Das Ende des politischen Idealismus

Noch vor 30 Jahren wäre der Rücktritt einer Regierung, wie er sich jetzt beispielsweise in den Niederlanden ereignet hat, eine Chance gewesen. Eine Chance, politisch eine neue Richtung einzuschlagen, andere Konzepte auszuprobieren. Heute scheint es alternativlos zu sein, den Weg der gestürzten Regierung weiterzugehen, und nur Geert Wilders kann sich politisch profilieren, und zwar als Idealist, der er nicht ist.

Wenn man die Idee der repräsentativen Demokratie ernst nimmt, so besteht ihr Vorteil darin, dass das Volk die Wahl zwischen echten Alternativen hat, dass also von ihm die Staatsgewalt ausgeht. Der zweite Vorteil ist, dass gewählte Politiker in ihren Handlungen eben nicht an Volksweisungen gebunden sind, sondern frei nur nach ihrem Gewissen entscheiden können. Diese innere wie äußere Freiheit, die nur vom Gewissen und der Verfassung begrenzt wird, schafft jene Spielräume, die ein guter Politiker ausfüllen kann. Er selbst kann etwas bewegen, und dies motiviert ihn, sich zu engagieren, echte Ideen zu entwickeln, Alternativen zu formulieren. Wenn man den Gedanken der repräsentativen Demokratie ernst nimmt, so verbindet sich in ihm durchaus das Mitbestimmungsrecht des Volkes mit der Möglichkeit für den Einzelnen, seine fachliche Kompetenz in den Dienst der gemeinsamen Sache zu stellen.

Die heutige politische Wahrheit jedoch ist traurig. Denn der Politiker modernen Typs ist zwei Zwängen unterworfen, die ihm alle Spielräume nehmen. Der eine Zwang kommt von innen. Es ist das Gieren und Starren nach der Macht. Die ständige innerliche Frage, wie man sie bekommt und wie man sie sich erhält. Dabei ist dieser Zwang zur Macht eine Fessel, denn ein machtbewusster Politiker riskiert nichts, was ihn die Macht kosten könnte, und somit besitzt er sie zwar, übt sie aber nicht aus, beschränkt sich selbst und lässt seine Spielräume ungenutzt. Denn nicht Macht um der Veränderung willen ist sein Streben, sondern Macht um des Machterhalts selbst willen. Es bedürfte persönlicher Größe und eines risikofreudigen Mutes, diese innere Fessel abzustreifen. Doch es kommt die Äußere dazu, die dauerhafte, gebetsmühlenartig wiederholte Alternativlosigkeit politischen Handelns angesichts nie nachlassender wirtschaftlicher Krisen und Zwangssituationen. Seit in Deutschland das Wirtschaftswunder der fünfziger und sechziger Jahre durch eine normale, zyklische Wirtschaftsentwicklung abgelöst wurde, verloren die Politiker die Freiheit zu echten Alternativen, kurz gesagt: Sie wurden erpressbar. Die letzte deutsche Regierung, die echten Willen zur Veränderung zeigte, war die Regierung von Willy Brandt. Alles, was danach kam, folgte den scheinbar alternativlosen Gegebenheiten moderner Wirtschaftspolitik.

Am Beispiel der Niederlande können wir gerade hervorragend beobachten, wie Politik heute funktioniert. Zum einen ist da die erschreckende Erkenntnis, warum rechtspopulistische Parteien so viel Zulauf in der Bevölkerung erhalten. Neben ihren ewig gleichen Sündenböcken, die sie durchs Dorf treiben, ist es diese suggerierte Unabhängigkeit von wirtschaftlichen Diktaten, die sie so attraktiv für eine verunsicherte Bevölkerung macht. Es ist ihre implizierte Behauptung, nach der Macht zu greifen, um tatsächlich durchgreifende Veränderungen anzupacken, ihr Versprechen, den modernen Politzirkus aushebeln, zumindest aber nicht mehr mittragen zu wollen. Geert Wilders behauptet nun, er habe das Sparpaket der niederländischen Minderheitsregierung, die er tolerierte, nicht mehr mittragen können, weil es die Rentner massiv benachteilige. Man kann ihm glauben, er muss als Opposition keine Alternativen vorlegen. Vor allem aber behauptet er, er wolle sich keinem unsinnigen Spardiktat aus Brüssel beugen, sondern tun, was im Interesse des eigenen Landes und für seine Bewohner notwendig ist. Damit punktet er, denn die Forderung der EU nach Einhaltung der Neuverschuldungsgrenze von 3 % des Bruttoinlandsproduktes empfinden viele Menschen als ungerecht und falsch, eben als Diktat aus Brüssel. Da hilft es wenig, dass die EU-Kommission zurecht darauf hinweist, dass die Mitgliedsstaaten sich diese Pflicht selbst auferlegt haben, und dass die Kommission nur über die Einhaltung dieser Kriterien wacht. Trotzdem trügt der Schein, vor allem der soziale Heiligenschein, mit dem sich Geert Wilders nun gürtet. Hätte er die alleinige Gestaltungshoheit, würde auch er von den scheinbar unumgänglichen politischen Zwängen eingeholt. Auch er würde, allein um des Machterhalts willen, alternativlose Politik machen.

