Vom Umgang mit der Geschichte: Der Fall Erika Steinbach

65 Jahre sind seit dem 2. Weltkrieg vergangen, und immer noch haben wir Probleme mit der objektiven Geschichte. Denn das Geschichtsbild ist geprägt von politischer Korrektheit und Angst. Dadurch aber wird den rechten und revanchistischen Bestrebungen Tür und Tor geöffnet, wie der Fall Erika Steinbach zeigt.Sie ist so eine Art böser Geist der Union, die 67jährige Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach. Ihre provokanten Äußerungen spalten das Land und die Union. Dabei ist Frau Steinbach nicht einmal eine echte Vertriebene. Ihr Vater stammte aus Hanau, ihre Mutter aus der Nähe von Bremen. Getroffen haben sich beide im von Hitler während des zweiten Weltkrieges von Polen annektierten Westpreußen, einem Gebiet also, das schon vor 1939 nicht zu Deutschland gehörte. Dort kam Erika Steinbach 1943 zur Welt und verließ das Gebiet am Ende des Krieges als Kleinkind. Sie wuchs in Hanau auf und lebte lange in Frankfurt. Sie ist also in keiner Weise selbst betroffen, sie ist eine „Wahlvertriebene“, oder wie es der Kabarettist Matthias Richling einmal ausdrückte: „Bekenntnisschlesierin“. Trotzdem vertritt sie im Verhältnis zu Polen stark rechtskonservative Positionen. Die sind aber eben nicht auf einen landsmannschaftlichen Hintergrund, sondern auf eine eigene rechte Einstellung zurückzuführen. Nur wenn man dies weiß, kann man die derzeit neu entflammte Diskussion um Frau Steinbach und ihre Äußerungen von einer tatsächlich persönlichen Betroffenheit lösen, die man den wirklich aus ihrer angestammten Heimat vertriebenen Menschen zubilligen muss.

Was ist geschehen? Zwei Vertriebenenvertreter, Arnold Tölg und Hartmut Saenger, haben in den letzten Jahren immer wieder von sich Reden gemacht. Es sind die Vertreter des Vertriebenenbundes im Beirat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Bei verschiedenen Gelegenheiten haben sie die Position vertreten, dass Polen schon im März 1939 gegen Deutschland mobil gemacht habe und damit Hitler einen Vorwand zur Kündigung des Nichtangriffspaktes geliefert habe. Außerdem erklärten beide, zwar habe man zurecht Deutschland wegen seiner Vertreibungspolitik nach dem zweiten Weltkrieg verurteilt, die Staaten aber, die Millionen Deutsche vertrieben hätten, seien nie zur Rechenschaft gezogen, Deutsche Vertriebene nie entschädigt worden. Natürlich erhob sich ein Sturm der Entrüstung in vielen Teilen der Gesellschaft, auch in der Union, der beide Politiker angehören. Nur Frau Steinbach erklärte öffentlich, die beiden Vertriebenenvertreter in Schutz zu nehmen und fügte hinzu: „Ich kann es nun einmal nicht ändern, dass Polen schon im März 1939 mobil gemacht hat.“ Die Antwort ist der empörte und reflexhafte Versuch, Frau Steinbach mundtot zu machen, ohne inhaltlich und gelassen auf ihre Äußerung zu reagieren. Dann nämlich müsste man auch unangenehme Dinge sagen, Dinge, die so scheinen, aber eben nur so scheinen, als würde man rechtes Gedankengut vertreten.

