Sind die Computerspiele wirklich Schuld? – ein nachdenklicher Streifzug

Was kann einen jungen Mann von 18 Jahren dazu bewegen, in seine alte Schule zu gehen, mit einer Waffe um sich zu schießen, mehrere Menschen zu verletzen und sich dann selbst umzubringen? Die Computerspiele, sagen die Politiker, aber stimmt das wirklich?

Durch einen Beitrag von Christiane Link bin ich darauf aufmerksam geworden, dass es auch viele in der Blogosphäre gibt, die sich mit dem Amoklauf von Emsdetten auseinandersetzen. Bis dahin habe ich die Debatte um das Verbot von Ego-Shootern und Killerspielen nur mäßig verfolgt. Der oben verlinkte Beitrag vermittelt allerdings einen guten Einblick in das, was im Netz derzeit zu diesem Thema geschrieben wird. Offenbar verschwinden nach und nach alle Hinweise auf den Täter, Bastian B., und auf die Aktivitäten, die seinem Amoklauf vorausgingen. Diese Aktivitäten bieten ein ganz anderes Bild des Täters, als es die Medien zeichnen. Ein Abschiedsbrief und ein Hilferuf des Täters aus dem Jahre 2004 zeigen einen verunsicherten, gemobbten jungen Mann, dem niemand Verständnis entgegenbringt. Aus Angst wurde Wut, schreibt er in seinem Hilferuf. Ich kenne das aus meiner eigenen Schulzeit. Oft hatte ich Angst vor älteren, stärkeren Schülern. Ich war ihnen unterlegen, schwach, Hilflos. Das Lehrpersonal und die Betreuer in unserem Internat halfen uns Kindern in der Regel nicht. Rangkämpfe mussten wir unter uns selbst ausfechten. Es gab eine Zeit, da habe ich angefangen, mit Aggression auf meine Situation zu reagieren. In meinem Letzten Schuljahr auf der Blindenschule in Düren habe ich auch begonnen, kleinere Mitschüler, die mich ärgerten, schlecht zu behandeln. Ich habe ihnen Gott sei dank nicht wirklich etwas angetan, aber einmal habe ich einen Jungen auf den Boden geschupst. Er hat sich nicht wirklich weh getan, aber ein Lehrer sah es, und ich wurde verwarnt, und mir ging schon in diesem Moment auf, was ich da tat. Ich wollte auch endlich einmal Macht fühlen, und ich wollte mich rächen für alles, was mir in den letzten 9 Jahren angetan worden war. Gut, ich kriegte die Kurve, andere vielleicht nicht, weil sie keine Hilfe haben. manche mögen ihre Aggression auch in Computerspielen ausleben. Das ist aber ein weit verbreitetes Phänomen, und dass die Häufigkeit von Computerspielen unter jugendlichen Amokläufern noch lang kein Indiz für die Computerspiele als Ursache ist, hat Channelhopping in diesem Beitrag überzeugend dargelegt. Für Politiker ist es wichtig, einen Schuldigen zu finden. Nur dann können sie auf einfache Weise klar machen, dass sie etwas tun, dass sie handeln und durchgreifen. In unserer heutigen Zeit, wo Reaktionen auf Ereignisse sofort sichtbar gemacht werden müssen, um von den Medien transportiert werden zu können, hilft es überhaupt nichts, die psychischen Probleme eines Menschen zu analysieren, der einen Amoklauf unternimmt. Damit kann man dem Fernsehen nichts anbieten, denn dann gibt es keine schnellen Lösungen. Und was noch schlimmer ist, man müsste Gesellschaftskritik üben, auch an der Politik, auch an den Medien, die Informationen nur noch in kleinen, griffigen Häppchen vermitteln wollen. Und weil Politiker eine solch griffige Formel für die Aufpolierung ihres Images brauchen, sind es nun einmal die Computerspiele. Darin schwingt hintergründig auch die Angst vor dem Internet, vor der Netzdemokratie mit, dieser Bewegung von unten, die jetzt durch neue Gesetze massiv eingeschränkt werden soll, indem Weblogs und Podcasts künftig einer journalistischen Sorgfaltspflicht unterliegen sollen und nur noch die objektive Wahrheit verbreiten dürfen. Wer legt aber fest, was Wahrheit ist?