Zum Anderen ist zu beobachten, dass das hektische politische Tauziehen, das seit einigen Tagen in den Haag herrscht, von zwei Faktoren wesentlich bestimmt wird: Erstens steigen die Zinsen für niederländische Staatsanleihen, und zweitens drohen die Ratingagenturen damit, dem Land den begehrten AAA-Status bei seiner internationalen Kreditwürdigkeit zu entziehen. Diese Drohungen sind es, die alle Parteien derzeit dazu bewegen, das unmenschliche Sparpaket der mitte-rechts-Regierung, an dem sie gescheitert ist, als alternativlos anzusehen. Alle sind bereit, den größten Teil der Maßnahmen umzusetzen, um die Märkte und die Ratingagenturen zu beruhigen. Kein Wunder, das in dieser Situation Geert Wilders wie ein Held wirkt.

Was aber wäre die Alternative zum jetzt favorisierten rigorosen Sparkurs? Was wäre überhaupt die Alternative zur heutigen Wirtschaftspolitik? Natürlich brauchen wir Stabilität, gut funktionierende Unternehmen und einen Anreiz für kreative Köpfe, der durchaus in persönlichem Gewinn bestehen kann. Es geht mir also nicht um planwirtschaftliche Ideen. Aber auch die Marktwirtschaft bietet Alternativen. Man kann ihre komplexe Struktur durchaus von 2 Seiten betrachten, das Ziel einer positiven und nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung durchaus auf zwei Arten erreichen wollen. Einmal, und das wäre für mich die richtige, stabilere und dauerhaftere Methode, kann man den Verbraucher stärken und ihm ermöglichen, einen gesicherten Lebensstandard zu genießen und dementsprechend zu konsumieren. Güter des täglichen Bedarfs werden immer benötigt, die wirtschaftliche Kerntätigkeit wäre nie bedroht. Oder man kann die Wirtschaft so betrachten, dass nur dauerhaft gute Verhältnisse für Geldanleger und Unternehmer eine Gewähr für wirtschaftliche Stabilität bringen. So denken die Ratingagenturen. Das Ziel eines Geldanlegers ist es allerdings, am Ende mehr Geld zu haben als zu Beginn. Es geht ihm nicht darum, das Geld für Veränderungen oder Notwendigkeiten des täglichen Bedarfs zu reinvestieren, sondern es geht ihm einzig um den Gewinn. Gewinn für sich selbst und für die, die ihn beauftragen, Personen und Personengruppen, die selbst bereits über den größten Teil des vorhandenen Kapitals verfügen. Großbanken begreifen ihr einstiges Kerngeschäft, die Verwaltung des Geldes der Bevölkerung in deren Dienst, als lästig, sie zocken lieber mit kaum verständlichen Derivaten herum. Die Ratingagenturen und die allgegenwärtigen Märkte drohen der Politik, dass sie ihre Bonität verliert, finanziell wie im Vertrauen der Spekulanten und Großkapitalisten, wenn sie nicht dem Diktat gehorcht, ein für die Geldhaie möglichst angenehmes wirtschaftliches und politisches Klima zu schaffen. Die Sparmaßnahmen der niederländischen Regierung beispielsweise hätten die Kaufkraft des einfachen Bürgers massiv geschwächt, gleichzeitig aber wären die Beschränkungen für Unternehmen und Banken weiter gelockert worden. Das zentrale Planungsbüro des Landes, ein finanz- und wirtschaftspolitisches Beratergremium der Regierung, hat die Kaufkraftverminderung festgestellt, und sie hat Geert Wilders unter Anderem zum Rückzug bewogen. Ganz gleich, ob er diesen Schritt nur aus wahltaktischen Erwägungen heraus getan hat, es war der richtige Schritt. Denn die guten Bedingungen für Kapitalanleger nützen dem Bürger nichts. Dass meiste Geld fließt nicht in die Schaffung von Arbeitsplätzen, denn es fehlt ja der heimische Absatzmarkt. Ganz offen können die Wirtschaftsführer sagen, dass es sich immer weniger lohnt, in Ländern zu investieren, wo die Kaufkraft sinkt. Trotzdem folgt die Politik diesem Weg, denn die Alternative wären mehr Staatsschulden, und dem schieben die Ratingagenturen mit ihren Drohungen einen Riegel vor.

