„…Overload…“ – von meinem Umgang mit dem Internet und sozialen Netzwerken

„Heute habe ich mir eine Zeitung gekauft.“ Im Zeitalter von Twitter, Facebook und Co
erscheint es fast wie eine Revolution, und irgendwie ist es das auch. Es ist ein Satz, der
anzeigt, dass man, und sei es nur für einen Moment, das ewig drehende Hamsterrad der
Informationsgesellschaft zum Stillstand gebracht hat.

Gefunden habe ich den bemerkenswerten Satz als Kommentar zu einem Blogeintrag über so etwas wie
Informationssucht.
„Gibt es eine Sucht nach Informationen? Das Gefühl, die Welt könnte sich zu schnell drehen
und ich den Anschluss verpassen, wenn ich nicht alle tweets, nicht alle von mir abonnierten
Feeds, nicht alle Updates meiner „Freunde“ bei facebook lese? Ist das bereits eine
pathologisch definierte Krankheit? Wenn ja, dann muss ich eingestehen: Ich bin süchtig.“
Dies schrieb der Blogger Sachar Kriwoj in seinem Beitrag. Es ist ein bemerkenswertes und
nachdenklich stimmendes Bekenntnis. Und etwas später:
„Wer kennt dieses Szenario nicht? Man sitzt mit Freunden, Bekannten oder Geschäftspartnern
beim Essen am Tisch, man unterhält sich angeregt. Plötzlich holt jemand sein iPhone oder
Blackberry raus, checkt Mails, twittert oder macht was auch immer und verlässt dabei
zumindest die Konversation, in der er oder sie sich gerade noch befand. Ist das höflich,
anständig, angemessen? Natürlich nicht.“ Aber es ist, so möchte man hinzufügen, gar nicht
mehr so selten, und es scheint für viele Menschen normal geworden zu sein. Viele, die auf
den Beitrag hin kommentiert haben, konnten das überhaupt nicht verstehen. Sie empfanden den
Beitrag teilweise als Geschwafel, andere meinten, es wäre falsch, immer auf die sogenannten
neuen Medien zu schimpfen, und sie gehörten nun einmal zur heutigen Wirklichkeit. Das hat
mich dazu gebracht, mal über mein Verhältnis zu Twitter, Facebook und Co nachzudenken.

Im Sommer 2009 habe ich einen Wer-kennt-wen-Account eröffnet, kurz darauf einen
Facebook-Account. Ich war fasziniert von „social Media“, der Hype hatte mich erfasst. Da das
Internet seit 1996 zu mir gehört wie mein tägliches Brot, bin ich nun wirklich der Letzte,
der etwas dagegen hat, sich in den virtuellen Räumen zu bewegen. Ich habe über das Internet
schon Freunde kennengelernt, Kontakte geknüpft und meinen Horizont erweitert. Zugegeben, das
war in den altmodischen Zeiten des Usenets, aber es hat mir viel gebracht. Trotzdem
versiegte die Begeisterung schnell wieder, und seit Monaten habe ich in beide Accounts nicht
mehr hinein geschaut. Und ich bin einer, der täglich mehrfach, in der Regel sogar häufig,
seine Mails abruft und beantwortet, und der seit dem 11. August 2009 auch kräftig twittert.
Aber die „social Networks“ verlangen einen Ballanceakt von uns, den wir nur unter großen
Mühen erbringen können. Sie sind die konsequente Fortsetzung des Zeitalters der Vernetzung
und des Informationsüberflusses. Und das Schlimme daran ist, dass zwar unendlich viel, aber
nur selten relevante Information vorhanden ist.