Wie die oben genannten Links zeigen, hat Bastian B. schon im Juni 2004 um Hilfe ersucht, nachdem er grundlos, wie er sagte, in seiner Schule geschlagen worden war und weil er sitzengeblieben war seine Freunde verloren hatte. Er hatte nicht vor, damit allein zu bleiben, er unternahm etwas, um seine Situation zu verändern. woran liegt es, dass es letztlich nichts genutzt hat? Ist es einer Gleichgültigkeit in unserer Gesellschaft geschuldet? Bastian B. war am Ende ein junger Mann, der zu einem brutalen Täter wurde, der offenbar kein Mitleid kannte. Für ihn war dies eine Reaktion auf eine mitleidlose Umwelt, wie Marcel Bartels in diesem Blogeintrag darstellt. Für mich ergibt sich daraus die Notwendigkeit, dass wir uns einmal mit unseren Schulen genauer auseinandersetzen, und nicht nur im Hinblick auf die Pisa-Studie und möglichst große Effizienz. Wir müssen uns darüber klar werden, wie wir unsere Kinder in den Schulen behandeln, und wie sie sich selbst behandeln. Dem darf man nicht tatenlos zuschauen.

Mein Neffe erzählte immer, dass die Schüler seiner Klasse manchmal ganze Morgende allein waren, dass kein Lehrer auftauchte, dass sie sich selbst überlassen blieben. Irgendwomit musste man sich ja die Zeit vertreiben. Und wie ich das aus meiner eigenen Schulzeit kenne, war dies die Zeit, in der man Frust und Aggressionen abbauen konnte. Mobbing? Ja, das kenne ich. Ich habe es selbst oft in meiner Schule erlebt, wenn auch nicht so extrem, dass mir ein Amoklauf in den Sinn gekommen wäre. Aber Verzweiflung und Wut haben sich auch bei mir breit gemacht. Kinder können zueinander manchmal ganz schön gemein sein, gerade dann, wenn keine freundliche Führung durch das zuständige Personal erfolgt. Aber bei Lehrermangel und Kosteneinsparungspolitik, bei einer Politik, die alles und jedes nur noch an der Wirtschaftlichkeit ausrichtet, kann sich nichts ändern. Der Mensch sollte im Mittelpunkt der Politik stehen, der Mensch und seine Bedürfnisse. Nicht mittelbar über Wirtschaft und Konjunktur, Effizienz und Gewinnmaximierung, sondern direkt und unmittelbar über die Gestaltung einer Umwelt, die es Menschen ermöglicht, ihr Leben als lebenswert zu empfinden. Schüler sollten ohne Angst zur Schule gehen können, und die Ansprechpartner dort sollten Vertrauenspersonen sein können. Das kann nur funktionieren, wenn genug Personal da ist, das sich die Verantwortung teilt. Effizienz und Marktorientierung helfen uns da nicht weiter.

Natürlich ist es wichtig, die Entwicklung auf dem Computerspielemarkt im Auge zu behalten. Als Spiegel unserer Gesellschaft machen sich immer mehr gewaltverherrlichende Spiele breit. Trotzdem denke ich, dass die Spiele in den seltensten Fällen die Ursache für ein Verhalten sind, wie es Bastian B. an den Tag gelegt hat. Wer ein ausgeglichenes, geborgenes, interessantes und erfülltes Leben lebt, der hat vielleicht gar keine Lust auf solche Spiele. Aber wer ein Ventil braucht, um Frust und Aggressionen abzulassen, auf die in der realen Umwelt niemand reagiert, der findet dieses Ventil vermutlich immer häufiger in Killerspielen. Für die Politik ist es einfach, die Computerspiele an den Pranger zu stellen. Viel schwieriger, beschämender und langwieriger wäre es, sich mit den ernsthaften Ursachen auseinanderzusetzen, der Kälte und Gleichgültigkeit unserer Gesellschaft in ihren verschiedensten Ausprägungen. Das aber wäre den Medien schwer zu vermitteln.

