Wer zu spät kommt …

Vor einigen Wochen habe ich einen Ohrfunk-Kommentar über die Erinnerung an den 40. Jahrestag der DDR-Gründung vor 20 Jahren geschrieben. Aber da habe ich längst nicht alles unterbringen können und dürfen, was ich aus meiner persönlichen Erinnerung dazu zu sagen gehabt hätte. Das hole ich jetzt hier nach.

Es war ein Freitagnachmittag, ich ging in die 12. Klasse. Eines meiner Leistungsfächer war Gemeinschaftskunde. Unser Lehrer war ein erklärter Linker, er nutzte auch hin und wieder die Sendung „Der schwarze Kanal“, eine antiwestliche Propagandasendung des DDR-Fernsehens, als Schulungsmaterial. Ich beurteile das gar nicht negativ, so erhielten wir einen recht umfangreichen Überblick über politische und gesellschaftliche Ereignisse. Natürlich war die Fluchtbewegung in der DDR ein wichtiges Thema für mich, und natürlich gingen die ersten Demonstrationen im deutschen Arbeiter- und Bauernparadies nicht an mir vorbei. In Polen hatte es revolutionäre Veränderungen gegeben, ein Oppositioneller, ein Mitglied der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc, war Ministerpräsident geworden. Und Michail Gorbatschow, eines meiner damaligen politischen Vorbilder, gestand jedem sozialistischen Staat die Souveränität in seinen inneren Angelegenheiten zu. Ausgerechnet darauf berief sich auch die DDR, die ihren stalinistischen Kurs fortsetzen und ansonsten nichts vom großen Bruder Sowjetunion übernehmen wollte, weder die Offenheit, auch Glasnost genannt, noch die Umgestaltung, die als Perestroika bekannt wurde.

Es war, wie gesagt, ein Freitagnachmittag Anfang Oktober 1989, als ich nach der Schule mit einem guten Freund zusammen den Rundfunksender „Stimme der DDR“ einschaltete. Denn die DDR beging den 40. Jahrestag ihrer Gründung. Zum Einen war ich ganz persönlich neugierig, wie diese offizielle Festveranstaltung verlaufen würde, ja wie ein auf Pomp und Protokoll wertlegender sozialistischer Staat ein solches Ereignis beging, zum Anderen war ich der Meinung, dass diese Veranstaltung ein guter Zeitpunkt wäre, Neuerungen und einen langsamen Kurswechsel anzukündigen. Natürlich musste die Führung nach ihrem eigenen Selbstverständnis ihr Gesicht wahren, natürlich musste man Veränderungen zunächst nur in kleinem Maßstab einleiten, aber ein solcher Festtag bot sich nach Meiner Ansicht durchaus an. Politbüro und Zentralkomitee hatten in den letzten Wochen zur Fluchtwelle und zur Bildung der Oppositionsbewegungen geschwiegen. Von der Regierung und der Volkskammer hatte ich ohnehin nichts anderes erwartet, auf diese Organe achtete niemand. Jetzt aber, so glaubte ich, nach der Ausreise von tausenden über die ungarische Grenze und die BRD-Botschaften in Warschau und Prag, konnte niemand mehr übersehen, dass Reformen notwendig waren.

Und so saß ich denn an meinem Rundfunkempfänger und Hörte „Stimme der DDR“. Es war, glaube ich, 16 Uhr, als der Vorsitzende des Nationalrates der Nationalen Front, also des Zusammenschlusses der Parteien in der DDR, die 4000 geladenen Gäste begrüßte. Dann gab er das Wort an den „ersten Sekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, den Vorsitzenden des Staatsrates und des nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik, genossen Erich Honecker“ für seine Festansprache. Genau darauf hatte ich mit Spannung gewartet. Ich war davon überzeugt, dass jetzt und hier ein historischer Moment bevorstand. Entweder, Honecker kündigte Reformen an, oder er beharrte auf seinem Starrsinn. Die Festrede war denn auch sehr interessant. Ich glaube, mittlerweile bin ich relativ geübt darin, offizielle Pressemitteilungen bei Gipfeltreffen oder ähnliche politische Dokumente zu lesen, zwischen den Zeilen die wirklichen Erfolge oder Misserfolge zu erkennen oder doch zumindest zu erahnen. Aber damals habe ich erst angefangen, auf solche Feinheiten zu achten. So hörte ich an diesem Oktobertag von Honecker, dass die Entwicklung in einer modernen sozialistischen Gesellschaft ja nicht stehen bleibe, dass man immer voneinander lernen könne. Gleichzeitig sollte aber die sozialistische Gesellschaft „in den Farben der DDR“ weiterentwickelt werden, und die „zügellose Verleumdungscampagne“ westlicher Medien hätte auf die Entwicklung in der DDR keinerlei Einfluss. Ich nahm für eine halbe Stunde an, der alte „Honni“, wie Udo Lindenberg ihn genannt hatte, deute vorsichtig an, dass man in der DDR in eigener Geschwindigkeit Reformen einleiten würde. Aus heutiger Sicht muss man die Worte des greisen und sturen Mannes in Ostberlin natürlich ganz anders lesen. Die DDR würde sich aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen entwickeln und sich nicht länger von Moskau vorschreiben lassen, wie das vor sich zu gehen habe. Insgeheim waren schwere Auseinandersetzungen vorprogrammiert, die dann auch am nächsten Tag stattfanden, aber ohne von mir wahrgenommen zu werden. Denn Honecker konnte seine Argumente aus seiner Sicht durchaus untermauern. Der Lebensstandard in der DDR war bei aller Kritik höher als in allen anderen sozialistischen Staaten. Brot und Wurst sei nicht alles, hielt ihm in kleinem Kreise Michail Gorbatschow vor, doch Honecker konterte, dass er bei seinem jüngsten Besuch in der Sowjetunion oft nicht einmal Seife, Salz und Mehl in den Regalen gefunden habe.

