihre ganze Familie, Kommunistin. Ich frage mich, ob mein Vater mit seinen knapp 16 Jahren am Radioempfänger gesessen hat. Ein Jahr und ein paar Monate zuvor hatte er noch als Luftwaffenhelfer geholfen, das Landgut von Robert Ley im Oberbergischen auszuräumen und Akten zu vernichten. Er war damals vierzehn gewesen, und es war ihm abenteuerlich vorgekommen. Sein Vater hatte ihm angeboten, Dokumente verschwinden zu lassen, die man nachher legal verkaufen könnte, und die einen großen Wert für die Wissenschaft besitzen würden. Mein Vater hatte, sehr zu seinem späteren Leidwesen, abgelehnt. Ich frage mich, was meine kommunistische Oma an diesem Tag dachte. Vielleicht gar nichts? Vielleicht war sie nur bemüht, ihre drei Kinder durchzubringen? Vielleicht machte ihr mehr Sorgen, dass ihr jüngster Sohn mit seinen 3 Jahren in dieser Zeit wenig Chancen hatte.

Was mag wirklich in diesen Deutschen vorgegangen sein, die dann tatsächlich am Radio saßen und zuhörten. Fühlten sie sich mit auf der Anklagebank? Wir wissen alle, dass es eine kollektive Verarbeitung der Nazi-herrschaft und der Nazi-Greuel nicht gab. Wir wissen alle, dass viele ihre individuelle Verantwortung dadurch leugneten, dass sie sich zu bloßen Befehlsempfängern stempelten. Aber wieviele werden in diesen Stunden vor 60 Jahren ihren inneren Dialog ausgefochten haben? Wieviele Menschen werden sich die Frage nach ihrer persönlichen Schuld gestellt haben? Wie meine Großtante, die NS-Frauenschaftsleiterin in einem Ort in Süddeutschland gewesen war. Man hatte sie 1945 sogar festgenommen, aber es wird in unserer Familie berichtet, dass die Bevölkerung dieses kleinen Ortes ihre Freilassung gefordert hat, mit Erfolg, weil sie immer nur Gutes getan haben soll. Und sie habe mehrere behinderte Mädchen dadurch vor der Deportation geschützt, dass sie sie in ihr Haus als Hausmädchen aufgenommen habe. Ich habe diese Großtante später kennengelernt. Sie gehörte einer reichen Familie an, war warmherzig, gütig, sehr einfach auf ihre Art, äußerst beliebt und sehr sozial. Ich kann mir aus meiner heutigen Sicht nicht vorstellen, dass diese Frau eine bösartige Ideologie unterstützte. Und doch hat sie einen Posten übernommen in dem System. Plötzlich waren alle Helden, selbst die, die in dem System arbeiteten und eine gewisse Machtposition erreicht hatten. Was wird diese Großtante gedacht haben, die übrigens zu unserer Familie, obwohl dort Kommunisten waren, meine Oma war ihre Schwägerin, immer den engsten Kontakt hielt. Wird sie das Urteil begrüßt oder missbilligt haben? Ich habe sie nie gefragt, und jetzt ist sie schon seit 21 Jahren tod. Es wird sie mit Sicherheit gegeben haben, die Leute, die sich mit dem NS-Staat arrangierten, ohne der Ideologie viel abzugewinnen. Aber waren es wirklich fast alle? Das kann ich nicht glauben, denn sonst wären die fürchterlichen Greuel dieser Zeit nicht möglich gewesen.

Die Spaltung in unserem Volk, die kaum merkliche Spaltung im eigenen Gedächtnis und in den Familienerinnerungen, sie ist bis heute vorhanden. Auch ich liebe meine Eltern und Großeltern, ich bewahre ihre Erinnerung. Aber ich möchte auch sehen, was sie im dritten Reich getan, wem sie gedient und was sie unterlassen haben. Ich verlange nicht von ihnen, Helden zu sein, denn ich weiß nicht, ob ich in dieser Situation ein Held gewesen wäre. Vielleicht ein Geheimer, in meinen Gedanken.

