Gescheiterte Regierungsbildungen in Belgien und den Niederlanden

Den folgenden Kommentar habe ich am 07.09.10 auf ohrfunk.de veröffentlicht. Teilweise ist seine aktualität in den Niederlanden schon am Abend wieder leicht überholt, vielleicht wird es doch eine rechte REgierung geben. Näheres schreibe ich in den nächsten Tagen, sobald meine Arbeit mir Zeit lässt.Chilenische Bergleute müssen nach einem Unglück bis zu ihrer Rettung noch 3 bis 4 Monate ausharren, Erdbeben erschüttern Neuseeland und Guatemala. In Brasilien wird die gesamte Regierung einer Großstadt wegen Korruption festgenommen, während der Präsidentschaftswahlkampf tobt, und in Deutschland streitet sich die Koalition über den Atomausstieg, das Arbeitslosengeld und die Gesundheitsreform. In weißrussland werden Regimegegner umgebracht, in Spanien verkündet die ETA hingegen einen Waffenstillstand. Palästinenser und Israelis sitzen sich verbissen am Verhandlungstisch gegenüber, während auf die übliche Weise, durch Anschläge und Vergeltung, die ohnehin nur mäßigen Bemühungen um Frieden torpediert werden. Im südamerikanischen Kleinstaat Suriname kommt ein ehemaliger Militärdiktator als demokratisch gewählter Präsident zurück an die Macht, und in den Niederlanden wird möglicherweise der Kraftstoff der Zukunft entwickelt, was, wie alles andere, einen eigenen Bericht wert wäre. Stattdessen muss man sich gerade in den Niederlanden, aber auch im Nachbarland Belgien, mit dem Scheitern der Regierungsbildungen nach den Wahlen im Juni herumschlagen. Die Konsequenzen dieses Scheiterns sind in beiden Fällen so gravierend, dass Auswirkungen auf die Nachbarstaaten und das europäische Klima zu erwarten sind.

In den Niederlanden versuchten die rechtsliberalen Wahlgewinner eine funktionierende Koalition zu schmieden. Der erste Anlauf mit Christdemokraten und Rechtspopulisten scheiterte, aber auch die nachfolgenden Verhandlungen über ein sogenanntes „Kabinett Lila Plus“ mit Rechtsliberalen, Sozialdemokraten, Grünen und Linksliberalen. Keine Parteiengruppe, die miteinander koalieren wollte, war in der Lage, die Mehrheit zu erringen. Schließlich, von der Not zur Bildung einer neuen Regierung getrieben, setzten sich Christdemokraten, Rechtsliberale und Rechtspopulisten noch einmal zusammen. Gemeinsam hätten sie über nur einen Sitz mehr als nötig im Parlament verfügt. Aber in der christdemokratischen Partei regte sich von unten her Widerstand gegen eine gemeinsame Regierung mit dem Rechtspopulisten Geert Wilders, vor allem wegen seiner harten Haltung dem Islam und ganz allgemein Ausländern gegenüber. Ende Juli verfiel man dann auf die Idee, eine Minderheitsregierung nur aus Christdemokraten und Rechtsliberalen zu bilden, die dann von Wilders und seiner Partei im Parlament hätte toleriert werden sollen. Ein ungewöhnlicher Schritt, aber er hätte dem Land das Ende der seit vielen Monaten andauernden Stagnation beschert. Auf finanziellem, sozialem und ökonomischem Gebiet wurde man sich schnell einig, es muss gespart werden, und Einschnitte ins soziale Netz wurden von der künftigen Regierung als geeignete Mittel angesehen. Doch in der christdemokratischen Partei, die bei den Wahlen im Juni die Hälfte ihrer Mandate verloren hatte und von der stärksten zur viertstärksten Kraft im Land geworden war, wuchs der Widerstand gegen Wilders und sein Menschenbild. Parteiführer Maxime Verhagen versuchte verzweifelt, seine Fraktion einstimmig hinter die gemeinsame Regierung zu bringen, doch auf einer dramatischen Fraktionssitzung kündigten ihm drei Mitglieder die Gefolgschaft. Zwar brachte er sie binnen 48 Stunden wieder auf Kurs, doch ein prominenter Christdemokrat, Mitglied der Verhandlungskommission und amtierender Minister, sagte öffentlich, dass er eine Zusammenarbeit mit Wilders und seiner Partei für die Freiheit für undurchführbar hält. Daraufhin erklärte Wilders, die Christdemokraten seien unzuverlässig und brach am Donnerstag die Verhandlungen endgültig ab.

