Stuttgart und die Welt

Gestern abend kam es in vielen Städten der Bundesrepublik Deutschland und sogar im Ausland zu Protesten gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, vor allem aber gegen den gestrigen brutalen Einsatz der Polizei gegen Jugendliche. Auf Twitter war der Teufel los, und es gab Stimmen, die den gestrigen Tag als Beginn eines allgemeinen politischen Aufruhrs in Deutschland bezeichneten. Leider sehe ich das in mehrerlei Hinsicht ganz anders.In Stuttgart will man, Bund, Bahn, Land und Stadt, einen neuen Bahnhof bauen. Alle, auch die Gegner des Projekts, sind sich über die Notwendigkeit einer Renovierung und Erweiterung des Bahnhofs einig. Nun hat man seit 20 Jahren ein Riesenprojekt geplant, das aus dem Kopfbahnhof Stuttgart einen unterirdischen Durchgangsbahnhof machen, das Ganze mehr an den Flughafen anbinden und der Stadt die oberirdische ehemalige Gleisfläche städtebaulich erschließen soll. Kostenpunkt inzwischen zwischen 5 und 8 Milliarden Euro, wovon der Bund knapp 2 Milliarden tragen soll. Es ist ein riesiges Projekt, dass bis Ende 2019 fertig sein soll. Dass es umstritten ist, ist keine Frage, es scheint, als sei die Mehrheit der Stuttgarter dagegen, ein Volksbegehrensantrag von mehr als 60.000 Menschen wurde vom Stadtrat abgewiesen, und die Gegner behaupten, dass eine Mafia aus Politikern, Bahnfunktionärern und Bänkern das Projekt zu ihrem eigenen Nutzen unbedingt durchsetzen will. Der Protest nimmt ständig zu, und in den letzten Monaten erreichte er mehr und mehr die Medien. Das ist eigentlich alles, was man über das Projekt wissen muss, bis auf die Tatsache, dass gestern die Polizei mit Wasserwerfern und Pfefferspray, mit Schlagstock und bloßen Fäusten gegen jugendliche Demonstranten und auch ältere Menschen vorging, um den Schlosspark zu räumen, in dem 300 Bäume gefällt werden müssen, um die notwendige Grundwasserabsenkung durchzuführen. Mehr als 100 Verletzte hat es gegeben, und man spricht von den schwersten unprovozierten Polizeiprügeleien seit 1968. Die Republik ist geschockt, das Innenministerium behauptet, es habe Steinewerfer gegeben, musste die Behauptung aber wieder zurücknehmen. Heute Morgen titelte die Tagesschau „Proteste gegen Stuttgart 21 in der Nacht weitgehend friedlich“. Damit wurde der mögliche Unruheherd den Demonstranten und nicht der Polizei zugeschoben, und schon sind die Bösen wieder die Bürger und nicht der in diesem Falle extrem brutale Staat.

Der Polizeieinsatz war brutal und überstieg meiner Ansicht nach das rechtlich zulässige Maß an Gewalt und Rücksichtslosigkeit bei weitem. In einem Rechtsstaat sollte und muss es Konsequenzen geben. Dass Bürger gegen diesen Polizeieinsatz in Massen protestieren und demonstrieren finde ich verständlich, und die Betroffenen haben meine vollste Solidarität.

Nachdem ich dies nun gesagt habe, kann ich die anderen Gedanken äußern, die sich in meinem Kopf befinden.

In Stuttgart wird ein Bahnprojekt durchgeführt. Ein überteuertes, ein finanziell und verkehrstechnisch unausgewogenes, meinetwegen, aber eben ein Bahnprojekt. Eines mit Feststellungsverfahren, Anhörungen, Gerichtsentscheidungen und normalen Prozeduren, selbst wenn hier und da getrickst worden sein sollte. Trotzdem gingen erst hunderte, dann tausende von Menschen auf die Straße, schließlich sogar zigtausende, um es zu verhindern. Die Polizei fuhr einen Einsatz, der in der ganzen Republik spontane Protestkundgebungen hervor rief, obwohl die Leute selbst gar nicht betroffen waren. So prima das im Grunde ist, so sehr frage ich mich, warum beim Bahnprojekt funktioniert, was bei sozialer Ungerechtigkeit nicht funktioniert. Bei einer DGB-Aktion gegen das Sparpaket der Bundesregierung waren wir vor ein paar Wochen in Marburg zu zehnt. Seit Monaten gibt es Montagsdemos gegen „Stuttgart 21“, aber wo bleiben, 20 Jahre nach der deutschen Einheit und der so viel gerühmten DDR-Revolution, die Montagsdemos von Millionen gegen die soziale Ungerechtigkeit, gegen Kinderarmut, Arbeitslosenstigmatisierung, AKW-Laufzeitverlängerung, Gesundheitsreform und all die anderen Hämmer unserer Politik? Wo bleiben die Betroffenen, die mit sich solidarisierenden Massen der Regierung in Berlin zeigen, dass das Volk mehr ist als Stimmvieh und Kulisse? Wo bleiben die Bürgerinitiativen und Großdemonstrationen in allen deutschen Großstädten, nachdem wochenlang offen über Arbeitsverweigerer und Drückeberger debattiert wurde? Wie schrieb es ein Twitteraner: „In Frankreich hätte man Scheiße vors Parlament gekippt, in Deutschland schauen wir nachmittags Talkshows mit Arschlöchern.“ Deutlicher kann man es nicht mehr sagen.