Im März 1939 hatte das deutsche Reich mit brutaler persönlicher Gewalt, gegen den tschechischen Präsidenten Hacha gerichtet, Böhmen und Mähren annektiert. Wenige Tage später gab Litauen aus Angst vor einem deutschen Angriff das Memelland zurück ans deutsche Reich. Die Angst ging um in Europa, die Angst vor einem Krieg, und man hatte den ersten Weltkrieg noch im Gedächtnis. Nach diesem ersten Weltkrieg war nach über 120 Jahren der zersplitterung und Unterdrückung der polnische Staat neu entstanden. Genau wie Deutschland wurde Polen in den dreißiger Jahren von einer nationalistischen Regierung geführt, deren starker Mann Außenminister Oberst Beck war. Seit 1934 herrschte offiziell Freundschaft zwischen beiden Staaten, es gab einen Freundschaftsvertrag. Während Deutschland das Saargebiet zurück ins Reich holte, das Rheinland militärisch besetzte, sich Österreich einverleibte, das Sudetenland an sich riss, die Tschechoslowakei zerschlug und das Memelgebiet zurück erhielt, herrschte Ruhe mit Polen. Diplomatische Beobachter wussten aber längst, dass man einmal ausgesprochenen deutschen Forderungen nur begegnen konnte, wenn man sich auch bereit zeigte, seinen Standpunkt auch zu verteidigen. Beim Sudetenland hatte die Welt ebenso stillgehalten, wie zuvor bei Österreich und hernach bei der Tschechoslowakei und bei der Annexion Böhmens und Mährens. Als die deutsche Reichsregierung wenige Tage nach Abschluss ihrer Operation in der Tschechoslowakei der polnischen Regierung informell den Vorschlag machte, über die Rückgabe Danzigs an Deutschland und die Bereitstellung einer exterritorialen Straße und Eisenbahnlinie vom Reich durch Polen nach Ostpreußen zu verhandeln, schlugen in Warschau die Alarmglocken an. So hatte es im Sudetenland auch begonnen, diese Krise hatte zum Ende der Tschechoslowakei geführt. Deutschland erhob territoriale Forderungen. Danzig war nach dem ersten Weltkrieg zur freien Stadt erklärt worden, gewissermaßen einem eigenen Staat unter Verwaltung des Völkerbundes. Zwischen Ostpreußen und dem Reich lag der sogenannte polnische Korridor, den man durchqueren musste. Deutschland wollte nun Danzig zurück und eine eigene Straße und Eisenbahn durch polnisches Gebiet haben. Diese „Vorschläge“ wurden am 27. März 1939 in größter Geheimhaltung diskutiert, wie französische Diplomaten in Berlin und Danzig berichteten. Zusätzlich schlug Deutschland Polen vor, sich dem Antikomminternpakt anzuschließen. Die polnische Regierung, die das Drama in der Tschechoslowakei genau verfolgt hatte, reagierte mit einem kategorischen „nein“ auf die Anfragen aus Berlin. Zum Zeichen, dass man entschlossen war, sich jeder möglichen deutschen Aggression entgegenzustellen, wurden militärische Verteidigungsmaßnahmen ergriffen: Bereitschaft der kleinen Luftwaffe, Requirierung privater Fahrzeuge für militärische Zwecke, Alarmbereitschaft der Armee und Verstärkung der Truppenpräsenz in Ostpommern, nahe der Grenze zu Deutschland. Von einer allgemeinen Mobilmachung in Polen im März 1939 kann allerdings nicht gesprochen werden, höchstens von einem Signal an die Naziführung, dass man sich den deutschen Forderungen nicht kampflos beugen würde. Außerdem machten auch in diplomatischen Kreisen Gerüchte die Runde, Deutschland wolle Danzig entweder am 1. April oder spätestens am 20. April, bei der Monstermilitärparade zu Hitlers 50. Geburtstag, zurückerobern. Die Truppenverlegungen und die Erhöhung der Alarmbereitschaft waren rein defensive Maßnahmen, die auch in den Augen der deutschen Reichsregierung, abgesehen von der Propaganda, keine ernsthafte Bedrohung darstellten. Gleichzeitig reiste der polnische Außenminister Beck nach London und holte sich die Garantieerklärung Großbritanniens, Polen im Falle eines deutschen Angriffes zu unterstützen. Nun begann Deutschland mit einer Propagandaschlacht gegen Polen, um sich als Opfer polnischer und britischer Großmachtpolitik darstellen zu können und Polen zum Nachgeben zu bewegen. Eine Mobilmachung, die Hitler einen Vorwand hätte geben können, hat es nach der Quellenlage nicht gegeben. Allerdings muss man durchaus anerkennen, dass aufgrund der vorhergegangenen Ereignisse eine Dynamik entstanden war, die auf einen Krieg zusteuerte. Schuld, wenn man es denn so nennen will, am Ausbruch des zweiten Weltkrieges hatte auch die viel zu lange viel zu nachgiebige Haltung der Weltmächte gegenüber Hitler, und ein polnisches nationalistisches Regime, das sich durch die britische Beistandserklärung all zu sicher fühlte. Ich würde aber eigentlich nicht von Schuld, sondern von Angst und einer grausamen Logik sprechen. Es war logisch, dass man in Polen glaubte, nur durch harte Ablehnung und Entschlossenheit Hitler Einhalt gebieten zu können, und zwar zum frühest möglichen Zeitpunkt. Damit war man allerdings verwundbar und konnte von Deutschland als Aggressor bezichtigt werden, was bis heute in den Vertriebenenverbänden nachwirkt. Nicht Polens Maßlosigkeit, Deutschenhass und die Truppenmobilmachung bestimmten den Fahrplan zum Krieg, sondern Hitlers Wille, Lebensraum im Osten zu erringen. Seine Politik war darauf angelegt, die Nachbarstaaten zum für ihn günstigsten Zeitpunkt so zu reizen, dass sie ihm einen Vorwand für kriegerische Handlungen lieferten. Sie traf allerdings keine Schuld, denn auch bei nachgiebigerer Haltung hätten sie deutsche Militäraktionen nicht verhindert. Insofern sind die Äußerungen der Vertriebenenvertreter gerade deshalb gefährlich, weil sie so logisch klingen, aber die Art der geplanten deutschen Aggression, der schrittweisen Erhöhung der Spannungen und der Provokationen vollständig ignorieren. Polen war für Hitler immer berechenbar, und der „Führer“ brauchte sich vor dem in militärischer Hinsicht rückständigen Nachbarland nie zu fürchten. Auf die Reaktion Englands und Frankreichs kam es an, und auf die Sowjetunion, die man zum Stillhalten bewegen musste. Vielleicht hätte ein demokratisches Regime in Polen anders gehandelt, vielleicht wäre es gelassener gewesen, hätte nicht seinerseits mit provozierender Propaganda geantwortet. Am letztendlichen Verlauf hätte das nichts geändert, wie das Beispiel Großbritanniens und Frankreichs zeigt. Diese Wahrheiten muss man den Vertriebenenvertretern entgegenhalten, die mit einfachen Mitteln versuchen, die Verantwortung für den Ausbruch des zweiten Weltkrieges von Deutschland abzuwälzen.

