Nach dem Schuldenschnitt: Neue Diskussion um europäische Verfassung

Hurra! Die Griechenlandkrise ist vorbei, plötzlich geplatzt, und jetzt kann man sich wieder über eine EU-Verfassung streiten, meint zumindest Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Denn schließlich sei Europa mehr als Krisenbewältigung.

Solltte der ehemalige FDP-Chef hier tatsächlich einmal etwas vernünftiges gesagt haben? Kann man sich nach der Beseitigung des griechischen Problems nicht wirklich der dringend notwendigen Erweiterung europäischer Strukturen und Institutionen zuwenden? Ist es nicht mehr als geboten, dass man endlich erkennt, dass gemeinsame Aufgaben auch gemeinsam gelöst werden müssen, und dass die Zeit überbordender Nationaltümelei endgültig vorbei sein muss?

Zunächst einmal ist die griechische Finanzkrise keineswegs ausgestanden. Vernünftige Politiker warnen bereits vor einer solchen Annahme, die von den Medien zumindest im Augenblick gern verbreitet wird. Zwar haben sich die Griechen mit 85 % ihrer Gläubiger auf eine Umschuldung geeinigt, doch die rigiden Sparmaßnahmen, die Zinsen für die EU-Rettungsgelder und der durch die Einsparungen erfolgte vorhersehbare wirtschaftliche Einbruch in Griechenland sorgen für schnelle neue Schulden. Das Land wird neue Kredite aus privater hand brauchen, und so ist der jetzt verkündete Schuldenerlass vermutlich nur eine kurzfristige Maßnahme zur „Beruhigung der Märkte“. Das ist nämlich auch die am häufigsten zitierte Folge der „guten Nachricht“.

Vielleicht möchte Guido Westerwelle ja von diesen wirtschaftlichen Problemen ablenken, wenn er jetzt mit 8 anderen Außenministern der 27 EU-Staaten über eine mögliche europäische Verfassung spricht. Kernpunkt seiner Vorschläge ist ein vom Volk gewählter europäischer Präsident. Ob dieser aber überhaupt irgendwelche Kompetenzen haben soll, und wenn ja, welche, ist bislang vollkommen unklar. Auch will der Außenminister die neue Verfassung von den Völkern der Mitgliedsstaaten beschließen lassen und die brüsseler Institutionen stärken. Man merke auf: Nicht die Straßburger Institution, also das Parlament, soll gestärkt werden, sondern die brüsseler Bürokratie und Regierungsapparatur. Dem Volk will man offenbar mit der Wahl eines internationalen Grüßaugust einen Brocken hinwerfen. Vermutlich hofft Westerwelle, dass so die Akzeptanz für europäische Strukturen und wirtschaftsfreundliche Politik steigen wird. Eine Politik, die demokratische Grundfreiheiten und soziale Bürgerrechte nach und nach zurückfährt.

Natürlich befindet sich die EU in einem Dilemma. Noch viel mehr als die Nationalstaaten lebt sie das Prinzip einer „Postdemokratie“, wie es unter Anderem der katholische Sozialethiker Prof. Friedhelm Hengsbach einmal formulierte. Entscheidungen werden von Lobbyverrbänden in den Ministerien ausgehandelt und von den Parlamenten dann nur noch formal korrekt aber ohne jede echte Beteiligung abgenickt. Auf europäischer Ebene ist eine solche Vorgehensweise sogar Vertragskonform, das europäische Parlament hat bis heute längst nicht genügend Mitbestimmungsrechte, um von halbwegs demokratischen Entscheidungsverfahren sprechen zu können. Eine europäische Verfassung, die an den Grundstrukturen der Gemeinschaft nichts ändert, kann so nur bloße Makulatur sein. Zu einer echten europäischen Verfassung fehlt den Entscheidungsträgern hingegen der Mut, und derzeit glaube ich auch nicht an eine entsprechende Mehrheit in der europäischen Bevölkerung. Zu viel Unmut hat die Europaidee durch ihre praktische Umsetzung in den letzten Jahrzehnten auf sich gezogen. Der „real existierende Europäismus“ enttäuscht bis heute die Anhänger einer föderalen, demokratischen und nachhaltigen europäischen Integration.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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