Die Schande von Srebrenica – Ein erster Schritt zur Gerechtigkeit?

Am 5. Juli 2011 hat ein niederländisches Berufungsgericht den niederländischen Staat für die Ermordung dreier Muslime in der ehemaligen UN-Schutzzone Srebrenica verantwortlich gemacht. Nach der Eroberung durch die bosnisch-serbische Armee waren sie am 13. Juli 1995 vom Gelände der niederländischen Blauhelmsoldaten in Potocari verwiesen worden, obwohl man zu diesem Zeitpunkt bereits mit ihrer Ermordung rechnen musste. Ist dieses Urteil ein erster Schritt hin zu einer offenen und gerechten Aufarbeitung der niederländischen Mitschuld am Völkermord von Srebrenica?

Viele Linke auch in Deutschland bestreiten bis heute, dass es das Massaker von Srebrenica überhaupt gegeben hat. Sie weigern sich ebenso beharrlich, den Völkermord einer offiziell links genannten Regierung anzuerkennen, wie sich vieleDeutsche weigerten, den Völkermord der Nazis in den dreißiger und vierziger Jahren anzuerkennen. Für viele, auch die westlichen Staaten, wäre es so einfach, wenn man belegen könnte, dass das Massaker von Srebrenica nie stattfand. Aber die 10.000 Hinterbliebenen, die sich unter dem Namen „Mütter von Srebrenica“ zusammengefunden haben, kann man nicht übersehen. Ihre Männer, Väter und Söhne sind nachweislich tot, und sie gehörten ebenso aktenkundig zu den 20.000 Menschen, die sich noch am 11. Juli 1995 in der UN-Schutzzone Srebrenica aufgehalten haben. Diese Familien und ihr Leid als Propaganda gegen das arme Serbien abzutun, halte ich für zynisch und menschenverachtend. Nicht einmal die heutige „Republika Srpska“, der serbische Teilstaat Bosnien-Herzegowinas, leugnet das Massaker von Srebrenica, das seine Truppen begangen haben, noch offiziell. Nun wird es die ewigen Beschwörer westtlichen Unterdrückungswillens geben, die sagen, dass die serbische Teilrepublik in Bosnien zu diesem Schuldanerkenntnis gezwungen wurde. Spätestens da aber, wo man einfach nicht wahr haben will, was tausende und abertausende von Menschen in Augenzeugenberichten erzählen, hört jede sachliche Diskussion auf und fängt das politische Ränkespiel auf dem Rücken der Opfer an, zu dem nicht nur rechte Kräfte fähig sind.

Für die Niederlande ist der „Fall von Srebrenica“ ein nationales Trauma geworden. Spätestens seit die näheren Umstände der niederländischen Verstrickung in die Ereignisse im Juli 1995 bekannt geworden sind. Als man erfuhr, dass niederländische Blauhelmsoldaten die muslimisch-bosnischen Flüchtlinge in der UN-Schutzzone beleidigten, dass sie offen mit der serbischen Kriegstaktik sympatisierten, dass sie zumindest tatenlos zusahen, als nach der Einnahme von Srebrenica Familien getrennt und Männer reihenweise abgeführt und öffentlich ermordet wurden, war die Öffentlichkeit schockiert. Seit rund 10 Jahren findet in der niederländischen Gesellschaft eine Diskussion über dieses Thema statt, die noch kein Ende gefunden hat. UN-Soldaten, die ihre unterernährten und mit wenig sanitären Anlagen ausgestatteten Schutzbefohlenen mit den Worten ansprechen: „Dein Arsch stinkt nach Scheiße“, das ist für viele Menschen zurecht nur schwer zu verdauen.

Man muss zugeben, dass sich die Soldaten bei der Einnahme von Srebrenica in einer verzweifelten Situation befanden. Die Serben hielten Blauhelme als Geiseln fest, weswegen Generalleutnant Bernard Janvier, der französische Oberbefehlshaber der Blauhelme, auch keine Luftunterstützung schicken wollte, obwohl ihn Oberst Thom Karremans, der niederländische Befehlshaber in Srebrenica, darum gebeten hatte. Gegen die 20.000 einmarschierenden Serben konnten die 200 Niederländer nichts ausrichten. Doch nach einem Gespräch Karremans mit dem bosnisch-serbischen General Ratko Mladic halfen die Blauhelme, Männer und Frauen voneinander zu trennen. Die Frauen wurden auf das Gebiet gebracht, das von bosnischen Regierungstruppen kontrolliert wurde, die Männer wurden offiziell einer Überprüfung unterzogen, ob sich unter Ihnen Kriegsverbrecher befänden. Die niederländische Bataillonsführung ließ eine Liste von 239 Männern erstellen, die für die Blauhelme gearbeitet hatten, und die man mitnehmen wollte. Mladic hatte keine Einwände. Doch bei der Erstellung dieser Liste kam es zu unglaublichen Szenen. Dem Übersetzer der Blauhelmsoldaten, Hasan Muhanovic, wurde erklärt, er dürfe ein Mitglied seiner Familie auf die Liste setzen: Sich selbst, seinen Vater oder seinen jüngeren Bruder, den er schließlich auswählte. Weil die Liste so nie zur Anwendung kam, ist Muhanovic selbst der einzige männliche Überlebende seiner Familie.