Viel schwieriger und politisch brisanter steht es mit der zweiten Äußerung, dass nämlich Vertreibung nach dem zweiten Weltkrieg mit zweierlei Maß gemessen worden sei. Denn hier muss man ganz klar sagen, dass es stimmt. Auch viele unschuldige Deutsche sind aus Polen und der Tschechoslowakei vertrieben worden, ohne dass sie bis heute eine Entschädigung erhalten hätten. Und die Wahrheit ist, dass dies unrecht ist. Die Angst davor, dass Rechtspopulisten daraus Kapital schlagen könnten, darf uns nicht daran hindern, die Wahrheit zu sagen. Es hat die Vertreibungen gegeben, ebenso wie es Zwangsarbeit von Deutschen in Polen, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion gab, und auch die immer wieder erwähnten Vergewaltigungen an deutschen Frauen ist zumindest nicht nur Greuelpropaganda. Aber was sagt das über heute? Natürlich hat man nach dem Krieg mit zweierlei Maß gemessen, natürlich hat es eine Art Siegerjustiz gegeben, nicht weil Deutsche zu unrecht verurteilt worden wären, die Urteile waren durchaus korrekt, sondern weil eben nur einseitig geurteilt wurde. Nur ist es unsinnig, heute, nach 65 Jahren, noch eine Entschädigung oder gar die Rückgabe der sogenannten Ostgebiete zu verlangen. Von Größe und Menschlichkeit würde zeugen, wenn man auch diese Verbrechen und Greueltaten nicht vergessen würde, wenn man aber die Versöhnung in den Vordergrund stellen würde. Warum sollen es nicht wir sein, wir Deutsche meine ich, die angesichts unserer eigenen Erfahrungen mit dem Aufrechnen aufhören, einen Schlussstrich ziehen und sagen: „Wir kämpfen gemeinsam dafür, dass so etwas in der Zukunft nicht mehr passiert?“ Und wenn man für begangenes Unrecht eine Entschuldigung erhält, wäre es dann nicht gut, diese Entschuldigung anzunehmen und sich künftig um die Zukunft zu kümmern, ohne die Vergangenheit zu vergessen? Ja, Frau Steinbach aus Hanau, Ja, Herr Tölg und Herr Saenger, es hat diese Vertreibungen gegeben, sie waren Verbrechen. – Punkt. – Alle wissen das, und es war schrecklich. Und ja, es wäre unsinn, Rechtfertigungen anführen zu wollen. Daraus hat sich der Status quo ergeben. So wie Serbien die Schlacht auf dem Amselfeld im 14. Jahrhundert nicht rückgängig machen kann, so können wir die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges nicht rückgängig machen, und die allermeisten von uns wollen das auch nicht mehr. Wer heute in Polen, in Schlesien und Ostpommern oder im ehemaligen Preußen leben will, der soll dies tun, wenn er oder sie sich mit der Landschaft als Heimat der Vorfahren verbunden fühlt, Polen ist Mitglied der EU. Geschichtliche Entwicklungen lassen sich nicht zurückdrehen. Und was Entschädigungen für deutsche Vertriebene angeht, so finde ich, dass sie im Geiste einer brüderlichen gemeinsamen Zukunft darauf verzichten sollten. Vielleicht macht dies auch den Weg frei für eine vom Herzen kommende Entschuldigung.

Gefährlich sind die Äußerungen von Frau Steinbach und ihrer Anhänger nicht, weil sie in jeder Hinsicht unwahr wären. Wenn sich die Medien und die Politiker mit reflexartiger Ablehnung und Empörung auf sie stürzen, verhelfen sie dem rechten Gedankengut nur zu einem Anker, denn was von den Etablierten abgelehnt wird, muss doch irgendwie wahr sein. Gefährlich sind die Aussagen, weil sie wahre Elemente beinhalten, natürlich mit Propaganda vermischt, aber wir sind nicht in der Lage, mit diesen wahren Elementen umzugehen, aus Angst, man würde uns in eine rechte Ecke stellen. Dabei ist Wahrheit, soweit diese objektiv zu ermitteln ist, der Schlüssel zur Versöhnung und für eine bessere Zukunft in einem friedlichen Zusammenleben. Den Wind kann man den rechten Hetzern nur dann aus den Segeln nehmen, indem man die Tatsachen nicht abstreitet, nicht nur mit pathetischer Empörung reagiert, sondern das Augenmerk auf die Zukunft richtet und darauf, wie unmöglich es ist, Geschichte zurückzudrehen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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