Trauermonat November – persönliche Gedanken

Mit ihrer Aktion Blog mir was im November hat Claudia, die ja auch zu den geschätzten Leserinnen dieses Blogs gehört, mich dazu gebracht, über meinen Trauermonat November zu berichten, denn sie möchte gerne, dass man ihr etwas schreibt zum Thema: „Was ich dir noch sagen wollte“. Dieser Beitrag hier ist aber ausdrücklich nicht als Teilnahme an der Aktion gedacht, wurde nur durch sie inspiriert.

Als ich klein war, fühlte ich mich sehr wohl in meiner beschaulichen Umgebung, der wundervollen Familie, dem Kreis der Nachbarn und Freunde. Mein Vater und mein Bruder wurden krank, sie arbeiteten alle sehr viel, manchmal 16 Stunden am Tag, und auch Sonntags, aber wir waren irgendwie glücklich und zufrieden. Dann musste ich in die Schule, und all die Dinge, die unter der Käseglocke meiner Familie von mir fern gehalten worden waren, brachen über mich herein: Hänselnde Kinder, sagen wir altmodische Erzieher, Unverständnis gegenüber Schwäche und Unsicherheit. Ich musste ins Internat und kam nur zum Wochenende nach hause, und die Familie wurde für mich immer wichtiger. Meine Schwester heiratete und bekam zwei Kinder, das dritte sollte bald folgen, und alles ging seinen gewohnten Gang. Mein Bruder hatte eine Freundin, wurde Vater und bald darauf ein zweites mal. Ich wurde 15, und ich verließ die Schule in Düren und kam nach Marburg an die Blindenstudienanstalt. Nun kam ich nur noch alle 4 Wochen nach hause, für zwei Tage, und natürlich in den Ferien. Und als ob das Schicksal nur darauf gewartet hätte, begann es, mit unglaublicher Härte auf unsere Familie einzudreschen.

Am 1. Dezember 1984, einen Tag vor dem 1. Advent, fiel mein Neffe, der älteste Sohn meines Bruders, im alter von Knapp drei Jahren in ein nicht richtig abgesichertes Schwimmbecken hinter dem Haus, dass sich aufgrund der heftigen Regenfälle mit Wasser gefüllt hatte. Mein Bruder konnte seinen Sohn herausholen, aber er starb an Unterkühlung. Seither ist für mich Weihnachten und Advent nie wieder, was es in meinen Kindertagen gewesen war.

Etwas mehr als ein Jahr später, im Januar 1986, wurde das dritte Kind meines Bruders mit einer versagenden Lunge geboren und starb nach 5 Tagen.

Zwei Jahre später verstarb meine Oma nach einem Schlaganfall.

11 Monate später, im Januar 1989, machte meinem Vater sein Herz schwer zuschaffen. Er hatte die Probleme seit 11 Jahren, war ständig in ärztlicher Behandlung und hatte zwei Infarkte hinter sich. Er entschloss sich, lieber ins Krankenhaus zu gehen, als tatenlos abzuwarten. Er wurde auf neue Medikamente umgestellt, sein Zustand verbesserte sich zusehens, er fühlte sich so wohl, wie seit 10 Jahren nicht mehr. Am frühen Morgen des 15. Januar, an dem Tag, als meine Weihnachtsferien endeten, hörte ich im Halbschlaf, wie meine Mutter in mein Zimmer kam. Ich dachte, es würde jetzt Frühstück geben, wie es in einer Idylle nun einmal ist, bis sie sich auf mein Bett warf und mir sagte, dass mein Vater überraschend gestorben sei. Ich konnte in diesem Augenblick nicht einmal weinen, und seither kann ich es kaum noch. Der Schock, so aus dem Schlaf gerissen worden zu sein, sitzt bei mir heute noch tief. Ich wurde schlechter in der Schule, fehlte häufig, wurde richtig depressiv, fraß meine Trauer in mich hinein und wurde von kaum jemandem verstanden.

Zwei Wochen später heiratete mein Bruder seine langjährige Freundin, und wieder vier Wochen später wurde seine jüngste Tochter geboren.

Nach dem Tode meines Vaters zeigte sich, wie zerrissen unsere Familie in Wirklichkeit war. Immer mehr taten sich Risse zwischen meiner Mutter und meiner Schwester auf, die 11 Jahre älter ist als ich, und die mir die Allerliebste in unserer Familie war. Der Streit kam aber nicht offen zum ausbruch.

