Vorratsdatenspeicherungsurteil – eine erste Einschätzung

Diesen Beitrag habe ich am 9. März für ohrfunk.de geschrieben und dort veröffentlicht.

Wenn die Politiker das Grundgesetz immer mehr als – Zitat Wolfgang Schäuble – „lästige Fessel“ – Zitat ende – zur Begrenzung des politischen Handlungsspielraums der Regierung begreifen, wer schützt dann noch die Demokratie, die Freiheit und die Menschenwürde? Wer klopft einem Juristen auf die Finger, der behauptet, man dürfe gegen den Wortlaut eines Gesetzes handeln, wenn man dessen Zweck erreiche? Wer stoppt Einschränkungen von Freiheitsrechten, die im europäischen Rat beschlossen werden, und zwar ohne demokratisch-parlamentarische Legitimation? Wir Deutschen haben es da ja wirklich gut, wir haben unser Bundesverfassungsgericht. Das fängt alle Verfehlungen der Politik auf und schenkt uns durch seine weisen Urteile Gerechtigkeit, Oder? Liest man das Urteil über die Vorratsdatenspeicherung, ist man geneigt, das Gericht als gerechte Korrekturbehörde der Politik zu feiern. Zurecht natürlich, oder?

Am 2. März 2010 hat das Bundesverfassungsgericht die sogenannte Vorratsdatenspeicherung in der heutigen Form für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Seit Anfang 2008 waren Internetprovider und Telefongesellschaften dazu verpflichtet, sogenannte Verkehrsdaten 6 Monate lang zu speichern. Es handelte sich um die deutsche Umsetzung einer europäischen Richtlinie zur Unterstützung der Strafverfolgung. Unter Verkehrsdaten versteht man alle Daten darüber, wann wer mit wem von wo aus wohin auf welche Weise und wie lange kommuniziert hat. All diese Daten mussten 6 Monate lang aufbewahrt und der Polizei, den Geheimdiensten und den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt werden. Dabei ging der deutsche Gesetzgeber noch weiter als die europäische Richtlinie. Während dort nur von besonders schweren Straftaten die Rede war, die einen Zugriff auf die gespeicherten Daten erlaubten, ging es in Deutschland um nur erhebliche und mittels Telekommunikation begangene Straftaten. Dazu gehört auch schon die Beleidigung via Telefon und ähnliche Delikte. Mit den Daten der Handyanbieter, wann wer von wo aus wen wie lange angerufen hat, lassen sich Bewegungsprofile von Menschen erstellen, wer war wann wo? Mit den Daten von E-Mail- und Telefonanbietern, wer mit wem wann wie lange in Kontakt getreten ist, lässt sich das soziale Leben der Bürger ausspionieren und bei längerer Beobachtung sehr gut rekonstruieren. Wenn ein Herr mit einer Dame, ob verheiratet oder nicht, nach Mitternacht 2 Stunden am Telefon plaudert, könnte man zu recht oder unrecht der Meinung sein, dass dort eine beziehung vorliegt. Solche Rückschlüsse könnten auch die Geheimdienste ziehen, die Zugriff auf das Material hatten. Und zwar wurden die Daten anlasslos gespeichert, die Daten aller Bürger wohl gemerkt, von denen erwiesenermaßen über 98 Prozent völlig unschuldig waren und sind. Das Bundesverfassungsgericht hat seit dem berühmt gewordenen Volkszählungsurteil aus dem Jahre 1983 immer wieder betont, dass das Grundgesetz den Bürger „gegen die unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner Daten“ schütze. Das ist nun nicht mehr der Fall. Das Gericht hätte, um den Grundrechtsschutz der Bürger auch weiterhin zu gewährleisten, die gesamte Vorratsdatenspeicherung aufheben müssen. Doch das hat es nicht getan. Es schränkte lediglich den staatlichen Zugriff auf die Daten ein, und zwar auf die von der EU-Richtlinie geforderten schwersten Straftaten, auf die allgemeine Gefahrenabwehr und die mittels Telekommunikation begangenen Straftaten. Die Gegner der Vorratsdatenspeicherung haben eine Art Sieg errungen, ihre Daten wurden zunächst gelöscht, aber der Sieg ist nur kurzfristig. Die Speicherung der Telekommunikationsdaten an sich ist nicht von vorneherein verfassungswidrig, sagt das Gericht. Die Verfügbarkeit muss nur stark eingeschränkt werden. Damit kuscht das höchste deutsche Gericht bei der Einschränkung von Bürgerrechten vor der europäischen Union, deren Richtlinien nicht von Parlamenten, sondern von Regierungen gemacht und beschlossen werden. Zurecht erklärt das Gericht, bei der Vorratsdatenspeicherung handele es sich um einen „besonders schweren Eingriff“ in die Rechte der Bürger, „mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt“. Die Speicherung beziehe sich „auf Alltagshandeln, das im täglichen Miteinander elementar und für die Teilnahme am sozialen Leben nicht mehr verzichtbar ist“. Mit diesen Daten lassen sich, so die Richter weiter, „tiefe Einblicke in das soziale Umfeld und die individuellen Aktivitäten eines Bürgers gewinnen“. Je nach Nutzung der Telekommunikationsüberwachung könne eine solche Speicherung „die Erstellung aussagekräftiger Persönlichkeits- und Bewegungsprofile praktisch jeden Bürgers ermöglichen“. Trotzdem lässt das Gericht ab sofort die Speicherung vieler persönlicher Daten zu noch nicht bestimmbaren oder bestimmten Zwecken zu, um einem Konflikt mit der europäischen Union aus dem Wege zu gehen. Die Bundesregierung hatte sich sogar ein Rechtsgutachten erstellen lassen, in dem es hieß, das Bundesverfassungsgericht sei gar nicht mehr zuständig, weil hier nur noch der europäische Gerichtshof angerufen werden könne. Wenn aber selbst bei Grundrechtsfragen unser Verfassungsgericht nicht mehr eingreifen darf, dann ist es insgesamt wertlos geworden. Und wenn es vor der EU zurückweicht, können wir es gleich abschaffen. Überfordert ist es ohnehin. Es ist nicht dazu gedacht, die Politik an dauernden Verfassungsverstößen zu hindern, es unterliegt selbst Sachzwängen. Die Politiker selbst sollten wieder lernen, sich an die Verfassung zu halten.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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