Von pompösen Gesten, feigen Menschen und Meinungsfreiheitseinschränkungen

Meine Liebste hat mein Blog gelesen und dann zwei oder drei Dinge gesagt, die mich zuerst wütend machten, dann aufwühlten und mich schließlich zum Nachdenken anregten.

Es ging um meine Analyse zur Meinungsfreiheit vor dem Naziaufmarsch am 13. Februar in Dresden und zur Behandlung des antifaschistischen Bündnisses Dresden Nazifrei. Ich schrieb in diesem Beitrag unter Anderem:
Ich weiß, dass ich „persönlich, aber das ist eben nur meine Meinung, nichts gegen ein Sonderrecht für Nazis hätte, ein Recht, dass ihnen zwar die
Meinungsfreiheit belässt, ihren Organisationen aber die Tätigkeit verbietet. Denn bei Neonazis kann man nun einmal davon
ausgehen, dass sie sich gegen die bestehende verfassungsmäßige Ordnung richten. Und jetzt kommt das paradoxe: Obwohl dies
meine Meinung ist, würde ich jederzeit als Demokrat für das Versammlungs- und Demonstrationsrecht aller Menschen eintreten,
solange diese Demonstrationen nicht mit Gewalt verbunden sind. Oder um es mit Voltaire zu sagen: “Ich mag Ihre Ansicht nicht,
aber ich würde mich jederzeit mit meinem Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.”“

Meine Liebste fragte mich nun in aufgebrachter Weise, warum ich so pompös schreibe, und zwar etwas, was ich bei genauem Hinsehen niemals tun würde. Oder würde ich wirklich mit meinem Leben für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit der Nazis eintreten? Oder würde ich nur die große Geste und das pompöse Wort lieben? Und als ob das noch nicht genug gewesen wäre, fragte sie mich, ob ich denn am 13. Februar selbst nach Dresden ginge, und auf welcher Seite, wenn ich mich schon mit meinem Leben einsetzen wolle.

Zunächst einmal war ich nur sauer. Sie musste schließlich wissen, dass ich mich für die Meinungsfreiheit Anderer einsetze. Sie erinnerte mich daran, dass ich aber auch schon erbittert gegen die Meinung anderer gekämpft habe, gegen Scientologen, Kinderschänder, Islamisten. Wo sind also die Grenzen der Meinungsfreiheit zu suchen, und würde ich wirklich „mit meinem Leben“, wie Voltaire es sagte, für die Meinungsfreiheit auch meiner politischen Gegner einstehen? Wie würde ich mich verhalten, wenn tatsächlich Diktatur herrschen würde? Und hatte ich nicht selbst in demselben Zitat aus meiner Analyse gefordert, dass es Nazis verboten sein sollte, ihre Meinung frei zu verbreiten?

