Die Diskriminierungsfalle

Seit rund 2 Jahren gilt in Deutschland und auch in den Nachbarländern die sogenannte UN-Behindertenrechtskonvention. Menschen mit Behinderungen sollen gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, wie alle Nichtbehinderten behandelt werden und nicht diskriminiert werden. Tolle Ideen, zumindest in der Theorie. Aber so mancher selbst ernannte Menschenrechtswächter tappt dann auch schon mal in die Diskriminierungsfalle, wie jüngst in Österreich.

Die Bekleidungsfirma Palmers zeigt in ihrem neuen Werbespot unter dem Motto „Sinnlichkeit, die man fühlt“ eine attraktive Frau, die sich genüsslich mit Dessous bekleidet, ein schickes Kleid überzieht, eine Sonnenbrille aufsetzt und ganz zum schluss einen Blindenstock in die Hand nimmt und das Haus verlässt. Dabei wird die Frau dargestellt als eine sinnliche Person, die den Stoff der Unterwäsche fühlt und genießt, darin offenbar sehr erotisch aussieht und sich wohl fühlt. Am Schluss erst erfährt der Zuschauer durch den Blindenstock, dass sie nichts sieht. Ein schon an sich bemerkenswerter Spot. Wenn man dann auch noch erfährt, dass er unter Mitwirkung der „Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs“ entstanden ist, dann könnte man auf den Gedanken kommen, dass es sich um eine gelungene Aktion handelt. Endlich wird eine blinde Frau als eine ganz normale Frau dargestellt, so wie sie ist. Warum sollten sich blinde Frauen nicht für Unterwäsche von Palmers interessieren, warum sollten sie deren Qualität nicht fühlen, warum sollten sie sich nicht Sexy finden? Genau das, was wir fordern, oder? Mitglied der Gemeinde sein, ganz normaler Mensch, nirgendwo ausgeschlossen. Auch nicht bei der Werbung. Und zu zumindest meiner großen Überraschung gibt es den Werbespot auch als Film mit einer Bildbeschreibung, einer sogenannten Audiodescription. Ein Schritt vorwärts in eine gleichberechtigte Zukunft, könnte man meinen.

Ganz anders sieht das der ÖBSV, der größte Selbsthilfeverband der Blinden und Sehbehinderten in Österreich. Für ihn stellt der Spot eine Diskriminierung dar: Von behinderten Menschen, insbesondere Frauen. Palmers behaupte zu unrecht, behinderte Frauen seien in erster Linie Frauen und nicht Behindert. Dies nennt der ÖBSV eine Unverschämtheit, nur die Betroffenen könnten entscheiden, wo ihre Prioritäten liegen. Außerdem seien behinderte Frauen gewissermaßen einer doppelten Diskriminierung ausgesetzt, und die Verknüpfung von Behinderung und Sexualität verstoße gegen die Prinzipien des Werberechts. Deswegen hat die Selbsthilfeorganisation den Werberat angerufen und fordert den ORF auf, den Spot nicht zu senden.

So weit die Fakten.

Nun kann man sich über das Frauenbild in der Werbung streiten. Oft werden Frauen in entwürdigenden Posen dargestellt, meist wie Sexualobjekte ausgestellt und gezeigt. Es ist für mich keine Frage, dass man gegen Auswüchse in dieser Hinsicht vorgehen kann und muss. Der Werbespot von Palmers zeigt allerdings nur, welchen Anspruch die Firma an ihre Produkte hat: Sie sollen sinnlich sein, vielleicht auch anregend und sexy. Grundsätzlich darzustellen, dass einer Person ein Produkt gefällt, ohne dabei in die Irre zu führen, muss meiner Ansicht nach erlaubt sein.

Für mich ist die Tatsache, dass eine blinde Frau Werbeträgerin für Palmers-Unterwäsche ist, eine absolute Neuheit. Sensibel und doch so normal wie möglich hat die Firma einen mutigen Schritt getan. Sie zeigt eine blinde Frau, zugegeben eine hübsche und gut situierte, bei einer absolut alltäglichen Verrichtung, die blinde Frauen nicht anders machen würden als sehende Frauen. Und diese Werbung stellt die Behinderung nicht in den Vordergrund. Natürlich ist ein Teilaspekt der Behinderung wichtig, nämlich dass die Frau die Wäsche fühlt, während sehende Menschen vor allem hinsehen. Aber nicht der negative Aspekt von Behinderung, also ein Mangel, steht hier im Vordergrund, sondern ein sonst oft vernachlässigter Aspekt, das Fühlen, der Stoff, das Gefühl. Bei einer Werbecampagne darauf zu setzen halte ich für eine echte Neuheit.