Zwei Jahre vergingen, bis mir mein Bruder im sommer 1991 mitteilte, dass er binnen eines Jahres an Lungenkrebs sterben würde. Er wollte nicht, dass ich es anderen aus der Familie mitteilte, ich konnte es aber nicht lange für mich behalten. Wir konnten nichts tun. Am Abend des 31.03.1992 fuhr ich nach Solingen und war dabei, als er in der Nacht zum 1. April 1992 starb. Wieder Depressionen, Telefonsucht, Studienabbruch…

Der Streit zwischen meiner Schwester und unserer Mutter vertiefte sich, ich konnte ihn nicht ganz nachvollziehen, doch je mehr ich mitbekam, desto mehr musste ich unserer Mutter recht geben. Ich versuchte zu vermitteln, vergebens.

Dann geschah das größte Glück meines Lebens, ich traf meine Liebste Bianca wieder, das heißt, wir kannten uns schon sieben Jahre, waren sogar schon mal eine kurze Zeit zusammen gewesen, aber jetzt kamen wir uns wieder näher, und seit ddem 30.08.1993 sind wir zusammen, und ohne ihre Hilfe hätte ich das Folgende auch nicht überstanden. zeitgleich kam die Erkenntnis, dass es nichts brachte, ständig depressiv herumzusitzen und sein Leben zu verschenken. Es kam mir plötzlich in den Sinn, und es hatte eine ungeheure Wirkung. Ich habe es nie wieder vergessen, auch wenn es meine Probleme nicht sofort löste. Aber ich befreite mich langsam aus dieser lang anhaltenden Depression und auch von der Telefonsucht, die sehr teuer gewesen war.

Im Herbst 1997 wurde meine Mutter schwer krank. Vermutlich hatte sie einen leichten Schlaganfall, und sie hatte erheblich zu wenig Sauerstoff im Blut. Am 1. März 1999 wäre sie beinahe gestorben, weil sie in ihrer Wohnung auf dem Weg zum Arzt zusammenbrach und nur noch schnell uns in Marburg anrief. Wir mussten von Marburg aus einen Krankenwagen bestellen und hielten meine Mutter am Telefon. Sie schaffte es, die Türe zu öffnen, und so überlebte sie. Sie kam ins Krankenhaus und wurde halbwegs wiederhergestellt. Das Gehen fiel ihr schwer und schwerer. Ein Jahr später, im Februar 2000, ging sie freiwillig wieder ins Krankenhaus, weil es noch schlimmer geworden war. Sie blieb sechs Wochen, sie hatte unterschiedliche Gebrechen, und kam im Rollstuhl zurück. Wir hatten Pflegestufe 1 beantragt. Und während dieses Krankenhausaufenthaltes war sie verwirrt, und meine Schwester versuchte, sie hinter meinem Rücken und gegen ihren Willen ins Altersheim einzuweisen. Wir erfuhren durch Zufall davon, verhinderten es, und der Kontakt zu meiner Schwester ging verloren.

Als meine Mutter mit Rollstuhl wieder zu hause war, bemühte sie sich, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Unglaublicher Wille und ungebrochene Zuversicht schafften es, ihr dabei zu helfen. Sie schaffte es, ihre Gehfähigkeit wieder zu erhöhen, so dass sie nach einem halben Jahr keinen Rollstuhl mehr brauchte und sich ständig besser fühlte. Ihre Erholung nach drei Jahren Krankheit war für meine Liebste und mich ein beständiger Grund zur Freude. Sie war, was von meiner Familie übrig geblieben war, und sie war ein so herzlicher Mensch, dass sie jeden aufnahm, der Hilfe brauchte. Meine Nichte, die jüngste Tochter meiner Schwester, wohnte bei ihr, als meine Schwester nicht mehr mit ihr klar kam.

Am 25.08.2002 fing ich hier im Lokalradio an, bei der Informationssendung für Blinde und Sehbehinderte, Frequenzfieber, mitzumoderieren.

Am abend des 22. November 2002 telefonierte ich mit meiner Mutter, die sehr erkältet war und meinte, sie könne nachts kaum schlafen, tagsüber gehe es aber besser. Ich riet ihr, zum Arzt zu gehen oder, wenn sie das nicht schaffe, einen Arzt kommen zu lassen. Sie versprach es. Sie tat es am Abend des 23. November, eines Samstags. Der Arzt gab ihr eine Spritze, vermutlich Kortison, gegen die akkuten Beschwerden und blieb eine viertel Stunde bei ihr. Dann verabschiedete er sich. Meine Nichte ging wenige Minuten später zu bett. Sie war durch zwei Türen von meiner Mutter getrennt, die kurz danach aufstand, um ebenfalls schlafen zu gehen. Sie kam nur einen Schritt weit und brach dann zusammen. Ich hoffe, sie war sofort tot. So fand sie meine Nichte am folgenden Morgen, dem 24. November 2002.