Dass man andererseits die Computerspiele auch nicht alle verbieten wird, schon allein aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus, steht auf einem anderen Blatt und muss hier nicht debattiert werden. Dass aber die Polizei sich zum Handlanger politisch opportuner Meinungsmache macht und die Hintergründe des Amoklaufs aus dem Netz entfernt, ist ein Skandal, über den mir derzeit noch die Worte fehlen. Aber ich habe auch so schon genug geschrieben.

Copyright 2006, Jens Bertrams.


Technorati : Amoklauf, Blogosphäre, Computerspiele, Emsdetten, Hilferuf, Politik, psychische Probleme

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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7 Antworten zu Sind die Computerspiele wirklich Schuld? – ein nachdenklicher Streifzug

  1. mona lisa sagt:

    Sachen, Dinge können m.E. sowieso nie Schuld haben oder schuld sein. Es ist immer der Mensch, der wählt und missbraucht.

    Ich frage mich nur machmal, ob Jugendliche nicht auch (wieder) lernen müssen, mit ihren Aggressionen, ihrem Frust etc.so klar zu kommen, dass sie keine anderen gefährden oder ihnen schaden. Selbst meine Kinder sagen mir: das Leben ist kein Wunschkonzert. Leben ist nicht immer, wie man es haben möchte. Das muss man auch aushalten können. Man braucht auch die Fähigkeit zu erkennen, wer „Verantwortung“ wofür trägt. Nicht immer sind es die anderen: Lehrer, Erzieher, Eltern.
    Auch Jugendliche sind z.T. für Situationen und die Veränderung von Situationen ver-antwortlich, d.h. sie müssen eine Antwort auf die Situation finden, andere Wege ausprobieren. Dazu gehören verständnisvolle Erwachsene, die einen dazu anleiten, die m.E. aber auch Grenzen setzen müssen. Und das erzeugt Frust, Aggression… Und immer dann stellt sich die Frage, wie gehe ich damit um .

    Doch die stellt sich doch auf für Erwachsene immer wieder ? Da kann ich doch auch nicht hingehen und irgendwen, irgendwas für verantwortlich machen und anschließend zerstären. Wie kann man diese Wut nutzen, um etwas zu verändern? Dann hat/ist Wut eine Botschaft.

  2. Hallo,
    Ihr habt Recht. Wieder einmal suchen die Verantwortlichen einen Sündenbock.
    In Wirklichkeit sind sie es, die dieses rüpelhafte Gesellschaftsklima heraufbeschworen haben. Was sie beispielsweise Beziehern des Arbeitslosengeldes II (ALG II) zumuten, das könnte man meines Erachtens durchaus „Mobbing“ nennen.
    Auch die sogenannte „Sicherheitspolitik“ trägt durchaus Elemente von Kontrolle und Unterdrückung.
    Die Absenkung der Spitzen-Steuersätze zu Lasten der Sozialsysteme, wie sie Franz Segbers gestern abend bei seinem Vortrag in der Reihe Hessen hinten beschrieben hat, trägt durchaus Züge von Gewalt. Richtig deutlich wird die Gewalt staatlicher Politik in Afghanistan, wo die Deutschen sich noch das Feigenblatt der sogenannten „Aufbau-Hilfe“ leisten. Wie lange noch?
    Die „Unterrichtsgarantie (Plemm-Plemm) plus“ der hässlichen Kultmisterin Karin Wolf ist auch nicht gerade ein Ausdruck der Wertschätzung von Lehrpersonal und Schülern.
    Schon das Lehramts-Referendariat drückt die angehenden Lehrkräfte in sinnentleerte Hierarchien hinein. Wer hier nicht funktioniert, wie es von ihm erwartet wird, der erlebt Mobbing oder Aussonderung.
    So etwas überträgt sich dann hinterher in den Unterricht und auf die Schülerinnen und Schüler.
    Nein, die Politik hat allen Grund, sich an die eigene Nase zu fassen. Sie trägt eine Mitverantwortung für die steigende Gewaltbereitschaft in dieser Gesellschaft.
    Dennoch halte ich auch die gewaltverherrlichenden Spiele für problematisch. Und ich will auch nicht akzeptiren, dass das Fernsehen – auch das Öffentlich-Rechtliche – tagein tagaus seine „Unterhaltung“ mit Gewalt aufpeppt. Krimis über Krimis mit Morden im Sixpack herrschen da vor. Erfüllen die Sender so ihren verfassungsmäßigen Bildungs-Auftrag?
    Krimis müsen nicht gewalttätig sein. Ein Unterhaltungsprogramm schon gar nicht!
    Für eine friedliche Gesellschaft brauchen wir friedliebende Menschen.
    Shalom!
    fjha