Das Erste, aber gleichzeitig auch das Schmerzhafteste, was ich erkannte, als ich mich länger mit der Thematik befasste war, dass man schnell mit großen Worten um sich wirft, und dass auch ich das tue. Große Worte, die einen Standpunkt zwar klar machen sollen, die aber nicht wörtlich gemeint sind, allein schon, weil man vorher nicht weiß, wie man sich in einer entsprechenden Situation voller Angst und Druck verhalten würde. Wenn ich Voltaire zitiere, dann will ich damit den Stellenwert ausdrücken, den die Meinungsfreiheit hat. Denn ohne sie kann eine Demokratie nicht funktionieren. Aber man stelle sich eine Diktatur vor, die gegen Menschenverachtung in jeder Form, gegen soziale Ungerechtigkeit, gegen Religionshass vorgeht, aber die Bürger eben nicht an ihren Entscheidungsprozessen beteiligt und ihre Maßnahmen mit Gewalt durchsetzt. Würde ich mich dann für die verfolgten Nazis, Kinderschänder, Islamisten und Bankmanager einsetzen, um mal wahllos einige herauszugreifen? Würde ich sie bei mir verstecken und sie mit meinem Leben verteidigen, obwohl sie zu meinen Gegnern gehören? Ich hoffe ja, weil es in der Theorie zumindest jeden treffen kann, der in Ungnade fällt, und weil es menschlich ist, Bedrohten zu helfen. Aber würde ich mein Leben einsetzen für meine Feinde? Wäre ich nicht in bestimmten Punkten sogar mit bestimmten Maßnahmen einverstanden? Die Erkenntnis, dass sich jeder zunächst einmal selbst der Nächste ist, mag manchmal hart sein, sie ist aber nichts desto trotz wahr. Nicht jeder sieht Repressalien, Verfolgung und Tod gelassen ins Auge und bleibt dabei, seine Überzeugungen offen zu vertreten. Ich glaube nicht, dass ich so stark wäre, wenn der Druck einer Diktatur auf mir lastete. Also würde ich meine Feinde wohl nicht mit meinem Leben verteidigen. Und in einer Demokratie? Würde ich nach Dresden fahren, um die Nazis dabei zu unterstützen, ihre Versammlung trotz des antifaschistischen Bündnisses abhalten zu können? Nein, auf keinen Fall. Und würde ich nach Dresden fahren, um mich an der Demonstration des antifaschistischen Bündnisses gegen den Naziaufmarsch zu beteiligen? Unter bestimmten Voraussetzungen hätte ich es vermutlich getan: Ich hätte ein Blockadetraining absolvieren müssen, denn es handelt sich ja eben nicht um eine einfache Demo, sondern um eine Blockade. Ich hätte in meinem persönlichen Fall eine Assistenz gebraucht in dieser Menschenmenge, und mein körperlicher Zustand hätte besser sein müssen. Vielleicht hätte ich es dann getan. Ich bin 1993 nach dem Brandanschlag in meine Heimatstadt Solingen gefahren. Ich hatte zwar keine direkte Angst um mein Leben, aber ich wusste, dass es unruhig in der Stadt war. Wir sind auch in Krawalle hineingeraten und ich hatte nicht zu unterschätzende Angst. Aber wenn Gefahr droht, bin ich nicht der Erste, der sich hineinstürzt.

So bin ich wohl zu einer Korrektur gezwungen: Die Meinungsfreiheit aller, auch der Andersdenkenden, ist ein hohes Rechtsgut in einer Demokratie, und ich bin der Ansicht, dass es sehr schützenswert ist. Und ich würde meine Kraft soweit es mir möglich ist dafür einsetzen, dass es geschützt wird.

Allerdings fürchte ich, dass ich nicht am Ende meiner Korrekturen bin. Denn hat nicht auch die Meinungsfreiheit Grenzen? Ist Freiheit wirklich immer auch die Freiheit der Andersdenkenden, wie es Rosa Luxemburg weise sagte? So gut ich diesen Satz finde, kann ich wirklich nach ihm leben? Ich kann ihn gut finden, ich kann ihn zu einem Leitmotiv machen, aber auch er hat Grenzen, oder?

Was wäre mit einer Gruppe, die öffentlich die Meinung vertritt, dass Afrikaner unzivilisierte Untermenschen seien, wie man am Zustand Liberias und Somalias beispielsweise feststelle. Wohl gemerkt eine Gruppe, die nichts weiter tut, als diese Aussagen öffentlich in allen Medien zu verbreiten. Zugegeben: In diesem speziellen Falle gibt es Gesetze zur Einschränkung, denn auch Meinungen dürfen sich nicht gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, und sie können dort ihre Schranken finden, wo die Rechte Anderer unzumutbar eingeschränkt werden. Also nehmen wir das hässliche Beispiel, das meine Liebste erwähnte. Man stelle sich eine Gruppe von Menschen vor, die öffentlich die Meinung verbreitet, dass alte Menschen, die der Gesellschaft nicht mehr nützten, freiwillig aus dem Leben scheiden sollten, gewissermaßen als letzter Dienst an der nachfolgenden Generation. Gerade in Krisenzeiten. Widerum wohl gemerkt: Diese Leute würden nicht mehr tun, ausdrücklich nicht mehr tun, als ihre Meinung in den Medien, durch Druckschriften und Demonstrationen zu verbreiten. Vielleicht würden sich ältere Verwandte dieser Menschen selbst umbringen, unter dem Druck der in ihrer Gegenwart oft geäußerten Ansichten zum Beispiel. Aber es war und blieb nur eine Meinungsäußerung. Würde ich auch dann, so fragte mich meine Liebste, immer noch sagen: „Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden“? Oder wenn Orthodoxe Muslime und linke deutsche Politiker offen für ein Verschleierungsgebot für muslimische Frauen eintreten würden? Natürlich aus Respekt für kulturelle Unterschiede und andere Religionen, aus Freiheitsgründen also. Würde für mich dann der zitierte Satz auch noch gelten?

Wie alle Rechte, so hat auch das Recht der freien Meinungsäußerung Schranken. Man muss, finde ich, damit sehr vorsichtig umgehen, weil man sonst politisch missliebige Meinungen schnell mal eben mundtot macht. Aber es muss auch hier Schranken geben. Da nämlich, wo diese Meinungsfreiheit dazu führt, dass andere Menschen in einem Recht behindert werden, das noch schwerer wiegt, und das ist das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die allgemeine persönliche Freiheit. Grundsätzlich muss gelten: Wo Rechte dazu genutzt werden, die Rechte Anderer zu behindern, kann man sich nicht in vollem Umfang auf sie berufen oder sie einfordern. Ich weiß, dass das Bundesverfassungsgericht schon einige solcher Abwägungen getroffen hat. Die Meinungsfreiheit ist nur eines der Rechte unseres Grundrechtskatalogs. Es ist ein sehr wichtiges Recht, aber es kann nur im Zusammenspiel mit Anderen funktionieren. Und wer die Menschenrechte dazu benutzt, anderen die Rechte einzuschränken, der verwirkt sie. Wenn der Sprecher des antifaschistischen Bündnisses in Dresden sagt, dass die Naziideologie keine politische Meinung sondern ein Verbrechen ist, dann hat er nach meiner Auffassung recht. Also müsste man folgerichtig die Meinungsäußerungen der Neonazis verhindern können. Es fehlen aber dazu höchstrichterliche Entscheidungen.

Also noch einmal: Die Meinungsfreiheit aller, auch der Andersdenkenden, ist ein hohes Rechtsgut in einer Demokratie, und ich bin der Ansicht, dass es sehr schützenswert ist. Und ich würde meine Kraft soweit es mir möglich ist dafür einsetzen, dass es geschützt wird. Natürlich gilt dies nur so lange, wie durch den Schutz dieses Rechtsgutes oder durch die Meinungsäußerung selbst nicht die Rechte anderer Menschen in unzumutbarer Weise verletzt oder eingeschränkt werden.

So weit, so gut. Hört sich völlig anders an, als der markige Satz Voltaires, nicht wahr? Ich glaube, dass es Menschen gibt, die Voltaires Satz mit Recht im Munde führen, aber eines habe ich heute gelernt: Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich bin feige genug, Angst vor Repressalien, Schlägereien und Krawallen zu haben, ich wäre in ihren Freiheiten bedrohten Menschen vermutlich nur selten eine Hilfe. Tja, und ich bin ein wenig eine Art pompöser Wichtigtuer, der von seinem sicheren Schreibtisch aus Sprüche wie von Schiller, Goethe oder eben Voltaire absondert, solange er selbst nicht an ihnen gemessen wird.

Eins weiß ich: Ich werde künftig etwas genauer auf das achten, was ich so pompös und markig vor mich hin schreibe. Es ist nämlich den Opfern von Gewaltmaßnahmen und allen aufrechten Menschen nicht zuzumuten, dass ich, der ich eher ein feiger Mensch bin, mich hinstelle und Unterstützung vortäusche, die ich im Ernstfall nicht würde erbringen können. Das ist unehrlich. Ich bringe es ja sogar in privaten Zusammenhängen oft nicht fertig, meinen Mann zu stehen. So werde ich mich denn nur mit meinen Schreibfingern, meiner Computertastatur und dem Verstand, den ich habe und mit dem Glauben an die Richtigkeit der Grundrechte für deren Erhaltung einsetzen, solange es ungefährlich ist, das zu tun. Ein Jeder an seinem Platz, und vielleicht ist der Meine eben einer, der trotzdem einen Teil zu einer positiven Entwicklung beitragen kann.

© 2010, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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