Vor einer Woche wurden fünf Tage lang fünf Journalisten auf einem Bauernhof in Frankreich
eingesperrt, und sie sollten Stories bringen und sich dazu nur von Twitter und Facebook
ernähren. Das Ergebnis überraschte mich nicht: Twitter und Facebook können nur Ergänzung zu
bisherigen Informationsquellen sein, sie aber keinesfalls ersetzen. Und das bei dem
Überangebot an Informationen, die ständig von überall her auf einen einprasseln, wenn man
diese Medien nutzt.
Twitter und Facebook sind eigentlich Instrumente, um auch während physischer Abwesenheit
private Informationen auszutauschen, ursprünglich mit Leuten, die man persönlich kennt.
Deshalb haben Facebook und z. B. das deutsche wer-kennt-wen so viele Tools, um persönliche
Freunde wiederzufinden, die einem im Laufe seines Lebens abhanden gekommen sind. Aber aus
der Ursprungsidee ist inzwischen längst etwas Anderes geworden, nämlich ein Instrument, um
seine Privatheit nach Außen zu tragen und sich mit anderen Menschen zu vernetzen, ständig
über sie informiert zu sein, ständig von ihnen beschallt zu werden mit Bildern,
Audiodateien, Kurznachrichten. Und mit Twitter entstand ein Schlagzeilendienst, der
minütlich unzählbare Nachrichten um die Welt sendet, ein Dienst, mit dem Augenzeugen von den
schlimmsten Katastrophen berichten können, und man hat die Schreckensmeldung gleich aus
erster Hand. Es ist ein Dienst, der Nähe und Teilhabe am Leben Anderer vermittelt, der aber,
wie die anderen „social Networks“ auch, nicht halten kann, was er scheinbar verspricht. So
wichtig Onlinekontakte im Berufsleben und zum Plaudern auch sein können, sie können niemals
die physische Anwesenheit eines anderen Menschen ersetzen, nie die Stimme eines Freundes
oder einer Freundin simulieren, der oder die einen in der Not tröstet, nie die interessante
und tiefgehende Diskussion bei einer Tasse Kaffee ersetzen. Solange man das auch nicht von
ihnen erwartet, solange man sich von Anfang an über die Funktion der „social Networks“ im
Klaren ist, solange ist alles gut. Problematisch wird es, wenn man den Bezug zur Realität
verliert, wenn es keinen Ort mehr gibt, wo man wieder mit sich ins Reine kommt.

Anfang der neunziger Jahre war ich telefonsüchtig. Ich habe sogenannte Talklines angerufen,
vor denen ich mich heute hüte wie der Teufel vor dem Weihwasser. Nur einige Minuten hielt
ich es ohne sie aus, dann rief ich wieder an, denn es könnte ja eine Nachricht auf meinem
internen Anrufbeantworter sein, man könnte ja ausgerechnet an mich gedacht und mir was
interessantes erzählt haben. Es gingen viele Nachrichten hin und her seinerzeit, und ich war
in einer dieser Talklines relativ bekannt. Ich wollte jede noch so kleine Information
erhaschen, aber ich erhielt für meine ständige Anwesenheit und meine ständigen Bemühungen
keinen adäquaten Gegenwert. Oberflächliche Plaudereien, die man besser und erfolgreicher mit
Menschen im persönlichen Umfeld hätte führen sollen. Und die Sucht nach Kontakt und
Information hielt mich fest, nichtssagende Nachrichten in Foren überfluteten mich. Für eine
Weile war ich trotzdem total fasziniert, und mehrere Tausend Mark habe ich dafür bezahlen
müssen. Wenige Jahre später erhielt ich Zugang zum Internet, und ich habe eins aus meiner
damaligen Sucht gelernt: Das Aussieben.

Auf Twitter und Facebook kann ich unendlich vielen Menschen folgen, kann mir ansehen, was
sie geschrieben und getan haben, kann mich ihnen nahe fühlen. Manche Leute folgen hunderten,
ja tausenden anderer Teilnehmer. Sie könnten den ganzen Tag damit zubringen, deren
Nachrichten zu lesen und darauf zu antworten. Und ich fürchte, einige tun das auch. Sie sind
mit dem Datenstrom fest verwachsen, sie kommen nicht los. Die Nachrichten sind schnell,
kommen sofort, reißen nicht ab. Man kann sich ihnen nicht entziehen, oder man ist zu
fasziniert und will das auch gar nicht. Kaufe ich mir aber eine Zeitung, dann habe ich die
Wahl, ich lese sie in meiner eigenen Zeit, begebe mich in die sogenannte „slow Media“, ein
Phänomen, das gerade erst wieder entdeckt zu werden scheint. „Ich habe mir heute eine
Zeitung gekauft“ sagt: Ich habe mich für kurze Zeit vom Datenstrom abgekoppelt, habe mir die
bereitts für mich aufbereiteten Nachrichten in meiner Zeit zu Gemüte geführt. Ich verweigere
mich nicht der Information, ich verweigere mich nur der ständigen Überversorgung mit
Datenmüll.