An diesem 24. November hatte ich Radioarbeit zu leisten. Von 10 bis 12 Uhr fand im Studio des Lokalfunks Frequenzfieber statt. Um 11:52 Uhr, kurz vor Schluss einer überaus lustigen, inspirierten und spannenden Sendung, bei der wir toter Musiker wie Melanie Thornton und Freddie Mercury gedachten, erreichte uns ein Anruf eines Freundes von mir, der uns mitteilte, wir sollten dringend bei Bianca’s Mutter anrufen. Wir befürchteten, es sei etwas mit Bianca’s Opa, der zu diesem Zeitpunkt schon schwer krank war und wenig später verstarb. Wir hatten kein Handy, und das Studio war von der Nachfolgesendung besetzt. Unser Nachrichtenmann lieh uns sein Handy, und von Biancas Mutter erfuhren wir die Wahrheit. Auch diesmal konnte ich nicht trauern. Und als ich nach hause kam, sagte meine Schwester nicht guten Tag, sondern beschimpfte mich. In dieser Woche, wo meine Schwester, die den Tod unserer Mutter nicht bedauerte, anwesend war, konnten wir nicht trauern. Ich verfiel wieder in Depression, zumal meine Liebste eine Ausbildung in Düren und Mainz begonnen hatte und nur an den Wochenenden nach hause kam. auch sie war dort einigem ausgesetzt, und so hatten wir alle unsere Probleme. Meine depressive Phase hielt ein Jahr an, bis ich erfuhr, dass in Hessen das Blindengeld massiv gekürzt werden sollte. Ich hatte schon vorher in der Vereinsarbeit im Behindertenbereich mitgewirkt, riss mich zusammen und kämpfte mit. Wir hatten einen gewissen Erfolg, die Kürzung viel nicht so stark aus wie befürchtet.

Seither habe ich praktisch keine Familie mehr. Wenn ich noch etwas hätte sagen wollen, dann wäre es ein herzliches und inniges Danke für eine behütete Kindheit, für Warmherzigkeit und Menschenliebe gewesen, für Offenheit und das Gefühl, für alles irgendeine Lösung zu haben. Das habe ich bei meinen Eltern immer bewundert.

Obwohl sich das alles schwarz anhören mag, gibt es doch immer wieder auch in dieser Beziehung schöne Ereignisse. Ich habe nach vier Jahren meine jüngste Nichte wieder gefunden, die am Ende bei meiner Mutter gelebt hat. Wir hatten uns aus den Augen verloren, aber sie meldete sich in diesem Sommer plötzlich bei mir. Und ein kleines Stück Familie kehrte zurück. Dafür bin ich dankbar!

Heut weiß ich, dass meine Trauer vermutlich so lange und intensiv ist, weil ich sie nicht ausleben kann seit dem Tode meines Vaters. Ich trauere in mich hinein und durch Gesten. Es dauert lange, bis ich mich wieder erhole, und ganz abgeschlossen ist das immer noch nicht. Ich trauere durch Musik, durch schreiben und darüber reden. Aber im Gegensatz zu früher hat meine Trauer nichts zerstörerisches mehr an sich. ich liebe mein Leben, ich bin ein zufriedener und glücklicher Mensch. Aber manchmal muss es einfach raus, wie jetzt in diesem durch Claudia inspirierten Eintrag.

Copyright 2006, Jens Bertrams.


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Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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6 Antworten zu Trauermonat November – persönliche Gedanken

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  2. Liisa sagt:

    Bewegend und erschütternd – ich wünsche Dir die nötige Kraft für Dein Leben und daß Du ein Gleichgewicht zwischen Trauer und Lebensfreude findest.

  3. Danke euch für eure Wünsche und Beiträge.

  4. Fabian Schwarz sagt:

    Ein echt persönlicher und mutiger Beitrag! Deine tiefe Erschütterung über den Verlust der Familie, so warmherzig, wie Du sie in der Kindheit erleben durftest, wird für mich sehr deutlich. Und dass tut mir leid. Andererseits finde ich es schön, dass Du mit der Kontaktaufnahme durch Deine Nichte wieder ein Stück Familie zurück gewonnen hast. Ich wünsche Dir für das kommende Jahr, dass Du mehr solche ermutigenden Wendungen im Leben erfahren kannst!

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  6. Tanja Höhmann sagt:

    Nun ich bin die Nichte, an dem heutigen Tage vor 4Jahren ist es passiert und ehrlich gesagt dur das lesen und wieder erleben dieser Geschichten geht es mir besser, da ich weiß das mein Onkel auch der einzige ist der mir das Stück Familie ist was ich brauche.Er ist genau wie Oma(seine Mutter), er hat für alles eine Lösung und steht jedem mit Rat und Tat zur Seite , ich bin Stolz auf ihn und auch auf Bianca mit ihrer fabelhaften Holly,auch wenn sie jetzt Taub ist bleibt sie mein Staubsauger 🙂
    viele Liebe Grüße Tanja

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