  3. mona lisa sagt:

    Die Kultusministerin als hässlich zu bezeichnen ist auch nicht gerade ein Ausdruck von Wertschätzung!

    Nützt’s dem Kommentar?

  4. @Mona Lisa: ich stimme dir zu: Die Jugendlichen haben selbstverständlich auch eine Verantwortung. Es ist nur so, dass gerade bei Kindern und Jugendlichen ein gutes Umfeld besonders wichtig ist, denn die müssen die ganzen Mechanismen ja erst lernen.

    Übrigens: Das Hesslich, das Franz-Josef geschrieben hat, ist eine Verballhornung von hessisch, die hier durchaus geläufig ist.

  5. mona lisa sagt:

    Hesslich, wä’r witzig! Aber hässlich meint doch etwas Anderes???

  6. Das Nest sagt:

    also erstmal noch zu den Computerspielen: Die ganze Sache mit dem Verbieten der Computerspiele ist meiner ansicht nach nichts anderes als Vera… viele als besonders gewaltverherrlichend bekannte Spiele sind ja längst verboten worden. andere wurden nach Altersgrenzen abgestuft. Nur: Was nützt das, wenn jeder sie überall kriegen kann? Erschwerend kommt dann noch dazu, daß der Bund die Verantwortung dafür mit der Föderalismusreform aus der Hand gegeben hat. Jetzt kann jedes einzelne Bundesland bestimmen, wo es ein Spiel einstuft oder ob es sich überhaupt damit befaßt. Das ist ein riesenproblem, das den Handel vereinfacht und kaum zu bewältigen ist. Man kann „Killerspiele“ gar nicht umfassend verbieten. Und deshalb veräppeln die POlitiker, die behaupten, daß man das könnte, die Bevölkerung.

    Aber ich bin wie ihr der ansicht, daß das ohnehin nur die Spitze eines Eisbergs ist. Diese Spiele können übermäßige Agressionen nur noch steigern. ansonsten bauen sie halt Agressionen mal ab – und gut ist’s. Egal, was ich nun von diesen Spielen halte, aber gäbe es genug Leute, die wüßen, was die Jugendlichen da spielen und mit ihnen drüber redeten, könnte von diesen Spielen wohl keine Gefahr ausgehen.

    Ich kann Dir, MOnalisa, also zustimmen, wenn Du sagst, daß Gegenstände nicht an etwas Schuld sind, sondern der Umgang der Menschen damit. Ok. Es ist auch einleuchtend, daß nicht immer LehrerInnen und Eltern zur Verantwortung gezogen werden können, sondern daß „zum Teil“ auch die Jugendlichen Verantwortung übernehmen müssen für das, was sie tun. Aber was besagt das, wenn jeder sich nur auf seine Seite stellt, Eltern und Lehrer auf ihre und Jugendliche auf ihre, wenn aber die genauen Verantwortlichkeiten und welche bei wem liegen, nie ausgesprochen werden? ES gibt genug Studien darüber und Aussagen, aber über Schlagworte kommen die Debatten nie hinaus.

