Letters from Rungholt – Eine erweiterte Sicht auf das Leben in Israel und den Nahost-Konflikt

Vor gar nicht allzu langer Zeit habe ich einen Blogeintrag mit dem Titel Der Nahost-konflikt – eine offene Weltwunde geschrieben. Seit gestern lese ich fasziniert ein Blog, das mir einen persönlichen und differenzierten Einblick in das Leben in Israel und den Nahost-Konflikt gibt. Bloggen bildet.

Schon seit vielen Monaten bin ich an dem Blogtitel Letters from Rungholt vorbeigelaufen, ohne zu begreifen, dass es sich dabei um ein deutschsprachiges Blog handelt. Durch Zufall habe ich dann vorgestern erfahren, dass dieses Blog zum besten deutschsprachigen Blog gekürt wurde, und war sehr überrascht. Nun wollte ich natürlich wissen, was so gut an diesem Blog war und besuchte es. Und ich war von Anfang an fasziniert.

Lila ist eine in Israel lebende gebürtige Deutsche, die aus ihrer Sicht das Leben in Israel, im Kibbutz und im nahen Osten beschreibt. Liest man dieses Blog, das von einem Menschen geschrieben ist, der in der Region lebt, die ich vor einigen Monaten als „offene Weltwunde“ bezeichnet habe, dann wird das Bild dieses Konflikts um ein paar Nuancen bereichert, die nicht fehlen sollten, wenn man sich als Mitteleuropäer zu diesem Konflikt äußert. Wir sitzen in unserer warmen Stube, und uns fliegen die Raketen der Hisbollah nicht ständig um die Ohren. Beim Lesen dieses Blogs habe ich Verständnis dafür erworben, warum man in Israel böse darüber sein kann, dass dieses Land immer als der Aggressor bezeichnet wird. Dort nämlich sieht und hört man viele Dinge, die in der vereinfachten Darstellung in Europa schlicht nicht vorkommen. Zum Beispiel erzählt Lila, dass in Israel bedrückte Stimmung herrscht, nachdem die israelische Armee libanesische Zivilisten getötet hat. Sie berichtet davon, dass sich radikale Muslime in Moscheen verschanzen, Frauen vor das Gotteshaus stellen und einige Männer verkleidet unter ihnen, die die Menge aufstacheln. Das Gute an dieser persönlichen Sichtweise ist, dass Lila dies nicht zur Rechtfertigung der harten Politik der israelischen Armee benutzt. Sie schreibt, dass die Zeiten, wo man nicht auf Moscheen und Frauen schoss leider vorbei seien, und dass es besser wäre, das Geschehen zu photographieren und öffentlich zu machen, das Schießen aber zu unterlassen. Zum erstenmal lese ich ausführliche Zitate des Hisbollahführers, zum erstenmal etwas über das Verhältnis zwischen jüdischen und arabischen Israelis aus ganz persönlicher Sicht. Das Blog ist faszinierend und fesselnd.

Natürlich habe ich niemals Verständnis für die Hisbollah gehabt. Aber ich habe zum Beispiel im Golfkrieg in der Projektwoche in unserer Schule, wo wir den Nahostkonflikt behandelten, die Meinung vertreten, dass den Arabern großes nrecht angetan wurde, weil Israel entgegen dem Teilungsplan der Vereinten Nationen sich immer weiter ausgedehnt habe. Ich habe mich darüber beklagt, dass Israel sich nicht an die Resolutionen des UN-Sicherheitsrates hielt und hält. Ich beklage dies nach wie vor, aber beim Lesen dieses Blogs ist mir klar geworden, dass der Konflikt noch weit komplizierter ist, als er sich uns darstellt.

Fehler sind auf beiden Seiten gemacht worden. Die harte israelische Militärpolitik ist meiner Ansicht nach immer noch falsch. Aber ich kann besser verstehen, warum sie entstanden ist. Ich kann auch besser verstehen, warum der Krieg im Libanon entstand. Es ging eben nicht nur um einen Soldaten, der entführt wurde, sondern auch um die vielen Raketen, die Opfer unter der israelischen Zivilbevölkerung forderten. Lilas Gedanken weilten in dieser Zeit oft bei den Menschen im Libanon, genau wie unsere Gedanken. Ausweglosigkeit, aber nicht Selbstgerechtigkeit bestimmten irgendwie die Gefühle, die ich mitbekommen habe durch das Lesen der „Letters from Rungholt“. Und irgendwie stimmt es, was Lila schreibt: In Europa wird nach und nach mehr und mehr die rein arabische Sicht der Dinge übernommen, zumindest durch die Medien. Andererseits ist auch diese Tatsache komplizierter, als man vielleicht in Israel glaubt. Gerade mit der muslimischen Religion und der Tatsache, dass man sich in der Regel als Muslim fast immer als Opfer fühlt, haben wir auch unsere Probleme in Europa.

Ich kann nur jedem und jeder, die / der sich für den Nahostkonflikt und das Leben in Israel interessiert, empfehlen, dieses Blog, die Letters from Rungholt, ausführlich zu lesen. Es lohnt sich!

Copyright 2006, Jens Bertrams.


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Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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Eine Antwort zu Letters from Rungholt – Eine erweiterte Sicht auf das Leben in Israel und den Nahost-Konflikt

  1. Marc sagt:

    Danke für den Hinweis auf das Blog.
    Folgende Anmerkung noch: „Natürlich habe ich niemals Verständnis für die Hisbollah gehabt.“
    Warum eigentlich nicht? Die Hisbollah hat sich gebildet nachdem Israel aus fadenscheinigem Anlaß – Attentat auf den israelischen Botschafter in London, durchgeführt von der extremistischen Gruppierung um Abu Nidal, was bekannt war – 1982 in den Libanon einmarschierte. Offiziell wollte man nur die PLO zerschlagen (die mit dem Attentat nichts zu tun hatte). De facto schlug man das ganze Land zu Trümmern. Schließlich folgte das Massaker von Sabra und Shatila, durchgeführt von den Phalange-Milizen, aber beschützt durch das isr. Militär. Wer kann angesichts solcher Umstände annehmen, es bildet sich keine massive Gegenwehr? Das ist – überflüssig zu sagen – keine Gutheißung jeglicher Politik der zweifellos militanten Hisbollah. Es sollte aber genügen, diese Gruppierung nicht als das Böse zu betrachten, das grundlos vom Himmel gefallen ist um Israel zu bekämpfen.

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