Mutige Politiker einer repräsentativen Demokratie müssten spätestens jetzt die Reißleine ziehen. Allerdings müssten es Politiker mit Idealen sein, keine fantasielosen Technokraten. Es fehlt ein politischer Idealismus, der jenseits dogmatischer Handlungsschablonen neue Wege sucht und ausprobiert. Das kann einen politisch das Überleben kosten. Und wenn es schon keine neuen Ideen gibt, dann sollte man wenigstens das Wohl der Bevölkerung in den Vordergrund rücken. Steigerung der Kaufkraft, ein Existenzminimum für Jedermann, das hält die Unternehmen am Leben. Das Prinzip, dass die Wirtschaft dem Menschen diene, muss das heutige Prinzip, dass Politik und Arbeitnehmer der Gier weniger verpflichtet sind, ablösen. Nur eine umfassende Bildung und eine Erziehung in humanistischem und solidarischem Geiste kann darüber hinaus dafür Sorge tragen, dass kommende Generationen wieder Ideen entwickeln könnten, wirtschaftliche Fachkompetenz, politische Leidenschaft und die Pflicht gegenüber der Bevölkerung, von der doch die Staatsgewalt offiziell ausgeht, zu verbinden.

Natürlich dürfen wir uns nicht täuschen: Auch politische Idealisten schaffen kein Paradies, und wir, die wir diesen Idealismus fordern, würden mit vielem, was er hervor bringt, gründlich hadern und ins Gericht gehen. Aber bereits das Ende der propagierten Alternativlosigkeit kann nur ein Segen sein. Keine Politik ist je frei von wirtschaftlichen Zwängen, bildet doch die funktionierende Wirtschaft die Lebensgrundlage eines Volkes. Aber diese Wirtschaftlichen Zwänge müssen eben auch diesem Ziel dienen, die Lebensgrundlage zu erhalten, und zwar für alle. Wirtschaft als Solches kann nicht vornehmlich privat sein, sie ist immer eine allgemeine Verpflichtung. „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ So sagt es das Grundgesetz im Artikel 14 Absatz 2. Dorthin sollten wir zurück. In dieser Hinsicht sollte die Politik tatsächlich alternativlos sein. Doch eine Kehrtwende ist nicht leicht. Wer kann so viel politischen Idealismus und Gestaltungswillen noch aufbringen? Kommen dafür nur alte Politiker in Frage, die die 80 längst überschritten haben? Sind nur sie noch so erzogen und gebildet, dass ihnen solche Gedanken nicht von vorne herein fremd sind? Aber sind es nicht auch diese Politiker wie Helmut Schmidt und andere, die man jetzt so sehr lobt, die uns in diese Lage gebracht haben?

Der erste und wichtigste Schritt hin zu neuem politischem Idealismus müsste sein, die Barrieren und Grenzen im Denken zu überwinden, die Zwänge für einen Moment nicht zu sehen, von denen sich alle beherrscht glauben. Natürlich hat es Folgen, wenn die Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit eines Landes herabstufen. Viele Menschen lassen sich von einer solchen Entscheidung beeinflussen, und sie wird zur selbsterfüllenden Voraussage. Aber trotzdem muss man es doch wagen. Die Banken muss man regulieren und ihrem Kerngeschäft zurückgeben, die Finanztransaktionen müssen besteuert werden, das finanzielle Existenzminimum muss erhöht werden, was die Kaufkraft stärkt. Personen mit höchsten Einkommen müssen ihren Möglichkeiten angemessen am Steueraufkommen beteiligt werden, ohne sie prozentual stärker als die niederen Einkommen zu belasten. Eine Regierung, die solche Maßnahmen sich auf die Fahne schriebe, wäre eine wohltuende Alternative zur alternativlosen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik unserer Zeit.

 

„Die Zeit“: Die Gier ist wieder da.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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