    Zum Beispiel muß man sich auf beiden Seiten fragen, denke ich, ob die beteiligten in der Lage sind, ihre Verantwortlichkeiten wahrzunehmen, denn es ist ja durchaus nicht nur immer eine Frage des guten Willens. Ich habe bei mir im Chor drei junge Lehrerinnen in meiner Nähe, mit denen ich mich auch privat ab und an unterhalte. alles sehr engagierte Frauen, aber die Arbeit schlaucht sie, obwohl sie sie lieben. die Klassen sind zu groß, um noch irgend etwas wirklich auffangen zu können, wenn sie bereits in den höheren Klassen anfangen zu unterrichten, dann finden sie oft schon ein hohes Maß an Aggressivität vor, gegen das sie als einzelpersonen ja selbst kaum unbeschadet bestehen können! Wo soll da die Kraft herkommen, die man den SchülerINnen widmen könnte? Grenzen setzten – gut gebrüllt, Löwe! wie, wenn man teilweise angst vor seinen SchülerInnen hat? In Hessen hat man nun mit dem wunderbaren Experiment begonnen, Leute, die irgendwas studiert haben, sagen wir mathe, Sport oder Biologie, wenn auch nicht auf Lehramt, als Vertretungslehrer in Schulen zu schicken, anstatt neue ausgebildete Lehrkräfte einzustellen. Wunderbar: Da kriegen wir arbeitslose Akademiker von der Straße und beruhigen aufgebrachte Eltern, die anmahnen, daß nicht immer ein Lehrer da ist. Daß diese Leute aber unter Umständen noch nie mit Kindern und Jugendlichen zu tun hatten und es vielleicht auch gar nicht wollen, ist egal. Man muß Jobs annehmen, oder zumindest verdammt gut begründen können, wenn man es nicht tut. Das kann nicht der Weg sein. Andere Projekte, wie es sie zum Beispiel an einer Schule in Berlin gibt, finde ich dann wieder gut: da kriegen wirklich engagierte Leute ehrenamtlich die Gelegenheit, in der Schule mit Schülern was zu machen, seien es praktische handwerkliche Sachen im Werkunterricht durch einen ehemaligen Tischler oder Sporttrainings durch ehemalige Fußballtrainer von Lokalmannschaften oder was auch immer man sich da noch vorstellen könnte. Aber das willkürliche Raussuchen irgendwelcher Studierter, um den Lehrernotstand zu beheben, kann einfach keine Lösung sein.

    Aber ich schweife schrecklich ab: LehrerInnen haben also zum Teil Schwierigkeiten, ihre Verantwortlichkeit wahrzunehmen, die von der Politik behoben werden müßten: Kleinere Klassen, gute Fortbildungen und auch stärken der Persönlichkeiten der LehrerInnen durch Supervision, auch mal freizeitliche oder schulische diskussions Angebote für das Personal.