Nun ist es in den Niederlanden nichts besonderes, dass die Regierungsbildung drei Monate dauert, die durchschnittliche Dauer im 20. und 21. Jahrhundert betrug 87 Tage. Aber den Akteuren in den Haag gehen die Koalitionsmöglichkeiten aus, weswegen die Bürger massiv Neuwahlen fordern. Davor dürften die Politiker der etablierten Parteien allerdings zurückschrecken, denn der Schacher um die neue Regierung hat dazu geführt, dass in allen Umfragen die PVV des Rechtspopulisten Geert Wilders inzwischen weit vor den anderen Parteien rangiert. Nach Neuwahlen wäre er höchst wahrscheinlich der neue Ministerpräsident des Landes, wenn es ihm gelänge, eine stabile Regierungskoalition zu schmieden. Voraussehbar ist, dass dies nicht gelingt, und dies würde das Land unregierbar machen, weil dann buchstäblich keine Möglichkeit mehr für eine Koalition bleibt, es sei denn zwischen Parteien völlig gegensätzlicher politischer Auffassung, was nicht gerade zur Stabilität beitragen würde. Daher hat die Königin, die jetzt am Zuge ist, nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie gibt den Regierungsauftrag an die Sozialdemokraten, die eine linke Koalition unter Beteiligung der Christdemokraten schmieden könnten, oder sie gibt dem rechtsliberalen Wahlsieger Mark Rutte die Chance, sich auf eigene Faust Mitstreiter zu suchen. Wer das sein soll, steht aber noch in den Sternen, nachdem Rutte seine Abneigung gegen die Sozialdemokraten, die fast so stark sind wie er selbst, öffentlich ausgesprochen hat. Sollte Wilders an der Regierung beteiligt werden, oder das nächste Kabinett sogar anführen, wäre das für die europäische Entwicklung ebenso fatal wie der vollkommene Stillstand der niederländischen Politik im letzten halben Jahr.

Noch schlimmer sieht es in Belgien aus. Seit 80 Tagen verhandeln die vallonische sozialistische Partei und die neue flämische Allianz über die Bildung einer Regierung für ganz Belgien. Während die Flamen mehr Selbstverwaltung wollen, halten die vallonen bis jetzt noch am Gesamtstaat Belgien fest. Doch seit Sonntag mehren sich auch im kleinen ehemaligen Musterland sprachlicher Integration die Stimmen, die eine radikale Umwälzung befürchten lassen. Selbst Vallonen erklären nach dem Scheitern der Regierungsbildung, dass sie ein Auseinanderbrechen des Staates nun für möglich halten. Es geht in der Hauptsache immer noch um den Wahlkreis rund um Brüssel, der entlang der Sprachengrenze geteilt werden soll, und es geht um die Föderalismusreform überhaupt. Die Vallonie könnte bei einem Auseinanderbrechen Belgiens vermutlich wirtschaftlich kaum überleben, Flandern wäre dazu vermutlich schon in der Lage. Theoretisch wäre es also möglich, dass die Vallonie an Frankreich fällt, und es gibt Leute, die einen Anschluss des deutschsprachigen Ostbelgiens, das zur Vallonie gehört, an Deutschland propagieren. Der einzige echte Belgier, König Albert, möchte einen solchen Zusammenbruch allerdings verhindern und versucht mit allen Mitteln, eine Regierungsbildung doch noch zu ermöglichen. Vermutlich wird das nur gelingen, indem man die wirklich schwierigen Fragen ausklammert. Dass ein Auseinanderbrechen Belgiens eine instabile Lage im Zentrum Westeuropas hervorrufen würde, versteht sich von selbst. Bis hier hin ist der seit jahrzehnten überwunden geglaubte engstirnige Nationalismus wieder vorgedrungen, und sowohl in den Niederlanden, als auch in Belgien scheint es kein Rezept dagegen zu geben. Man hat als Beobachter das Gefühl, unaufhaltsam eine herannahende Katastrophe mitzuerleben. Ausgerechnet auf die Königinnen und Könige, die in einer solchen Situation als Garanten für Stabilität und Kontinuität gelten, richten sich daher die Hoffnungen derer, die Belgien erhalten und die Niederlande vor einer nationalistischen Regierung bewahren wollen. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob es gelingen kann, die politisch und gesellschaftlich verfahrene Situation in den beiden Ländern zu entschärfen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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