Vielleicht wäre die Spaltung in Deutschland nicht so groß, vielleicht wäre die Verdrängung nicht so stark, vielleicht wäre die Akzeptanz des Geschehenen viel weiter verbreitet, wenn die Deutschen endlich sagen würden: Jawohl, wir haben in diesem System mitgearbeitet. Wir waren keine Helden. Wir sind weder gemeinsam noch jeder für sich aufgestanden, denn wir wollten unser Leben und unsere Familien retten. Wir haben zugelassen, dass diese Clique an die Macht kam, und dann waren wir nicht heldenhaft genug, dagegen aufzustehen, obwohl wir die Greuel, die dort waren, gesehen haben. Wir waren feige, unseres eigenen Lebens und unserer Sicherheit wegen, und wegen unserer Familien. Wenn die Menschen von damals das zugeben könnten, dann wäre ich auch bereit zuzugeben, dass ich nicht weiß, ob ich in derselben Situation und unter denselben Umständen anders gehandelt hätte. Es ist nämlich leicht, später aus geschichtlicher Entfernung zu urteilen. Und dann erst ist man nämlich in der Lage, denen Respekt zu zollen, die trotz der Umstände, trotz der Gefahr für Leib, Leben und Familie, aufstanden und unbeugsam ihren Willen kundtaten, dass sie ein solch unmenschliches Regime nicht unterstützen wollten. Die Anderen aber, die zu feige oder zu ängstlich waren, würden sich dann schämen, und um dies nicht ertragen zu müssen, sagen sie nicht einmal, dass sie angst hatten. Stattdessen leugnen sie, etwas bemerkt und gesehen zu haben, leugnen zum Teil sogar die Tatsachen, oder sie sagen, dass es in ihrer Umgebung ganz anders gewesen sei. Man muss ihnen aber nur zuhören um zu erkennen, dass sie mehr wussten, als sie behaupten. Denn irgendwann erzählen sie doch.

Diese gespaltene Generation hörte heute vor 60 Jahren das Urteil über die Kriegsverbrecher, und morgen vor 60 Jahren erfuhr sie, dass viele der Führer sterben würden. Wie mag es bei ihnen angekommen sein? Vermutlich ebenso gespalten wie alles andere auch. Bestimmt haben sie gedacht, dass diese Verbrecher es aus menschlichen Gründen verdienten, verurteilt zu werden, angesichts der Toten, der Bilder aus den Konzentrationslagern. – Gleichzeitig werden sie vermutlich gedacht haben, dass mit ihnen alles verurteilt wurde, was sie selbst, also die einfachen Deutschen, ausmachte. Mit den Verbrechern wurde Deutschland verurteilt. Mit den Nazigrößen verurteilte man die persönliche Jugend der Radiohörerin, die Osterfeuer und die Wandertage, die Singkreise, die Strick- und Kaffeekränzchen, den Respekt vor dem Alter und die Disziplin der Jugend, die ehrliche Arbeit und die heimliche Hilfe für Bedrohte. Ich nehme an, dass es deshalb mehr Sympathie für die Kriegsverbrecher gab, als es angemessen war, und auch mehr Sympathie, als die Meisten ganz tief in ihrem Innern fühlten. Sie fühlten sich mit verurteilt, denke ich. Eine gespaltene Generation eben.

Ich hätte gern an einem Radiogerät gesessen, heute vor 60 Jahren. Denn wie oft auch noch das Wort „Siegerjustiz“ über deutsche Lippen kam, so war es doch der Anfang einer Aufarbeitung, die lange dauerte und immer noch andauert, und die uns schwerer fallen wird von Generation zu Generation, und je weniger Zeugnisse es von denen gibt, die wirklich dabei waren.

Copyright 2006, Jens Bertrams.