    Und Eltern? Es wird sicher nicht leichter, Berufliches und Kinder unter einen Hut zu bringen, obwohl ich da manchmal denke, viele Schwirigkeiten könnten vermieden werden, wenn das Kinderkriegen bzw. -haben etwas mehr geplant würde. Mir ist dabei egal, welche aufgaben da Vater oder Mutter übernehmen sollen, nur klar sollte es sein, und die Kinder sollten in etwas gesichertes hineingeboren werden.
    Der Fernseher im Kinderzimmer? Ein Psychologe gestern bei einer Sendung im – na? – richtig! Deutschlandfunk nannte das Vernachlässigung. Nach einer Studie hat jedes dritte Kind mit 6 mittlerweile seinen eigenen Fernseher auf dem Zimmer. Uff! Wie können eltern da kontrollieren, was es guckt, es sei denn, das Zimmer hat eine gesonderte Sicherung? Es ist glaub ich kein bloßes Gerede, daß Eltern überfordert sind mit Arbeit und Kindern und auch mit dem, was ihre Kinder erleben und ihnen nicht erzählen oder wobei sie glauben, ihnen nicht helfen zu können. Ich glaube, in meiner Generation zum Beispiel haben nur wenige Gewalterfahrungen in der Schule gemacht, wie sie heute gemacht werden. Da kommt Dein Kind nach Hause,ihm wurde schreckliche Angst gemacht, etwas für das Kind wichtiges zerstört, gestohlen… Ich selber muß oft vor der Roheit dieser Welt total kapitulieren. Ich bin so dünnhäutig, daß ich selber manchmal schreien möchte und nicht weiß wohin damit. Und deshalb – unter anderem – habe ich auch keine Kinder, obwohl mein Fell schon dicker geworden ist. Aber viele eltern dürfte das hilflos machen, und der Ton ihrer Kinder, die Sprache, die sie zum Teil kaum noch verstehen, dürften da ein Übrigges tun. Da ermöglicht der Fernseher schon mal die eigene entspannung. Wem ist da der vorwurf zu machen? Den unzuverlässigen eltern? Den POlitikern, die wirtschaft über alles stellen und Haushalte angeblich fast schon dazu zwingen, daß zwei arbeiten? Ich weiß es nicht. Du schreibst, Monalisa, Deine Kinder sagen: „Das Leben ist kein Wunschkonzert.“ ich wünsche Dir von Herzen, daß sie so bleiben und mit dieser einstellung auch unbeschadet durchs Leben kommen und anderen helfen, ihre Probleme ebenso zu bewältigen. Nur finde ich, daß man sich da nie alzusehr auf die Schulter klopfen sollte. Es gehört glaub ich auch eine gute Portion Glück dazu, wie das Leben weitergeht. Ich habe zu Hause gelernt, mich verbal streitend durchzusetzen, aber was hätte mir das genützt, wenn mir Mitschüler schon eins aufs Maul geben, bevor ich mit dem reden überhaupt anfangn kann? Ich kenne die Erfahrung, jeden MOntag in die Schule zu gehen und angst zu haben, mich am liebsten verstecken zu wollen. Und bei mir war es noch vergleichsweise zahm und friedlich im GEgensatz zu dem, was offensichtlich SchülerINnen heute aushalten und erleben müssen. Ich habe nicht an Amoklauf gedacht, war auch noch zu klein. Und – was das wichtigste ist – ich konnte mit meinen Eltern darüber reden. Sie konnten nicht viel für mich tun, denn für mich gab es als Lösung nur das Internat – aber ich konnte mit ihnen reden! Wie wäre es gewesen, hätte ich niemanden zum reden gehabt, hätte Wut und OHnmacht nur immer in mich reingefressen? Und die nächste Voraussetzung wäre dann gewesen, daß ich die Möglichkeit bekommen hätte, mich zu rächen. Und da sind wir schon bei einem nächsten PUnkt: Ja! Auch jugendliche sind dafür verantwortlich, ob sie eine Waffe benutzen oder nicht, aber wer ist dafür verantwortlich, daß sie an eine gekommen sind? Gedanken daran, jjemandem den Hals umzudrehen oder sonst was gewaltsames anzustellen, hatten und haben wir wohl alle gelegentlich. Ich schrieb erst neulich, daß es mir so ging, als ich über die drei Mörder von Herrmann H. nachdachte. Was bringt also jemanden dazu, es wirklich zu tun?

    Als ich den Abschiedsbrief von Bastian B. gelesen habe, hat der mich total abgeschreckt und abgestoßen, obwohl er von Mobbing in der Schule und dem Verlierer-sein sprach. Ich fand das an den Haaren herbeigezogen. Der Brief zeugte von almachtsphantasien und Menschenverachtung. Da dachte ich mir: Du willst doch etwas mehr wissen! Wirklich beurteilen kann man Situationen ja nie, bei denen man nicht dabei war, aber man kann Spuren folgen. Und das tat ich dann auch, und je mehr ich las, desto mehr bewegt mich die Angelegenheit tief in meinem Innern.