Und wie wird dieser Mut belohnt? Mit unsäglichen Schmähungen eines Blindenverbandes, über die ich nur den Kopf schütteln kann. Wie gesagt: Auch ich habe Probleme mit der Darstellung von Frauen in der Werbung, aber das hat für mich nichts mit der Behinderung zu tun. Eine Diskriminierung aufgrund der Behinderung liegt hier gerade eben nicht vor. Wenn sich der ÖBSV aber über den Satz beschwert, dass blinde Frauen zunächst einmal Frauen seien und nicht in erster Linie blind, dann kann ich das nur noch absurd finden. Sind es nicht die Blindenverbände, die Behindertenverbände überhaupt, die seit Jahren in die Köpfe der Menschen hämmern wollen, dass Menschen mit Behinderung auch erst einmal Menschen sind, dass Behinderung nicht ihre Haupteigenschaft ist? Einer Firma, die genau das verstanden hat, diesen Paradigmenwechsel zum Vorwurf zu machen ist für mich nur ein Versuch, Publicity zu bekommen, und es ist die reflexhafte Reaktion jener, die an allem und jedem etwas auszusetzen haben wollen, einfach weil sie glauben, dass behinderte Menschen nur schlechtes erfahren. Dass bei einer derartigen Haltung immer weniger Menschen Lust haben, behinderte Menschen ganz normal darzustellen, kann ich fast verstehen.

Sicher: Das Model, das bei Palmers die Unterwäsche im Spot präsentiert, ist nicht wirklich blind. Allerdings nur deshalb, weil bei einem weltweiten Casting kein blindes Model gefunden wurde, sagt Palmers, was von der beratenden Hilfsgemeinschaft bestätigt wird. Dass die Frau möglicherweise ihren Stock nicht ganz so bewegt, wie blinde Menschen es tun würden, mag für Insider wichtig sein, den meisten Menschen wird es nicht einmal auffallen.

Als weiteren Punkt im Diskriminierungsvorwurf führt der ÖBSV an, viele blinde Frauen lebten am Existenzminimum, könnten sich Palmers-Produkte nicht leisten, und der Spot gehe an der Wirklichkeit blinder und sehbehinderter Menschen vorbei. Nun muss ein Werbespot für eine Unterwäschemarke grundsätzlich keine Sozialkritik üben. Selbst wenn es stimmt, dass sich nur ein sehr kleiner Teil der blinden Frauen Palmers-Unterwäsche leisten kann, ist das kein Ausschlusskriterium für die Werbung. Sie zeigt ja keine Horde blinder Frauen, die die Palmers-Geschäfte stürmen. Dann würde ich das möglicherweise anders beurteilen. Wenn man eine mögliche Wirklichkeit in dem Spot nicht mehr wiedererkennen könnte, könnte ich die Kritik ansatzweise verstehen. Aber ich könnte mir auch viele gutaussehende junge blinde Frauen vorstellen, die monatelang auf einen solchen Einkauf sparen. Es geht nicht darum, über die sozialen Verhältnisse Blinder etwas auszusagen, zumindest nicht bei Palmers. Es ist kein Vergehen, keine Diskriminierung blinder Menschen, wenn sie die Situation der Betroffenen implizit besser darstellen, als sie in vielen Fällen ist. Wäre dem so, dann wäre ein Werbespot mit einer weiblichen Führungspersönlichkeit als Werbeträgerin ebenfalls eine Diskriminierung.

Der ÖBSV hat dem Anliegen der Inklusion, der selbstverständlichen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, keinen Gefallen getan. Eine Kontroverse hätte es bei diesem Spot nicht geben sollen, allenfalls Lob, zumindest was das Thema Behinderung betrifft. Stattdessen zeigt die Reaktion, wie weit die Betroffenen selbst noch von ihrer Inklusion entfernt sind. Vielleicht hat der Verband aber etwas gelernt, denn seine Pressemitteilung zu diesem Thema ist bereits heute nicht mehr im Internet zu finden.

Auch Heiko Kunert äußert sich zu diesem Fall in seinem Blog.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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Eine Antwort zu Die Diskriminierungsfalle

  1. Thorn sagt:

    Die Werbung kenne ich nicht, aber nach Deiner Beschreibung sehe ich das genauso wie Du – klingt eher nach was recht ansehnlichem…
    Mir wuerden locker eintausendundeine wirklich abwertende Szenen einfallen, vielleicht nicht unbedingt zu Unterwaesche, aber beispielsweise zu Reinigungsmitteln oder Versicherungen oder Flachbildschirmen oder zu Ueberraschungseiern oder… 🙂
    Ach doch, krasse durchsichtige Unterwaesche krieg ich auch hin… 🙂
    Also, der Ö-Dingenskirchen-Verein soll mal auf’m Teppich bleiben.

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