Damit will ich nun wirklich nichts gegen moderne Medien und ihre Ausprägungen gesagt haben.
Das Internet als demokratische Basisstruktur mit seinen vielfältigen Informations- und auch
Organisationsmöglichkeiten ist Gold wert. Für mich eröffnete es erstmals im Leben zugang zu
aktuellen Informationen, die man zumindest tagesaktuell als blinder Mensch nicht bekommen
konnte. Ich sitze täglich an meinem Rechner und lese viele E-Mails, und Twitter ist mir ein
extrem wichtiger Nachrichtenlieferant geworden, und ich bleibe auch oberflächlich mit
einigen Menschen in Kontakt auf diesem Wege. Und vielleicht finde ich sogar wieder neue
Freunde über diese Schiene. Aber ich werde nie zum Sklaven der Informationstechnik werden.
Ich beherrsche und benutze die Technik, und privat schalte ich ab, wenn es mir zu viel wird.
Der Kontakt mit sogenannten realen Freunden, also Menschen in meiner Umgebung, soll unter
keinen Umständen unter meiner Beschäftigung mit den neuen Medien leiden.

Dabei hilft mir gerade Twitter enorm bei der Arbeit. Denn neben den Privatpersonen, die
private Kurznachrichten übermitteln wollen haben auch Nachrichtenagenturen, Zeitungen,
Fernseh- und Radiostationen, Institutionen und Organisationen, bekannte Blogger und
Multiplikatoren den Kurznachrichtendienst für sich entdeckt. Man erhält tatsächlich Zugang
zu richtig wertvollen Infos, wenn man weiß, wem man folgen sollte, wer einen mit diesen
Informationen versorgt. So besteht die Kunst darin, auszusieben.

Wenn ich im Zug sitze, oder mit Freunden im Restaurant, und ich höre einzig und allein die
Handys und die Gespräche, dann denke ich oft, dass ich ein Dinosaurier bin, weil ich ohne
Handy unterwegs bin. Aber praktisch gleichzeitig begreife ich, dass ich mir ein Stück
Selbstbestimmung bewahrt habe. Ich kann ein Gespräch mit Personen zuende führen, die neben
mir sitzen, und ich muss nicht 10mal während einer Zugfahrt von einer halben Stunde jemanden
anrufen, um zu sagen, wo ich gerade bin.

Ich glaube schon, dass man süchtig werden kann nach Information, und ich glaube, dass es ein
Krankheitsbild ist wie Sexsucht, Telefonsucht und ähnliche Krankheitsbilder, die von
Medizinern und Psychologen bzw. Psychiatern heute akzeptiert werden. Ich glaube aber auch,
dass man es selbst in der Hand hat, wie sehr die sogenannten neuen Medien einen
kontrollieren, oder wie sehr man sie selbst zu einem faszinierenden Medium macht, das beim
Vernetzen hilft, beim Aufbauen und Organisieren von Bewegungen und bei einer neuen Form von
Demokratie und freier Information. Das Internet und auch die sozialen Netzwerke bieten viele
viele Chancen, die man richtig nutzen sollte. Wenn da ein Mensch kommt und erkennt, dass er
süchtig ist nach Information, nach „immer-am-Ball-bleiben“, und wenn er in der Lage ist,
dies auch offen zu sagen und damit unumkehrbar zu machen, dann ist das mutig und sollte
nicht, wie von manchen Kommentatoren geschehen, in den Schmutz gezogen werden. Nur weil man
selbst kein Problem damit hat, heißt es nicht, dass alle verantwortungsvoll damit umgehen
können. Es bedarf nämlich eines festen Willens und eines scharfen Verstandes, denn unser
Gehirn allein ist auf eine solche Informationsflut nicht vorbereitet.

„Ich habe mir heute eine Zeitung gekauft“, schrieb ein Kommentator. Ich stelle mir einen
Mann vor, der über eine belebte Straße ging, hin zu einem Kiosk, einem dieser altmodischen
Infodealer, sich dann eine Zeitung nahm, das Geld bezahlte, die Zeitung unter den Arm
klemmte und zurückging nach hause. Dort hat er Frühstück gemacht, Kaffee gekocht, und
während er sein Brötchen mit Ei aß, hat er die Zeitung gelesen. Sicher hat er danach den
Rechner angeworfen, denn der Kommentar musste ja geschrieben werden, sonst wüsste ich ja gar
nicht, dass er sich eine Zeitung gekauft hat. Aber vermutlich hat er dies ganz bewusst und
zielgerichtet getan. Wir haben es selbst in der Hand, was wir aus dem Internet und seinen
Ausprägungen machen.