Technorati : Geschichte, Kriegsverbrechen, Kriegsverbrechertribunal, NS-Diktatur, Nationalsozialismus, Nürnberg, Nürnberger Prozess, Politik, Todesstrafen, Urteilsverkündung

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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6 Antworten zu Schuldig im Sinne der Anklage

  1. Lieber Jens,
    ich glaube, die Nürnberger Prozesse sind von vielen in Deutschland als Abrechnung der Siegermächte mit den Unterlegenen empfunden worden und weniger als gerechte Bestrafung von Verbrechern. Neben der notwendigen Auseinandersetzung mit den Greueln des Faschismus diente der Prozess doch irgendwie auch ein wenig als Rechtfertigung für Kriegsverbrechen der Aliierten wie beispielsweise die Bombardierung Dresdens, Kölns, Freiburgs und vieler anderer deutscher Städte.
    Viel wichtiger war wohl – soweit ich es verstanden habe – der Anlauf des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer zu den Frankfurter Auschwitz-Prozessen. Dort wurden bergeweise Aussagen von Opfern, Tätern und Mitläufern dokumentiert. Diese Dokumente stehen uns heute – und glücklicherweise verstärkt wieder – zur Verfügung.
    Mein Vater erzählte seine Geschichte: Er habe gerne Hitler-Junge werdenwollen, doch sein Vater habe es ihm verboten. So wurde er eben Pfadfinder.
    Mit dem obersten HJ-Führer Danzigs prügelte er sich nach Schulschluss, wohingegen er während des Unterrichts neben ihm saß und mit ihm gemeinsam pfuschte.
    Dieser Mann wurde später Politiker in der SPD. Doch mein Vater betrachtete dessen HJ-Aktivität als „Jugendsünde“. Beide waren zum Kriegsende 17 Jahre alt.
    Mein Großvater soll Juden versteckt und aus Deutschland hinausgeschmuggelt haben, erzählte min Vater. Doch niemals hörte ich Näheres. Dafür spricht aber, dass der Alte Herr direkt nach Kriegsende Pianist im russischen Offizierskasino war.
    Weil er Katholik war und dem „Zentrum“ angehörte, hatte mein Großvater hier und da Schwirigkeiten mit den Nazis. Schlimm dürfte es aber nie gewesen sein.
    Mein Vater blieb bis zu seinem Tode – ebenso wie mein Großvater – ein eher konservativer Mensch. Er war hoher Funktionär beim Bund der Vertriebenen. Trotzdem war er ein überzeugter und vehementer Antifaschist: Entschieden hat er sich gegen Republikaner und andere reaktionäre Vereinnahmungen seines Vereins gewehrt. Und immer hat er für die Versöhnung mit den Polen plädiert.
    Bei aller Konservativität war mein Vater immer offen für demokratische Debatten und Diskurse und zeugte Andersdenkenden dabei Respekt.
    Auch wenn ich vieles anders sehe als er, habe ich doch sehr viel von ihm gelernt.
    Leider kennen die jungen Leute heutzutage aber kaum noch etwas von dieser Zeit. Und dann gibt es noch diese unsägliche Haltung gewisser Walsers, man müsse doch endlich mal einen „Schluss-Strich“ ziehen.
    Ein solcher Schluss-Strich wäre wirklich der Schluss: Für viele bedeute das Wegsehen, das Nicht-Wissen-Wollen und das Achselzucken der Nachbarn den sicheren Tod.
    Deswegen kann und darf es keinen Schluss-Strich geben.
    fjh