    Im Juni 2004 suchte Bastian HIlfe in einem Beratungsnetz. Und ich verstehe den Brief noch etwas anders als Du, Jens. Er suchte nicht nur Hilfe, weil er gemobbt wurde, sondern weil er schon damals dauernd Gedanken an einen Amoklauf hatte und sich damit *nicht* abfinden wollte. Ihm gefiel das nicht, aber er fand keinen Ausweg. Er bekam dann auch einige mehr oder weniger gute Antworten. Das nächste Mal hörte man dann in diesem Forum im Januar 2006 – also vor 10 Monaten! – von ihm. Er schrieb, er habe sein altes POsting nochmal gelesen und fände es mittlerweile dämlich. außerdem ginge es ihm jetzt besser und er mache die zehnte Klasse. aus anderen Quellen, die Jens glaub ich auch schon irgendwo verlinkt hat, weiß ich, daß er einen film gedreht hat mit dem Thema „Mobbing und Gewalt an Schulen“. So sehr mich sein Abschiedsbrief abstößt, so wenig kann man sagen, daß er nicht versucht hat, die Verantwortung zu übernehmen. Was mag in 10 Monaten passiert sein, daß er auf seinen alten Gedanken zurückgekommen ist? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß das mit der Debatte um Computerspiele nicht zu erklären ist und daß er überfordert war, *obwohl* er die Verantwortung wohl irgendwann einmal hatte übernehmen wollen.

    Ich denke, alle Forderungen nach mehr regeln und mehr Selbstverantwortung nützen gar nichts, solange zu wenig Menschen in der Umwelt dieser Jugendlichen leben, die ihnen das vormachen, die selber glaubwürdig diesen Prinzipien folgen. Diskussionen und Regelwerk müßten dabei nebeneinander stehen. Ich finde zum Beispiel die sog. „Familienkonferenzen“ wirklich gut, in denen über alles geredet werden an, in denen aber auch die REgeln für alle festgelegt werden. Das wäre ein anfang. Aber es fängt meiner ansicht nach trotz aller Selbstverantwortung der Jugendlichen mit ausgeglichenen Erwachsenen an. Und die, ob LehrerInnen oder Eltern, müssen in die Lage versetzt werden, die Verantwortung wahrzunehmen, die durch Kinder bei ihnen liegt – denn die wenigsten, so glaube ich, *wollen* das nicht. Auch Verantwortung übernehmen lernen wir von der Generation vor uns.

    Hat nun Bastian die Verantwortung für seine Tat übernommen? Nein, im eigentlichen Sinne sicher nicht. Er stellt sich nicht Angehörigen und Freunden der verunsicherten, unschuldigen MitschülerINnen und LehrerInnen, er hat sich „davongemacht“. So kann man Selbstmorde sehr oft sehen. Und es ist sicher auch was dran. Aber ich glaube, für jemanden, der zumindest zwischendurch versucht hat, Auswege aus solchen Gedanken zu finden, bedeutet ein solcher Tod auch Kapitulation, bedeutete auch, daß er mit sich, wie er war, nichts mehr anfangen konnte. Sicher, er warf zum Schluß mit Schuldzuweisungen nur noch so um sich, und ich kann kaum eine davon nachvollziehen – aber letztlich glaube ich nicht, daß er sich selbst tötete, um sich vor den Konsequenzen zu drücken, sondern, weil er sich selbst Leid war – genauso wie die Welt. Und so sehr die Medien auch die Monsterspiele verurteilen, um andere Dinge nicht auszusprechen, und so sehr andere fordern: „An die Wand stellen und erschießen, solche JUgendliche“ – das Monster aus dem Abschiedsbrief kann ich nicht mehr finden. Mit der Frage der Ursachen werden sich hoffentlich vor allem die beschäftigen, die ihn wirklich kannten.