Ich bin entsetzt über die Macht der Sensationsmedien. Sie bestimmen, wofür oder wogegen sich Menschen engagieren, Hauptsache es gibt eine coole und sensationelle Schlagzeile, die Auflage und Geld bringt. Darum geht man gegen „Stuttgart 21“ auf die Straße und veranstaltet einen Krimi mitsamt Polizeiknüppeln, bleibt aber bei der faktischen Kürzung der Bezüge für die Ärmsten der Armen zuhause. Oder um es vom Geld unabhängig zu sagen: Wenn jemand anderen Menschen die Würde nimmt und sie aufs heftigste Beschimpft, kann er trotzdem noch Regierungsmitglied sein.

Was ist es nur, das Menschen dazu bringt, sich aufzuraffen und sich zu engagieren? Warum nur funktioniert es beim Widerstand gegen ein Bahnprojekt, nicht aber bei der Rettung der fundamentalen Grundlagen unseres Landes, bei der Erhaltung der Lebensgrundlage jedes einzelnen Menschen? Dem Bahnprojekt kommt in Medien und Öffentlichkeit ein überdurchschnittliches Maß an Aufmerksamkeit zu. Dazu stehe ich, und dagegen wehre ich mich. Unbewiesene Behauptungen eines FDP-Abgeordneten im Fernsehen, ein drittel der rund 7 Millionen Hartz-IV-Empfänger seien arbeitsscheue Drückeberger, die man aktivieren müsse, bleiben in der Öffentlichkeit unwidersprochen, setzen sich aber in den Herzen der millionen Fernsehzuschauer fest.

Wir sind es, die entscheiden, wem wir unsere Aufmerksamkeit widmen. Wir entscheiden, in welchem Land wir leben wollen, wie die Gesellschaft aussehen soll. Wir, so abgedroschen sich das auch anhören mag, sind das Volk.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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5 Antworten zu Stuttgart und die Welt

  1. Eva sagt:

    deinen Gedankengang kann ich gut nachvollziehen. Trotzdem stimme ich ihm nur teilweise zu.

    wichtig ist für uns alle, in welcher Umwelt wir leben, und das meine ich sowohl sozial als auch ökologisch. Insofern verstehe ich die stuttgarter Demonstranten und auch die Ausweitung der Proteste. Aus meiner ganz persönlichen Beobachtung heraus sage ich, dass der „Volkszorn“ aber schon länger brodelt. Zwar wird kräftig in den Massenmedien die Propaganda gegen die sozialen Unterschichten geschlagen, und es bleibt nicht aus, dass jemand diesem schlagrhythmus folgt. Aber wenn ein Münchner straßenbahnfahrer gegenüber fahrgästen äußert, er hätte gerne die RAF zurück (von mir selbst erlebt vor mehrreren Monaten), dann weist das doch in eine ganz andere Richtung als die von der Massenmedien-Propaganda gewünschte. Das gibt mir Hoffnung, dass doch die Chance besteht, bei einer Bevölkerungsmehrheit bewusstseinsbildend einzuwirken. Stuttgart war ein Auslöser, ein Aufhänger. Wenn wir es schaffen, die Menschen dafür zu sensibilisieren, worum es wirklich geht, dann gelingt vielleicht die Wende zum besseren.

  2. ebook leser sagt:

    Wenn man die Bilder im TV zum Vorgehen der Polizei zu Stuttgart 21 sieht, denkt man nicht daran, dass dies in Stuttgart, im Musterländle ist. Das sieht eher nach Demonstrationniederschlagungen in Südafrika aus. Jetzt bin ich mal gespannt, wie die Politik aus dieser Nummer wieder rauskommt. Zur Zeit wird versucht, dass man Tatsachen schafft. Vielleicht schaffen die Wähler bei der nächsten Landtagswahl auch Tatsachen. Wir werden sehen.

  3. Pingback: The Bertrams (Penny Books) | Best Horror Books

  4. Lisette sagt:

    Ich habe diesen schönen Artikel bei mir verlinkt (https://37quadrat.wordpress.com/2011/01/16/dans-la-rue/), ich hoffe, das geht in Ordnung!

  5. Pingback: Dans la rue « 37 Quadrat

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