  2. Lieber Franz-Josef,

    ich stimme dir zu. Schlussstriche haben bei diesem Thema nichts zu suchen. Mir kam es vor allem darauf an, einmal die innere Verfassung der Deutschen zu beleuchten, wie ich sie mir nach der Analyse der Verhältnisse in meiner eigenen Familie vorstellte. Dieses: „Bei uns war es nie so schlimm“ und gleichzeitig von SS-Be- und Erschießungen, KZ’s, Judenverfolgung und so weiter etwas zu wissen, aber immer zu behaupten, man wusste in der Regel nichts. Mein Großvater, der sich immer als unpolitischer Mensch bezeichnet hatte, musste sich vor Kriegsende verstecken, weil er sich gegen Parteibefehle gewehrt hate. Diese ganze Zwiespältigkeit, sie ist mit Sicherheit auch im Umgang mit Nürnberg zum tragen gekommen. Und ganz so einfach ist es da nicht, zu sagen, dass es um die Rechtfertigung der Siegerkriegsverbrechen ging. Ich kann die ganzen Protokolle, wenn auch in englischer Sprache beim Avalon-Project der Yale-Law-School nachlesen unter http://www.yale.edu/lawweb/avalon/avalon.htm, und ich bin beeindruckt von den Verhören, den Zeugenaussagen, den Dokumenten. Beeindruckt und erschüttert. Jackson und seine Anklagebehörde haben schon viel Material zusammengestellt, das muss man schon sagen. Ich war vor ein paar Tagen nach Jahren mal wieder auf diese 22 Bände Originaltext gestoßen, und das hat mich zu meinem Eintrag inspiriert.

  3. Das Nest sagt:

    Donnerwetter, das ist ja eine geballte Ladung, die zwei geübte Schreiber da zum thema zu sagen hatten. Da fällt es schwer, den Punkt zu finden, auf den ich antworten kann und will.

    Ich persönlich weiß sehr wenig über die Zeit der NS-Regierung und wünsche mir wie Du, Jens, ich hätte meine Verwandtschaft öfter mal danach gefragt. War aber nicht so, und deshalb muß ich mich auf andere Punkte konzentrieren.

