Erschütterndes Urteil – Bundessozialgericht treibt Arbeitslose in die Armut

Eine dreiköpfige Familie hat in Zukunft Anspruch auf einen Lebensunterhalt von 857 Euro ungefähr. Das entschied das oberste Gericht in Sozialfragen, das Bundessozialgericht, am 23.11.2006 in einem Urteil. Von brutalem neoliberalem Geist beseelt schafft das Gericht ganz bewusst eine Armut, die unserer ach so hochgelobten Demokratie unwürdig ist.

Die Presseerklärung des Bundessozialgerichts ist ein erschütterndes Dokument über das, was die sogenannten Hartz-Reformen in unserem Lande angerichtet haben. Eine Frau hatte gegen die Ablehnung ihres Antrages auf Hartz IV geklagt. Ihr Mann erhält eine Rentenzahlung von 1052 Euro, und davon sollen nach dem Willen des Bundessozialgerichts beide leben. Hinzu käme noch das Kindergeld für die im Haus lebende volljährige Tochter. Im ersten Moment, als ich das las, begann ich zu rechnen: Meine Liebste und ich hätten ohne das Landesblindengeld auch nicht mehr, sogar noch etwas weniger. Allerdings fällt es mir schwer, mir vorzustellen, wie man zu dritt mit Miete, heizkosten und so weiter mit einem Gesamteinkommen von rund 1200 Euro durchkommen soll. Der Hammer allerdings ist in einer Art Nebensatz versteckt. Die Familie habe einen Fehlerfrei festgestellten Bedarf von rund 857 Euro, heißt es in der Presseinformation weiter. Dazu würden 311 Euro Regelleistung für die in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Ehegatten gehören, und zweidrittel einer Heizkostenpauschale für eine mit drei Personen bewohnten Wohnung, die sich auf rund 235 Euro belaufe. Wenn also diese dreiköpfige Familie über ein Gesamteinkommen von 857 Euro verfügt hätte, so hätte sie *keinen* anspruch auf ALG II mehr gehabt. Die Höhe der Regelsätze der Hartz-Reform, so fährt das Gericht in schönster neoliberaler Manier fort, sei nicht zu beanstanden. Zear liegen diese unterhalb der Regelsätze der ehemaligen Arbeitslosenhilfe, das sei aber durch das andere Ziel der Hartzgesetzgebung gerechtfertigt. Mit anderen Worten: Die Hartz-Gesetze will ja die Menschen klein halten, will sie schinden, sie als Schmarotzer hinstellen. Diesem Ziel, und natürlich der Annahme jeder nur erdenklichen Ausbeutungsarbeit, dient die Hartz-Gesetzgebung, deshalb ist es in Ordnung, wenn die Regelsätze niedriger sind als bei der Arbeitslosenhilfe.

Die Höhe der Regelsätze führe nicht automatisch zum Ausschluss aus der Gesellschaft, meint das Bundessozialgericht, dessen Mitglieder bestimmt noch nie das Vergnügen hatten, von ALG II leben zu müssen. Die Regelsätze lägen nicht unter dem physischen, und auch nicht unterhalb des sogenannten „Soziokulturellen Existenzminimums“, meinte das Gericht. Damit ist eine Teilhabe am Gesellschaftlichen Leben, kulturellen Veranstaltungen und gemeinsamen Aktivitäten mit Freunden, Bekannten und Familie gemeint. Dahinter kann man leise den Satz hören: „Sucht euch anständige Arbeit, dann habt ihr mehr.“

Das Bundessozialgericht, der hüter unseres Sozialstaates, sieht seine Aufgabe inzwischen offenbar darin, den neoliberalen Geist unserer Wirtschafts- und Sozialpolitik abzusegnen und zu bestätigen. Allerdings gibt es ein neoliberales Argument gegen eine solche Politik: Wer nichts verdient, der kann auch nichts kaufen. Wer nichts kauft, der kann nicht zur Gesundung der Wirtschaft beitragen. Wie soll eine dreiköpfige Familie mit 857 Euro monatlich leben können? Welche Berechnungen liegen dem zugrunde, oder noch besser, welche Ideen, Absichten und Meinungen über Menschen?

In Deutschland redet man seit einigen Monaten von der neuen Armut. Geändert wird natürlich nichts, aber immerhin wird darüber gesprochen. Wer Arbeitslose als Schmarotzer, als lästige Klötze am Bein der Wirtschaft, als Abschaum begreift, der wird eine solche menschenverachtende Politik richtig finden, und der wird auch nichts gegen die jetzt vom Bundessozialgericht bestätigten Regelsätze vorbringen. Aber *noch* sind alle staatlichen Organe dem Grundgesetz verpflichtet. Und dort steht in Artikel 1 Absatz 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Zur Würde des Menschen gehört ein Leben mit Teilhabe an der Gesellschaft, mit physischem Auskommen und eben ein Leben oberhalb dieses soziokulturellen Existenzminimums. man muss also Geld haben, um mal ein Konzert oder einen Film besuchen zu können, sich neue Kleidung zu kaufen, sich angemessen zu ernähren und so weiter. All diese Grundbedürfnisse gehören zu einem menschenwürdigen Leben. Nur weil die Politik das Ziel hat, Arbeitsuchende Menschen an den Rand der Gesellschaft zu drängen, auf sie die Schuld für eine wirtschaftliche Misere abzuwälzen, darf man diese Grundsätze des Grundgesetzes nicht verletzen. Wo ein Gericht dies trotzdem tut, begeht es Rechtsbeugung. Sicher war es die „geänderte Zielsetzung“ der Hartz-Gesetze, Arbeitsuchende unter Druck zu setzen, jede Arbeit mit jedem Lohn anzunehmen. Das Bundessozialgericht macht sich zum willfährigen Helfer dieser Politik. Allerdings sollte man das Grundgesetz genau lesen. Dort steht ein Satz, der bislang viel zu wenig Beachtung gefunden hat: „Gegen jeden, der es unternimmt die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen“, zu der auch das Sozialstaatsprinzip gehört, „haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand.“