Als zunächst die Frauen, dann die Männer, insgesamt rund 20.000 Menschen, das Gelände der Blauhelme in Potocari verlassen hatten, kamen die ersten Gerüchte über Massenermordungen auf. Blauhelme fanden erst einzelne, dann Gruppen von Toten, und schließlich hörten sie Gewehrfeuer im Abstand von wenigen Minuten, dass nur geplante Massenerschießungen bedeuten konnte, da es zu diesem Zeitpunkt schon keine Kriegshandlungen mehr gab und die Gewehrschüsse mit Regelmäßigkeit erfolgten. Zu diesem Zeitpunkt, es war der Mittag des 13. Juli 1995, hielten sich noch drei Familien auf dem Gelände in Potocari auf, darunter Rizo Mustavic mit seiner Frau und seinen zwei Kindern. Er arbeitete seit anderthalb Jahren für die Blauhelme als Elektriker, war aber nicht von den Vereinten Nationen angestellt, sondern von der Gemeinde Srebrenica. Als er die Bataillonsführung darum bat, bleiben zu dürfen, weil er Angst um sein Leben und das Leben seiner Familie habe, antwortete man ihm, dass alle Leute das Gelände verlassen müssten, die nicht direkt für die UN arbeiteten. So verließ die Familie Mustavic am späten Nachmittag das Gelände in Potocari, woraufhin Rizo Mustavic von bosnisch-serbischen Truppen gefangengenommen und ermordet wurde.

Jetzt endlich, nach 16 Jahren, hat ein niederländisches Gericht den Staat der Niederlande für den Tod Mustavics und zweier weiterer Männer verantwortlich gemacht. Als sie vom Gelände geschickt wurden, wussten die Blauhelme bereits, dass viele Männer der Bevölkerung ermordet wurden, dass die Trennung und Selektion die Vorbereitung eines Massakers war. Der Staat behauptete, man habe die Leute nicht mitnehmen können, aus Angst, beim Abmarsch hätten auch Blauhelmsoldaten wegen der mitgeführten Zivilisten sterben müssen. Aber Ratko Mladic hatte bereits zu erkennen gegeben, dass die Leute, die für die Blauhelme gearbeitet hatten, das Gelände verlassen konnten.

Leider stellt das Gericht ausdrücklich fest, dass es sich nicht zur allgemeinen Schuld oder Mitschuld der Niederlande oder der Soldaten der Blauhelmtruppe äußern wird. Es seien die speziellen Umstände dieser Fälle, die eine Verantwortlichkeit des Staates begründeten. Aber immerhin ist ein Anfang gemacht.

In Srebrenica fand das erste große Kriegsverbrechen auf dem europäischen Kontinent nach Ende des 2. Weltkrieges statt. Die Niederlande und die Vereinten Nationen trifft eine Mitschuld. Das gesamte Konzept der UN-Schutzzonen hätte nur dann Sinn gehabt, wenn man auch bereit und in der Lage gewesen wäre, diese Zonen gegen serbische Angriffe zu verteidigen. So waren sie nicht viel mehr als Lippenbekenntnisse ohne praktische Auswirkung. Opfer war die muslimische Bevölkerung in den von Serben beanspruchten Gebieten. Rücksichtslos wurden sie von einer nationalistischen Führung und paramilitärischen Truppen angegriffen und ausgerottet.

Heute entdecken viele Linke ihr Herz für Muslime, die in der westlichen Welt einem generellen Misstrauen ausgesetzt sind. Im Fall Srebrenica aber werden sie selbst Opfer dieser Vorbehalte, in diesem Fall weigern sie sich anzuerkennen, dass serbische Truppen und Milizen einen systematischen Vernichtungskrieg führten. Weil die politische Szene so von Ideologien beherrscht wird, ist es unglaublich schwer, Gerechtigkeit und Wahrheit zu erreichen.

Ein Anfang ist gemacht, und es gibt niederländische Politiker, aber auch einfache Soldaten, die sich für ihre Fehler entschuldigen. Soldaten kommen heute immer wieder nach Srebrenica und berichten auch über ihre frühere menschenverachtende Einstellung gegenüber der dortigen Bevölkerung. In den letzten Jahren haben sich einige von ihnen öffentlich entschuldigt. Sie könnten ein Beispiel für Andere sein, die wesentlich mehr Schuld auf sich geladen haben.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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