    Du sprichst von der gespaltenen Gesellschaft, von den seltsamen Phänomenen, die Du in Deiner Familie bemerkt hast, und ich frage mich, ob Du damit nicht auch, wie so viele, der Art der Verarbeitung der NS-Zeit erlegen bist, wie sie hierzulande praktiziert wird. Ich kann die Siegermächte verstehen, die deutsche zwangen, sich in Filmen die Greuel in den KZs anzusehen, die Taten der Kriegsverbrecher präsentiert zu bekommen und die Opfer anzuhören. die Frage ist aber, wie sinnvoll das war. Ihr habt ja beide darauf hingewiesen, daß die Deutschen ohnehin das Gefühl hatten, die siegermächte bestimmten in größtmöglicher Überlegenheit und Arroganz über ihr Schicksal. Was wußten diese fremden denn schon von ihrem Leben, ihrem Leid? Und das wirklich schwierige an solchen Zwangsdemonstrationen ist eben, daß man zwar menschen zwingen kann, im schlimmsten Fall die Bilder und Aussagen nie mehr zu vergessen. Was man aber nicht erzwingen kann ist, jemandem klarzumachen, was die ganze Sache mit ihm selbst zu tun hatte, wo er oder sie ihren Teil hatten. Was ist heute so grundlegend anders? Im Radio kann jeder verfolgen, wie zum Beispiel arbeitslose immer mehr entrechtet werden, und ich finde das nicht übertrieben. Aber nehmen wir was anderes: Jeder kann, wenn er oder sie sich informieren will, erfahren, was für Blüten die Ghetoisierung von Ausländern treibt: Ehrenmorde, gegen die nicht vorgegangen wird, Zwangsheiraten und so weiter. viele wissen mittlerweile oder könnten durch die Medien wissen, woran man zumindest einen Verdacht festmachen könnte, daß ein Kind mißbraucht oder mißhandelt wird. Wird die Quote der betroffenen Kinder deshalb kleiner? ich möchte diese Dinge nicht mit dem Holocoust vergleichen, zumindest natürlich nicht, was das ausmaß betrifft – aber was das Prinzip, den Mechanismus dahinter betrifft, so ist es dasselbe. für die Leute damals war Himmler ein Gesicht in der wochenschau genau wie Göring, Goebbels und wie sie alle hießen. die waren denen so nah wie uns heute Merkel, Stoiber oder Müntefering. die Monstrosität und das Grauen, das wir heute empfinden, wenn wir von den Nazigrößen hören, rührt daher, daß wir alles *wissen*, naja nicht alles, aber doch vieles, zumindest aber ganz sicher mehr als die Leute damals. Wir wissen auch, daß es bei der CDU Spendenskandale gegeben hat, wir wissen vage über die Flick-Affäre damals bescheid, wir erregen uns über die Praxis mancher unternehmen im Umgang mit ihren Arbeitern. Aber so oft wir die Gesichter der betroffenen auch sehen, ihre Stimmen hören, so wenig wissen wir doch letztlich wirklich darüber, wie solche Skandale entstehen und inwiefern sie uns betreffen. Wir können nachforschen, wo die Fehler im computersystem bei der Arbeitsagentur liegen – viele haben darüber geschrieben, und das Internet bietet uns vielfältige Möglichkeiten. Und doch sind wir machtlos und tun gar nichts dagegen, bis auv eine kleine Zelle des Widerstands, ein paar Juuristen, Gewerkschaftler, Menschenrechtsvertreter. Das ist ähnlich wie damals, nur das unsere Situation nicht so drastisch ist. Aber ich denke, so funktioniert es einfach: Man kennt nur ein Gesamtbild, kaum Einzelheiten, und würden sich heute alle andern europäischen Länder zusammentun und über unsere Krisen herziehen, dann würden auch heute wieder die meisten sagen: „Das geht die nichts an. Das ist unsere Sache“. Dazu kam im dritten Reich ja auch noch die Infiltration im öffentlichen Rundfunk. Da war doch über Jahre die Rede davon gewesen, wie „Der Feind“ mit seinen „Feindsendern“ schon damals versuche, Lügen und Gerüchte auszustreuen über die deutsche Regierung. Und nun diese Bilder. viele wollten es wahrscheinlich einfach nicht glauben und der Propaganda „des Feindes“ zuschreiben. auch heute kommt das, was jemand glaubt, noch sehr stark darauf, in welchem Umfeld er geboren wird und welchen Sender er hört, obwohl die Unterschiede nicht mehr so groß sind. Aber ein Hörer des Bayerischen Rundfunks hat eine andere Meinung zur Wirtschaft als jemand, der ständig WDR 5 hört, meine ich. Ich glaube, was uns so sehr an der Verarbeitung der deutschen Geschichte der dreißiger und vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts hindert ist die Tatsache, daß wir die damalige Generation, weil sie nicht mit uns gesprochen hat, als etwas fremdes, anderes und über jedes Maß gespaltenes halten. Aber ich denke, wir sind oft nicht weniger gespalten. Was werden wir unseren Kindern erzühlen, wenn die Energiereserven erschöpft sind? Das hätten wir nicht gewußt? Was werden wir sagen, wenn unsere Meere so verseucht und ihre Strände so verunstaltet sind, wenn wir das Klima so zerstört haben, daß es irgendwann nur noch von Tsunamis wimmelt, mal überspitzt gesprochen? Haben wir das alles nicht gewußt?

  4. @Nest: Ich stimme dir zu, was die Gespaltenheit bezüglich des Prozesses angeht. Vermutlich war damals die Sache mit der Siegerjustiz stärker als alles andere. Das enthob die Leute allerdings nicht ihrer eigenen Erinnerungen, ihrer eigenen Erlebnisse. Die Gespaltenheit, die ich meine, rührt ja von zwei unterschiedlichen Erinnerungsarten her. Die eine, die sagt: Das war meine Zeit, meine Jugend, meine Disziplin, die Zeit, in der vieles in meinem persönlichen Umfeld besser war als heute, und wir haben nichts gewusst. Und dann ist da die Andere Erinnerung, eben von den selbst erlebten Grausamkeiten desselben Regimes, das man eben noch verteidigt hat gegen die Feinde von außen. Diese Gespaltenheit, glaube ich, gibt es in vielen, eben weil viele wie du so schön ausgeführt hast, nicht aufgestanden sind und auch heute nicht aufstehen, obwohl es längst wiede Zeit wäre, gemessen an den heutigen Standards, die es zu erhalten und zu schützen gilt.