  7. Liebe Monalisa,
    Du hast Recht: Das Attribut „hässlich“ zeugt nicht grade von Wertschätzung. Diese Haltung könnte ich Dir lang und breit begründen, denn die Kultusministerin Karin Wolf hat hier in Hessen schon einige Spuren in die Schul- und Bildungslandschaft eingegraben, die von einer eher menschenfeindlichen Haltung zeugen. EinBeispiel dafür ist die sogenannte „Unterrichtsgarantie Plus“ – ich nenne sie nur „Plemm-Plemm Plus“ – mit dem Einsatz von Nichtpädagogen als Lehrer-Ersatz. Ein weiterer Punkt ist die Erhöhung der Stunden-Deputate für Lehrer. Hinzu kommt die Abschaffung des Hessischen Landes-Instituts für Lehrerfortbildung und Pädagogig (HELP). Nun müssen sich Lehrer zwar weiterhin weiterbilden, das aber nachmittags oder in den Ferien tun und aus eigener Tasche bezahlen.
    Da mag mancher meinen: Prima! Die faulen Säcke sollen mal löhnen und stöhnen!
    Ich denke aber, dass Weiterbildung wichtig ist. Und ich denke, dass sie gewisser Bedingungen bedarf. Wenn „Das Nest“ auf Supervision hinwies, dann muss man erwähnen, dass Lehrer auch die aus eigener Tasche in der Freizeit selbst organisieren müsse. So etwas gehörte meines Erachtens zur berufsspezifischen Arbeits-Ausstattung.
    Überforderte Lehrer – auch dank Karin Wolf – und überforderte Eltern – auch dank der Medien-Berieselung – sowie überforderte Schüler, die statt Liebe und Aufmerksamkeit Fernsehen und Computer konsumieren, sind die Zutaten. Die Spiele allein sind es sicherlich nicht.
    Dennoch denke ich, dass diese Spiele nicht verbreitet werden sollten. Und auch das Fernsehen sollte auf Gewalt-Darstellungen zumindestens im Unterhaltungs-Programm verzichten.
    Allerdings fürchte ich, dass gewaltsame Computer-Spiele im Internet auch trotz nationaler Verbote weiterhin dort erreichbar sein werden. Insofern sind die Verbote nicht das Wichtigste.
    Das Vordringlichste wäre für mich ein Klima der Wertschätzung für Kinder, für ihre Eltern und ihre Leherer, das Bedingungen für ein freundliches Miteinander schafft.
    Ich könnte hier Geschichten aus dem Schul-Alltag berichten, die das genaue Gegenteil vermitteln müssten. Ich erspare mir und Euch aber lieber die Details, denn sonst säße ich noch eine Stunde hier und Ihr eine halbe weitere. Nur so viel: Lehrer, die etwas unternehmen, werden bestenfalls von der Schul-Leitung und ihren Kollegen hängengelassen und schlimmstenfalls noch mit zusätzlicher Arbeit belegt oder ausgelacht!
    „Non Scholae, sed Vitae discemur“, sagt ein altbekannter lateinischer Spruch. Da könnte man nun antworten, dass das heutige Leben halt so gewaltträchtig ist, dass die Kinder sich darauf am besten schon in der Schule vorbereiten sollten. Ich aber sage: Wenn schon die Schule so viel Gewalt in die Kinder hineindrückt, sie zu „funktionierenden“ Leistungs-Automaten drillt und ihnen Menschlichkeit und Liebe vorenthält, dann muss man sich nicht wundern, dass die Politik diese neoliberale Idiotie so gnadenlos durchsetzen kann!
    Ich schreibe scharfe Worte, damit Ihr Euch daran reibt. Denn ohne Reibung gibt es keine Wärme.
    In diesem Sinne alles Gute – vor allem für unsere nachwachsende Generation
    fjh

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