© 2010, Jens Bertrams

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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4 Antworten zu „…Overload…“ – von meinem Umgang mit dem Internet und sozialen Netzwerken

  1. Bernd sagt:

    Ein langer Artikel der vieles von dem was mich manchmal bewegt anspricht.
    Sind wir mit dem Informationsangebot das es inzwischen gibt wirklich besser dran?
    Oder wäre, wwie hier als Leitmotto „die gute alte Zeitung“ nicht doch irgendwie besser.
    Ich finde es toll, dass ich zu allem was mich bewegt oder was mich interssiert mit Hilfe des Internets sofort informieren kann. Und gleichzeitig finde ich es immer schwerer mich über aktuelle Geschen informeren zu lassen. Ich weiß gar nicht wie ich dies beschreiben soll? Mit einer (guten) Zeitung habe ich das Gefühl, dass ich über das was in der Welt um mich passiert informiert bin. Aufschlagen und lesen reicht aus.
    Bei den Informationen via Internet bin ich irgendwie überfordert. Natürlich gibts Schlagzeilen die ein besonders aktuelles Thema unübersehbar machen – aber den Rest, der eben nicht garde die Top-Schlagzeilen liefert muss ich mir aktiv (und manchmal mühsam) erarbeiten.
    Dabei werden die technischen Möglichkeiten des Netzes immer mehr ausgenutzt. Da Vidoes einfach einstellbar sind wir immer mehr über Vidos vermittelt. Ich will das gar nicht. Einen Satz den ich in der Zaitung nicht verstehe kann ich 5 mal lesen – bis ich glaube kapiert zu haben was da vermittelt werden sollte. Ich schau mir doch ein Video nicht 5mal an. Also bin ich nicht mal sicher ob ich kapiere was da im Video wirklich vermittelt wird.
    Und da in dem Blog oben beschrieben wird, dass es eine Sucht nach Information gibt möchte ich noch dazusagen, dass ein Sucht möglicherweise dadurch zustande kommt weil es kein „wirkliche“ Information mehr gibt. Oder besser gesagt – der Wunsch nach Information wird nicht mehr wirklich erfüllt. Wie bei allen anderen Süchten auch – sie entstehen weil ein Bedürfniss nicht mehr wirklich erfüllt wird (kann aber sein dass ich da nun Blödsinn schreibe).

    Internet ist wirklich schwierig geworden – ohne geht es überhaupt nicht mehr. Ich mene damit nicht nur dass es wirtschaftlich nicht mehr ohen Netz ginge – auch persöhnlich ist meine Abhängigkeit / der eigene Nutzen so groß das ich es mir gar nicht mehr ohne vorstellen könnte. Und gleichzeitig wird es immer unübersichtlicher das Angebot wird immer erschlagender, so dass ein Verdruß eintritt der vielleicht einmal sogar zu einer „Internetverweigerung“ führen könnte.
    Wie bringt man einen derartigen Zwiespalt unter einen Hut?

  2. Mario sagt:

    Ein bemerkenswertes Innehalten!
    Ich möchte dazu zu Bedenken geben:

    Koppeln wir uns wirklich ab, wenn wir Zeitung lesen (oder Radio hören)? Es steht in jeder Zeitung auch vieles, was einen nicht interessiert, genau so verhält es sich bei neueren Medien. Wäre dies also einfach eine Frage des Tempos? Sicherlich nicht nur, aber wir sollten (wie der Eintrag ausführt) lernen, auszusieben.

    Wie scharf muss unser Verstand sein? Ich hoffe doch zuversichtlich, das die Entscheidung, ob man etwas liest, in sich aufnimmt, jeder treffen kann. Die Bewertung dagegen, ob etwas authentisch, wahr oder falsch, relevant ist, dürfte immer schwieriger werden. Da das aber eine grundsätzliche Herausforderung darstellt, wachsen vielleicht auch die Hilfsmittel, die einem das Aussortieren erleichtern. Ein Projekt wie Wikipedia würde ich durachaus als ein solches Hilfsmittel sehen.

    Ich kann nur hoffen, dass wir lernen, mit Information umzugehen und den Zeitgeist „Neu = gut“ zu bewältigen.
    Immerhin erhalten wir die Chance auf guten Gedankenaustausch, wie sie in einer Zeit genutzt urde, als man lange Briefe schrieb, um Ideen festzuhalten und auszutauschen.

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