  5. Mike sagt:

    Ich empfinde nicht so, kein Land in Europa hat das NS-Regime so intensiv verarbeitet wie die Deutschen. Ja, ja ihr lest richtig. In der DDR fand dies keineswegs statt, diese Form der Unterdrückung gab es nur im „imperialistischen“ Westen, glaubt wirklich einer das Begriffe wie Kollaboration in den Niederlanden ode frankreich jemals intensiv debatiert worden wären. Nö, nö, wir waren alle in der Resistànce. Kann mann Hitler toppen, ja klar, Josef Stalin sei angemerkt.
    Die Wertschätzung eine Kommunistin in meiner Familie zu haben kann ich nicht nachweisen, ich hatte immer nur damit zu tun, wie überaus Geschickt man Waren (gleich welcher Art: Gemüse, Fleisch, Brot und natürlich Rauschwaren = Tabak und Alkohol) geschmuggelt hat, auch unter dem Hitlerschen Terrorregime und erst recht unter der Aufsicht der Alliierten. Zitat Brecht: „Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral“. An diesem Zitat wird sich nichts verändern.
    Alles wurde zerquatscht, jedes Element wurde untersucht, jede persönliche Selbstzerfleischung musste standhalten und (natürlich) nach außen gebracht werden. Gebracht hat es nichts, der Abschaum erobert die Ränge.
    Nein, ich bin nicht schuldig im Sinne der Anklage; waren es viele, ich bezweifle es. Diese Form einer universalen Anklage kann nur scheitern.
    Übrigens war es nicht nur 1946, der frühe Kälteeinbruch von 1947 hat deutlich mehr Tote gefordert. Klar, die sowieso Geschwächten starben an Erschöpfung, jeder war sich selbst der Nächste, Nahrung abzugeben kam einem Selbstmord gleich.
    Jeder will glauben. Jeder!
    Alleine fühlen wir uns …alleine.
    Wie in diesem Blog, wir (die Kommentatoren und wahrscheinlich auch die „Silent Reader“) fühlen uns unter unseresgleichen, nicht alleine, endlich nicht mehr alleine. Hitler und sein (durchaus brillianter, im Gegensatz zum mittelmäßigen A.H.) Propagandaminister haben exakt das gleiche instrumentalisiert. Wie lautet das heute: One Nation under one Groove.
    Die Ansatzpunkte erkennt man an allen Orten, nur will keiner die prinzipiellen Gefahren erkennen.

    Hey, bloß keine Depressionen bekommen.

    Groetjes

  6. @Mike: Ob Stalin Hitler getoppt hat ist eine Frage, die ich gar nicht bearbeiten will. Ich hoffe natürlich, dass die Verbrechen Stalins auch in Russland aufgearbeitet werden, irgendwann… – Nur will ich beide nicht in schlimm und schlimmer einteilen. Es gibt Gründe, zu sagen, dass das Nazi-Regime das Schlimmste überhaupt war, und andere Menschen sehen es anders. Diese Auseinandersetzung führt zu nichts.

    Ich habe keine Kollektivschuld aussprechen wollen, als ich von Schuldig im Sinne der Anklage sprach. Mein Hauptaugenmerk lag darin, mir vorzustellen, was damals in den Köprfen der Deutschen vor sich gegangen ist, ganz unabhängig davon, was heute in unseren Köpfen vor sich geht, wenn wir über diese Zeit hören.

    Ja, ich weiß, dass 1947 schlimmer war. Deshalb sprach ich ja vom „ersten heftigen Winter“, dem – das habe ich dann nicht mehr geschrieben – der schlimmste folgte. Ich habe einige Geschichten aus der Zeit gehört.

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