Als Honecker geendet hatte, sprach der „erste Sekretär des Zentralkomitees der kommunistischen Partei der Sowjetunion und Vorsitzende des obersten Sowjets der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, Genosse Michail Sergejewitsch Gorbatschow“. Ich war, ehrlich gesagt, von dieser Rede enttäuscht. Kein Aufruf zu schnellen Reformen, vielmehr zum einen eine Beschreibung aus der Sowjetunion, zum Anderen eine Würdigung der Leistungen der DDR in den letzten 40 Jahren und die Hoffnung, dass der Sozialismus in der DDR die schweren Zeiten überstehen und sich als tragfähig erweisen würde. Minutenlanger Beifall, Absingen der Internationalen, Schluss.

Anschließend saßen wir da, mein Freund und ich, und fragten uns, was denn nun geschehen war. Nichts, stellten wir fest. Nettigkeiten waren ausgetauscht worden, Konfrontation wurde vermieden, die Probleme nicht beim Namen genannt. Erst 5 Tage später, nach gewaltsamen Festnahmen und Misshandlungen, nach der kraftvollen Montagsdemonstration in Leipzig, nach den ersten Gesprächen von SED-Funktionären mit sich herausbildenden oppositionellen Gruppierungen, erst da veröffentlichte das Politbüro erstmals eine hölzerne und nichtssagende Erklärung zur Fluchtwelle. Zu spät, zu kraftlos, zu schwammig. Die Trägheit des Systems mit Honecker wurde erkennbar.

Meiner Meinung nach wollte Honecker die Öffnung seiner Politik ganz ganz langsam vollziehen, und er wollte offenbar wieder anhalten, sobald ein Punkt erreicht war, der den Druck minderte, der auf der Führung lastete. Ich glaubte seinerzeit zwar, dass es noch eine Weile Proteste in der DDR geben würde, aber ich fürchtete, dass die SED-Führung im Notfall die chinesische Lösung durchziehen und Demonstrationen gewaltsam auflösen und möglicherweise militärisch niederschlagen würde. Davor hatte ich eine gewisse Angst, denn in Deutschland barg ein solches Vorgehen immer noch eine allgemeine Kriegsgefahr. Und Egon Krenz, der politische Ziehsohn Honeckers, hatte das Vorgehen der Chinesen noch vor wenigen Tagen öffentlich gelobt. Dass Honecker seinen Posten räumen und einer reformorientierten Gruppe die Führung von Staat und Partei überlassen würde, das glaubte ich nicht. An eine Öffnung der Mauer und eine deutsche Wiedervereinigung verschwendete ich keinen Gedanken, nicht bis zum späten Abend des 9. November 1989. Anders übrigens als unser Gemeinschaftskundelehrer, der wenige Tage nach dem 40. Jahrestag der DDR-Gründung in kleinem Kreise sagte, dass er glaube, dass sich die DDR-Führung nicht mehr lange halten könne.

Die Festveranstaltung am 6. Oktober 1989 ist mir irgendwie als gespenstisch, abgehoben und inszeniert im Gedächtnis geblieben. Sie war nichtssagend angesichts der ungeheuerlichen Dinge, die sich außerhalb des Festsaales vollzogen, nur wenige hundert Meter entfernt. Ich wusste nun, wie solche Veranstaltungen vor sich gingen, aber ich hätte dran bleiben und den Fackelzug der FDJ mitnehmen sollen. Die Rufe „Gorbi, Gorbi“ und „Gorbi, hilf uns“ hätte ich vielleicht im DDR-Rundfunk nicht so laut gehört, aber ich glaube, dass diese Veranstaltung der Realität trotz allem näher gewesen wäre.

Hätte man mich damals nach den Chancen für den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung gefragt, hätte ich sie als sehr gering für die nächsten 10 bis 15 Jahre eingeschätzt.

Am nächsten Tag bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Politbüro sagte Michail Gorbatschow diesen Satz: „Ich glaube, Gefahren warten nur auf Jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ Immer wieder hatte er diese Erkenntnis den Genossen in Ostberlin ins Stammbuch geschrieben. Ich weiß gar nicht, wann ich ihn das erste Mal hörte. Aber seit dieser Veranstaltung stand er im Raum. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, wurde er später in einer, wie sagte es der Spiegel, „schnittigeren Version“ verbreitet. Das Leben kam zu spät. Sowohl für den Genossen Honecker, als auch sogar für den Genossen Gorbatschow.

© 2009, Jens Bertrams

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter erlebte Geschichte, Leben, Politik veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar