Kontrovers: Was gehört zu einem menschenwürdigen Leben?

In letzter Zeit führe ich häufiger interessante, aber auch kontroverse Debatten. Debatten, bei denen ich feststelle, dass wohl jede, absolut jede Generation den Weg der Konservierung, nein, der Konservatisierung geht. Um Arbeitslose ging’s, um das soziokulturelle Existenzminimum, um Dankbarkeit, um staatliche Leistungen und um Studiengebühren. Ein Sammelsurium zum Davonlaufen.

Meine Gesprächspartnerin, eine sensible, engagierte junge Frau mittleren Alters, hatte gerade einen Artikel im Stern gelesen und sich darüber aufgeregt. Eine Studentin in Neuseeland, so hieß es da, habe zur Finanzierung ihres Studiums ihre Jungfräulichkeit im Internet an den Meistbietenden versteigert und einen Preis von rund 23.000 Euro erzielt. „Niemand“, so meine Gesprächspartnerin völlig zurecht, „muss seine Würde im Internet für ein paar Euro versteigern.“ In dem Artikel fand sich allerdings der folgende folgenschwere Satz: Bruce Pilbrow von der Organisation Parents Inc. sagte der Tageszeitung „New Zealand Herald“ dagegen, es sei „entsetzlich traurig“, dass die junge Frau sich verkaufen müsse, um ihre Studiengebühren zu zahlen.“ Daraus ließ sich für mich zweierlei ableiten: Erstens gibt es Studiengebühren in Neuseeland, und zweitens gibt es offenbar kein BaFöG und die Frau hatte kein Geld. Trotzdem, so beharrte mein langsam in Fahrt geratendes Gegenüber, müsse sich niemand verkaufen, es gebe genügend andere Möglichkeiten, zum Beispiel könne die Frau als Taxifahrerin oder Kellnerin arbeiten. Nun war es an mir, in Fahrt zu geraten und meiner charmanten Gesprächspartnerin Intoleranz und Elitedenken vorzuwerfen. Nur weil die Eltern der Frau kein Geld hätten, könne man sie doch nicht schlechter stellen, sie müsse sich ja dann um ihren Job und ums Studium kümmern. Und überhaupt: Wenn Jeder und Jede irgendeine Arbeit finden könne, mit der sich ein Studium finanzieren lasse, dann könne die Arbeitslosigkeit ja nicht so groß sein, und das wäre ja nun nachweislich in keinem Industrieland so. Es sei naiv zu glauben, dass die Frau aus Neuseeland in jedem Falle ein Studium hätte finanzierren können. Es sei, und langsam verstand ich die Welt nicht mehr, eine Erfindung der linken Medien, dass Leute aus armen Verhältnissen kaum studieren könnten, denn schließlich gebe es ja noch die Stipendien, und die seien häufiger, als ich glauben würde, sagte mein Gegenüber forsch. Rasant und in Fahrt erwiderte ich nun, dass Stipendien nichts als Gnadenakte ohne überprüfbare Grundlage seien, während der Staat eben erstens nicht nur die Hochbegabten, und zweitens nicht nur die Gutgestellten fördern solle, und drittens auch nicht aus reiner Willkür der eine genommen werden, der andere aber abgelehnt werden solle, sondern für eine allgemeine Chancengleichheit auf dem Bildungsmarkt Sorge zu tragen habe. Sie könne das gar nicht mehr hören, was der Staat alles müsse, auch in Zeiten leerer Kassen hätten alle nur eine Erwartungshaltung, sagte die engagierte junge Frau mittleren Alters, von der ich nun endgültig nicht mehr wusste, ob ich sie selbst vor mir hatte oder vielleicht doch John F. Kennedy oder Guido Westerwelle. Wir konnten leider nicht mehr klären, warum absolut Jeder und Jede die Möglichkeit hat, auch ohne BAFöG zu studieren, denn in rasendem Tempo näherten wir uns dem eigentlichen Diskussionsthema, den Arbeitslosen. Bei der Kennedy-Formel „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern frage, was du für dein Land tun kannst“ waren wir im Prinzip bereits angekommen, es fehlte nur noch ein kleiner Schritt. Der Staat, so wetterte sie weiter, könne auch hier in Deutschland nicht immer nur mit vollen Händen das Geld zum Fenster hinauswerfen, und sie meinte jetzt das BaFöG, wie ich mit Schrecken feststellte, weil, so fuhr sie fort, er trotz der halben Kreditleistung beim derzeitigen Bildungsstand der jungen Menschen und der Masse an Studienabbrechern längst nicht so viel zurückbekommen würde wie er ausgab, BaFöG sei für den Staat ein Verlustgeschäft, und das müssten sich die Leute, die immer nur die Hand aufhielten, auch mal klar machen. Man müsse auch bereit sein, für eine staatliche Leistung eine Gegenleistung zu erbringen. Inzwischen hatte sich Roland Koch unserem Tisch bereits bis auf einen halben Meter genähert. Ich versuchte, wie ich es am Wochenende auf der Tagung „wenn die Würde gewürdigt würde“ gelernt hatte, soziale Grundrechte ins Spiel zu bringen, war aber damit an der falschen Adresse. Welche Rechte sich denn aus dem Sozialstaatsgebot ableiten ließen, fragte mich die streitlustige Advokatin konservativ-liberaler Wirtschafts-, Finanz- und vor allem Sozialpolitik. Ich begann vorsichtig, weil ich fest der Überzeugung war, auf sicherem Boden zu stehen, von der Menschenwürde und einem soziokulturellen Existenzminimum zu sprechen, das jedem Menschen zur Verfügung stehen müsse. Wieder eine Verpflichtung des Staates, und die Antwort meiner Gesprächspartnerin ließ auch nicht lange auf sich warten: Viele Menschen seien heute undankbar, würden den Wert dessen, was sie erhielten, nicht mehr erkennen, warum es denn selbstverständlich sein müsse, dass der Staat alles ohne Gegenleistung finanziere. „Wir reden hier“, warf ich ein, „vom Existenzminimum, zugegeben einem, das soziale Tätigkeiten mit einschließt.“ Und wer arbeitslos sei, könne schließlich nichts dafür, ergänzte ich. Aber sie war ganz anderer Meinung. Eigentlich, so führte sie aus, sei das Prinzip „Fördern und Fordern“, das von der Agenda 2010 gefordert wird, völlig in Ordnung. Ich unterstelle ihr nicht, dass sie den Generalverdacht gut heißt, unter den das Gesetz die Arbeitslosen stellt. Trotzdem schlackerte ich mit den Ohren: „Die Leute, die Arbeit haben, können auch nicht dafür, dass dem so ist, sie zahlen Steuern und geben der Gesellschaft ihre Arbeitskraft und teilweise ihr Geld.“ So die Meinung meiner Diskussionspartnerin. Der Wert, den das Geld habe, das die Arbeitslosen bekämen, sei ihnen oft nicht bewusst. Sie sei der Meinung, dass man sie dazu bringen müsse, auch einen Teil für die Gesellschaft zu arbeiten, damit sie nicht immer nur vom Staat etwas bekämen, ohne dafür etwas geben zu können. Nun schlug sie vor meinen Augen eine Pflichtarbeit von vielleicht zwei bis drei Stunden pro Monat vor, die für die Gemeinde abzuleisten sei, wofür sonst niemand Leute einstelle, beispielsweise mit Kindern im Krankenhaus spielen, älteren Menschen etwas vorsingen und ähnliches. Allerdings wurde auch die Straßenreinigung oder -Streuung erwähnt. Nehme man diese Arbeit an, so solle man den vollen Regelsatz erhalten. Lehne man die Arbeit ab, so solle dieser um rund 25 Euro gekürzt werden, und zwar unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums, damit man es auch bemerke. So werde einem der Wert der Solidarität der Gesellschaft klar gemacht. Ich reagierte empört, dass wenigstens ein menschenwürdiges Leben mit soziokulturellem Existenzminimum bedingungslos zu gewähren sei, und nach wütenden Protesten folgte sie dieser Meinung, dann seien die 25 Euro eben ein möglicher Zusatzverdienst. Knirschend fügte sie hinzu: „Aber weil es zum Leben nicht unbedingt notwendig ist, wird es wieder keiner machen.“

Eine Frau, die händeringend nach guten Nachrichten sucht, sich aber Gott sei dank weigert, sie selbst zu erfinden, hält die Menschen im Allgemeinen und die Arbeitslosen im Besonderen für so bequem und faul, dass sie glaubt, dass ein Angebot für wenig, aber gut bezahlte Arbeit niemand annehmen würde. Ich war von dem Ausbruch schockiert. Vor einem Jahr noch hatten wir uns gemeinsam für ein bedingungsloses Grundeinkommen ausgesprochen. Und jetzt? Auf eine entsprechende Frage versicherte sie mir, dass sie das auch immer noch tun würde.

Es geht um die übliche Frage, die zumindest zum Teil auch am kommenden Dienstag beim Bundesverfassungsgericht entschieden werden wird: Wieviel können Arbeitslose bedingungslos vom Staat erwarten, als Recht, als unumstößlich unantastbare Grundsicherung? Diese Grundsicherung ist notwendig, damit man weniger psychischen Druck hat, sich tatsächlich mehr auf etwas konzentrieren kann, was man machen will, trotzdem Kontakte halten und auch mal Essen gehen kann, vielleicht mal einen Film im Kino besuchen und selbstverständlich Essen, Kleidung, Unterkunfts- und Nebenkosten bezahlen kann. All das ist für mich unverzichtbar, unverhandelbar, unkürzbar. Zuverdienstmöglichkeiten gibt es schon jetzt, wie z. B. die 1-Euro-Jobs. Im Billiglohnsektor müssen viele Menschen zum einen vollzeit arbeiten und zum Anderen trotzdem noch ALG II beziehen. Die Tafeln sind voll von Kindern und Eltern, aber auch von Alleinerziehenden, die eben am Essen auch sparen wollen, um möglicherweise für Kinder einigermaßen vernünftige Kleidung kaufen oder den Kirmesbesuch finanzieren zu können. Oder vielleicht mal andere Kinder einladen? Wenn dies alles unter einen Arbeitsvorbehalt gestellt wird, damit den Leuten bewusst ist, dass nichts selbstverständlich ist, dass das, was sie bekommen einen Wert hat, dann entwerten wir die Errungenschaften von 300 Jahren Arbeitskampf und 130 Jahren Sozialgesetzgebung in Deutschland. Ein reicher Staat, der ohne Probleme genug Steuern einnehmen könnte, wenn er nicht dauernd zugunsten derer auf Abgaben verzichtete, die ohnehin genug haben, hat seinen Bedürftigen bedingungslos ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten. Und ich spreche hier nicht, wie meine reizende Gesprächspartnerin es vermutete, von drei bis vier Kinogängen in der Woche. Das soziokulturelle Existenzminimum hat selbstverständlich zu sein. Und so sehr ich derzeit froh bin, dass es die Tafeln gibt, so sehr verabscheue ich, dass es sie geben muss und dass sie dem Staat ohne es zu wollen einen Vorwand bieten, nicht selbst aktiv die Armut bekämpfen zu müssen.

Man solle sich nicht immer auf den Staat verlassen, sondern das gesellschaftliche und vor allem nachbarschaftliche Engagement fördern, meinte meine Kollegin. Das Eine kann zusätzlich zu dem Anderen erfolgen, denn auf Nachbarschaftshilfe hat man kein Recht, zum Beispiel auch nicht als behinderter Mensch. Man kann nicht einklagen und etwas unternehmen, wenn sie ausbleibt. Bei einer gesetzlich garantierten staatlichen Leistung kann man das allerdings sehr wohl tun.

„Warum ist es ein Schwerverbrechen, der Gemeinde, der eigenen Umgebung, etwas von dem zurückzugeben, durch nützliche Arbeit, was sie einem zur Existenzsicherung zur Verfügung stellt“, fragte die Frau, die eigentlich keine Extrempositionen mag. Im Prinzip ist es das nicht, solange es freiwillig ist, antworte ich darauf, und solange es vernünftig bezahlt wird. Und das sage ich nicht aus Geldgier. Die soziale Sicherung der Bürger ist Kernbereich staatlichen Handelns, wer daran rüttelt spielt den Neoliberalen in die Hände, und ich habe heute mehr als eine neoliberale Position gehört: Arbeitspflicht des Roland Koch,Bezügekürzung des Prof. Wolfgang Franz und Überprüfung von Sozialleistungen, wie der Welt-Reporter Konrad Adam sie 2005 im Falle des Blindengeldes forderte mit den Worten, er sei bedingungslos nur bereit, für die Bedürfnisse seiner Familie einzustehen. Die Heftigste Frage der Diskussion war: „Muss der Staat wirklich für gleiche Bildungschancen sorgen und die soziale Grundsicherung gewährleisten, oder haben wir uns da nicht finanziell übernommen und müssen das revidieren angesichts der Staatsschulden?“

In ruhigeren Fahrwassern erläuterte die sensible, engagierte junge Frau mittleren Alters ihren Vorschlag der 2 bis 3 Arbeitsstunden pro Monat aus einem anderen Blickwinkel. Wer diese Arbeit leiste, der müsse sich nicht so vorkommen, als sei er zu nichts nütze. Er leiste seinen Anteil zum Wohle der Gemeinde, werde ortsüblich bezahlt, dürfe das Geld behalten, finde vielleicht so wieder soziale Kontakte, verlerne nicht völlig Kommunikation und gemeinsames Arbeiten und könne mit erhobenerem Haupt durchs Leben gehen und sich selbst behaupten. Er sei weniger darauf angewiesen, dass sich irgendein sozialer Dienst um ihn kümmere, was bei den wirklich bedürftigen ja auch selten geschehe. Ich konnte ihren Worten folgen. Wenn man geringfügige Arbeiten, die wirklich sinnvoll sind, zur Verfügung stellt, die Leute das Geld behalten lässt und vielleicht noch sozialen Umgang fördert, mag man ja überlegen, wie so etwas verfassungsrechtlich und gesetzlich möglich und sinnvoll ist. Aber niemals, niemals als Vorbedingung für das Erreichen des soziokulturellen Existenzminimums. Das muss bedingungslos bleiben, wenn es schon derzeit nicht nach der Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens aussieht.

Der Wert eines Staates kann und darf sich vor allem daran messen, wie dieser mit seinen Armen umgeht.

© 2010, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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2 Antworten zu Kontrovers: Was gehört zu einem menschenwürdigen Leben?

  1. Christiane sagt:

    Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich einer der letzten Studenten war, die in Deutschland noch ohne Studiengebühren studieren durften. Ich halte Bildung für ein ganz wichtiges Gut und das sollte jedem zugänglich sein. Ich würde gleichzeitig aber auch die Kindergärten kostenlos machen, denn da fängt die Bildung an. Dennoch glaube ich, dass es nicht hauptsächlich ein Geldproblem ist, dass Kinder bildungsferner Familien nicht studieren gehen. Das hat ganz viel mit Sozialisation zu tun.
    Zum Thema Arbeitslosigkeit ist Deutschland in einer Zwickmühle: Ich finde Fördern und Fordern auch kein schlechtes System, aber dafür müssen genug Arbeitsplätze da sein. Das sind sie (derzeit) aber nicht. Selbst wenn man also fördert und fordert, wo sollen die Leute hin?
    Andererseits wird viel zu wenig dafür getan, dass die Leute sich selbstständig machen und dadurch Arbeitsplätze geschaffen werden.
    Ich finde die Idee mit dem sozialen oder sonstigem Engagement gar nicht so schlecht, aber man muss aufpassen, dass dadurch nicht wieder Arbeitsplätze zerstört werden wie das teilweise bei den 1-Euro-Jobs der Fall ist. Und ich finde auch, Ziel muss immer sein, die Leute in Arbeit zu bringen. Wenn die Gesellschaft dieses Ziel aufgibt, entzieht sie dem Staat die Existenzgrundlage (Steuereinnahmen) und den Menschen eine wichtige Konstante im Leben.

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