Sind Ossis eine eigene Ethnie?

Den folgenden Kommentar habe ich am 22.04.10 für ohrfunk.de geschrieben und dort veröffentlicht.Sind Ossies eine eigene Ethnie? Okay: Die Sprache ist ein bisschen verrückt, sie mögen viel lieber Bananen als wir im Westen, und sie mäckern viel öfter, wie schlecht es ihnen geht. Aber sonst? Sind wir nicht irgendwo alle Deutsche, jedenfalls ganz tief drinnen? Ich meine: Wenn die Ossis eine eigene Ethnie sind, warum haben wir dann 40 Jahre dafür gekämpft, wieder in einem Staat mit ihnen zusammen leben zu dürfen, oder müssen, je nach Blickwinkel? Und bloß weil eine Ossi von einem Arbeitgeber in Stuttgart abgelehnt wurde, kann sie den doch nicht wegen Diskriminierung verklagen! Wo leben wir denn? Demnächst kommen noch die Münchner an, weil sie sich als gemeinsame Ethnie mit ihrem Fußballclub betrachten, oder die Düsseldorfer, oder – ganz schlimm – die Berliner, die haben sowieso immer bekommen, was sie wollten. Haben wir nicht alle 40 Jahre lang für Berlin getan, was wir konnten? Und was ist der Dank? Oder die Frauen! Bald sind die Frauen auch eine eigene Ethnie und dürfen nicht mehr diskriminiert werden! Eine Welt bricht zusammen…

Aber mal ernsthaft: Im ersten Moment habe ich gelacht, als ich hörte, dass eine Bewohnerin jenes Gebietes, welches wir früher die fünf neuen Länder nannten, einen Arbeitgeber aus Stuttgart verklagte, weil der sie mit der Begründung, sie sei eine Ostdeutsche, abgelehnt habe. Im nächsten Moment blieb mir das Lachen im Halse stecken, denn diese Klage ist ein gefundenes Fressen für die Arbeitgeber, gegen das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz zu wettern, welches auch behinderte Menschen schützt, und da bin ich nun einmal betroffen. Erst dann habe ich mich inhaltlich mit dem Fall auseinander gesetzt. Für mich war sonnenklar, dass Menschen, die einen Teil ihres Lebens in der ehemaligen DDR verbracht haben, selbstverständlich keine Ethnie sind, die es vor Diskriminierung zu schützen gilt. Wir teilen dieselbe Sprache, Kultur und im Grunde auch dieselbe Geschichte, auch wenn wir für kurze Zeit unterschiedliche Wirtschafts- und Politsysteme hatten. Basta.

Und dann las ich heute einen Artikel des Mainzer Ethnologen Professor Bierschenk. Und der erklärte nun, dass das Urteil, Ossis seien keine Ethnie, eklatant falsch sei. Man sei im Gericht von einem veralteten Begriff der Ethnie ausgegangen. Eine Ethnie sei heute nicht mehr durch gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte bestimmt, sondern durch das konkrete, aktuelle und auch kontextbezogene Wir-Gefühl. Und das hätten die sogenannten Ossis in jedem Falle, schon allein, weil sie von den Wessis als Ossis betrachtet würden, mal mehr, mal weniger. Insofern hätte die Klägerin im Gerichtsverfahren sich also tatsächlich zurecht gegen eine Diskriminierung aufgrund ihrer Herkunft und Heimat gewehrt. Allerdings, gibt der Professor aus Mainz zu, sei das nur schwer justiziabel.

Also wenn ich es mir so recht überlege, vielleicht ist ja doch was dran. Ich beispielsweise komme aus Solingen im bergischen Land. Wir werden immer so ein wenig als bergische Sturköppe mit riesigen Dickschädeln beschimpft. Das ist nicht schön, aber das macht uns aus. Wenn ich über diese Schiene einen Arbeitsplatz bekommen könnte, oder zumindest eine Art Schmerzensgeld oder so, dann wäre das natürlich wundervoll. Das Vereinte Europa ist ohnehin unsinn, Deutschland besteht als Nationalstaat auch erst hundertdreißig Jahre und übertüncht nur die ethnischen Unterschiede seiner Bürger. Endlich kommen wir dahinter, dass wir alle unterschiedlichen Ethnien angehören dürfen. Dann sind wir alle irgendwie diskriminiert. Und was das tollste ist: Je nach Kontext können wir die Ethnie sogar wechseln. Im Ausland können wir als Deutsche, gegenüber China und den USA als Europäer auftreten. Aber bei uns zu hause sind wir Düsseldorfer, Hamburger, Solinger, Stuttgarter, und wenn es sein muss auch Münchner, Berliner und Ossis. Wir haben das Recht auf eigene Sprache, Kultur und Geschichte, und natürlich auf einen Arbeitsplatz.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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