Also los!

Copyright 2006, Jens Bertrams.


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Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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2 Antworten zu Erschütterndes Urteil – Bundessozialgericht treibt Arbeitslose in die Armut

  1. Das Nest sagt:

    Tja, was soll man da noch sagen? Ist ja toll: Jeder soll jede Art von Job annehmen. Und woher soll man selbst die beschissensten Jobs noch nehmen? Es ist doch schon sehr, sehr lange nicht mehr für jeden arbeitsfähigen überhaupt einer da! ich bin jetzt seit April 2005 in den Fängen des Kreisjobcenters in Marburg, und bisher habe ich nicht eine einzige Stelle oder auch nur Fortbildungsmöglichkeit angeboten bekommen! außer, wenn es um die Bescheide geht, habe ich von denen noch nichts, aber auch gar nichts gehört.
    Und was heißt auskommen? Selbst wenn Du Kino oder solche Sachen schon von vornherein abziehen wolltest: Durch nichts ist heute mehr abgedeckt, wenn Dir was größeres wie ne Waschmaschine oder ein Bett oder was weiß ich kaputt geht. So weit ich informiert bin, gibt’s da keine Zuschüsse mehr. Über die Abgekochtheit von Leuten, die diese Gesetze machn, finde ich leider kein Wort mehr. Sogar ich nicht, und ich bin ja sonst nicht auf den Kopf gefallen. Widerstand? Ja! Gerne! Aber wie kriet man die Leute zusammen? Treffen, die zu so was veranstaltet werden, müßten mehr bringen als INformation. Die Leute müßten auch gern dahin gehen. Es dürften nicht nur Veranstaltungen zum Frust abladen sein, die Leute müßten ermutigt wieder da weggehen können, angespornt zu eigenverantwortlichen Aktionen, zum Widerstand eben! Aber wie ermutigt, motiviert, ja erfreut man Menschen so weit, daß sie sich selber und das, was mit ihnen passiert, wieder wichitger nehmen und nicht mehr nur für einen Anlaß halten, zu mäckern oder zu resignieren. Es gibt viel Grund zum mäckern, aber das heißt auch Grund zum handeln. Und ich fühle mich da oft sehr hilflos. Und alle Dinge wie Tauschringe, Geschenkbörsen und so weiter helfen zswar, mit dem wenigen Geld auszukommen, stärken aber – rein materiell gesheen – auch die Wirtschaft. Darum brauchen die sich dann schon nicht mehr zu kümmern und es ist Wasser auf ihren Mühlen, daß das Geld doch reicht.

    In nicht-materiellen Dingen sind solche Initiativen aber nicht zu unterschätzen: Im Idealfall zeigen sie einem wenigstens, wozu man noch gut ist, was man kann, welche Fähigkeiten man hat. Dann läßt man sich wenigstens vielleicht nicht mehr in jeden Mistjob hineindrängen. Aber das ist doch alles ein Tropfen auf den heißen Stein! Merkt ihr was? Mich hat der Frust schon angesteckt! Obwohl ich mir dessen bewußt bin.

  2. Hallo,
    auch ich finde dieses Urteil skandalös. Von den Herren Bundesrichtern hat bestimmt noch keiner mit 311 Euro einen Monat lang auskommen müssen. Man sollte ihnen das mal zumuten, finde ich!
    Das Ergebnis ihres Richterspruchs werden Verhältnisse wie in den Vereinigten Staaten von Amerika sein: Amerika hungert.
    Vielleicht sollte man mal überlegen, ob man nicht einen Protestzug zum Bundessozialgericht in Kassel unternimmt?
    Man könnte den Herren für das nette Weihnachtsgeschenk danken, das Beziehern des arbeitslosengeldes II (ALG II) Weihnachtsgeschenke für die eigenen Kinder unmöglich macht.
    Auf jeden Fall werde ich diese Herrschaften künftig nur noch „Asozialrichter“ nennen.
    „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es im Artikel 1 des Grundgesetzes. Aber das Wort „Würde“ ist ja die Konjunktiv-Form von „Wird“!
    Mir „würde“ schlecht. Ich „würde“ mich schämen, wenn ich solche Urteile verbockt hätte!
    Liebe Grüße
    fjh

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