Sie haben kein Recht, wir sind das Volk!

Die folgenden Gedanken machte ich mir am Abend vor den Blockupy-Protesten. Es wäre zu hochtrabend, sie ein persönliches Manifest zu nennen, aber es geht schon in die Richtung.

Die Angst vor der Zukunft und das Gefühl, macht- und wehrlos zu sein, sind die besten Garanten dafür, dass sich niemand wehrt und die Macht nicht in die eigenen Hände nimmt. Wir wissen es, aber es reicht nicht, um aktiv zu werden. Seit Jahren sehen wir, wie immer mehr Menschen arm werden, wie die Tafeln immer mehr Zulauf bekommen, wie die Bildung immer schlechter wird, wie die Erziehung vernachlässigt wird, wie Gleichgültigkeit gegenüber der Umwelt und den Mitmenschen immer mehr um sich greift. Wir erkennen schaudernd, dass sich kaum noch jemand für die eigenen Belange interessiert, dass das politische und gesellschaftliche Engagement abnimmt und dass der gesellschaftliche Zusammenhalt schwindet. Auch ist uns bekannt, dass auf der anderen Seite die Großunternehmen unglaubliche Gewinne einfahren, dass Banken spekulieren und Spekulanten Unsummen verdienen. Wir sehen staunend zu, wie Milliarden in Sekunden verschleudert werden, während Kinder hungern, Menschen ohne Arbeit ihrer Würde beraubt werden und der einst so mühsam erarbeitete Wohlstand dahin schwindet. Wir sehen es und prangern es an, aber mehr geschieht nicht. Sie haben uns so weit, dass wir uns kaum zu demonstrieren trauen, dass es keinen Generalstreik gibt, keine wirklichen Massenproteste wie noch zu Zeiten der Friedensbewegung vor 30 Jahren. Sie haben uns so weit, dass jeder des Nächsten Feind ist, jeder des Nächsten Neider. Sie spielen uns gegeneinander aus und streichen die Gewinne unser aller Arbeit ein. Wir wissen es, aber wir haben nicht die Kraft, mehr zu tun als zuzusehen und dagegen an zu schreiben. Die aber, die dagegen auf die Straße gehen, die wenigen, die mehr tun als die Meisten von uns, die werden kriminalisiert. Es müsste viel mehr geschehen, um diesem Treiben Einhalt zu gebieten.

Vor 20 Jahren noch waren die Computer zu schwerfällig, um den Banken pro Sekunde Millionengewinne bei Börsenspekulationen zu ermöglichen. Und wenn die Politiker auch nicht anständiger waren, so hatten sie doch weniger Möglichkeiten. Mehr Menschen kannten und vertraten ihre Rechte. Heute erfasst mich manchmal Verzweiflung, wenn ich mich umsehe. Warum glauben stets mehr Menschen, dass Politik sie nicht betrifft? Warum machen sie es denen, die nur auf ihren eigenen Vorteil sehen, so einfach?

Wir sehen, wie sie uns täglich unsere verfassungsmäßig garantierten Rechte rauben, aber dies ist nur die halbe Wahrheit. Wir haben auch verlernt, für diese Rechte zu kämpfen, und wir überlassen ihnen kampflos das Feld. Heute ist eine engagierte Demonstration groß, wenn sie 5.000 Menschen zählt. Vor 30 Jahren mussten es 500.000 Menschen sein. Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder anderen staatlichen Schikanen hindert uns, für unsere Rechte einzutreten. Arbeitslosigkeit bedeutet das Ende der Zukunft und Stigmatisierung und Kriminalisierung. Darum nehmen wir sinkende Löhne und Verzicht hin, denn nur so, heißt es, können wir die Krise überwinden, diese Dauerkrise, für die es keine Lösung zu geben scheint außer weiteren Verzicht von denjenigen, die ohnehin nicht viel haben.

Dogmatiker schmettern Parolen, doch die meisten Menschen bleiben vor dem Fernseher und schauen Kuppelshows im Privatfernsehen, wo es Menschen gibt, die noch weiter unten auf der Leiter sozialer Akzeptanz stehen als man selbst. Andere schreiben im Internet, dieser neuen journalistischen Wunderwaffe, doch wer liest heute noch Blogs? Und wenn: Wer konsumiert nicht nur?

Ich will nicht in einer Gesellschaft leben, die vor Gleichgültigkeit, Angst und Ungerechtigkeit erstarrt und zerfällt. Zerfällt, weil die Bindungskräfte systematisch gelöst werden, um Herrschaft und Gewinn zu erleichtern. Sie zerfällt, weil keiner sich mehr verantwortlich fühlt, weil die da oben mit der Macht Schindluder treiben und uns täglich zeigen, wie wenig wir ausrichten können, und weil wir ihnen täglich zeigen, wie recht sie haben und wie wenig wir noch wollen. So lange haben sie versucht, uns Werte einzubläuen, bis wir die wahren Werte von Menschlichkeit, Verantwortung und Solidarität vergaßen, bis uns Bildung, Politik und Gerechtigkeit egal waren. Ich will nicht in einer Gesellschaft leben, in der arme Kinder drei Handys besitzen, aber keine warme Mahlzeit kennen. Ich will nicht in einer Gesellschaft leben, in der jeder, den man nach aktuellen Themen und Problemen fragt, zur Antwort gibt: „Bleib mir weg damit, wir können ohnehin nichts ausrichten.“ Ich will nicht in einer Gesellschaft leben, in der eine Woche nach einer Atomkatastrophe 1000 Menschen gegen Atomkraft demonstrieren, 4 Monate später aber nur noch 10.

1920 hat ein öffentlicher Generalstreik eine Putschregierung zum Rückzug gezwungen, und das binnen weniger Tage. Dabei hatten die Putschisten einen Großteil des Militärs auf ihrer Seite. Wir wissen also, dass es geht!

Ich habe einen Traum!

Ich träume, dass wir alle, die wir die ungleichen, korrupten und ungerechten Verhältnisse ablehnen, die wir für Grundrechte, Freiheit und soziale Marktwirtschaft eintreten, dass wir alle der Politik und der Wirtschaftswelt ein lautes „NEIN!“ zurufen! Ich träume, dass wir alle so lange die Arbeit niederlegen, bis die herrschenden zum Nachgeben gezwungen werden, um überhaupt eine Ordnung aufrecht erhalten zu können. Und niemand kann uns mit rechtlichen Winkelzügen aufhalten, denn die Masse des Volkes ist einig immer stärker als die Masse der Unterdrücker. Ich träume, dass wir uns einig sind in ein paar wenigen grundsätzlichen Forderungen nach gleicher Besteuerung der Besserverdienenden, nach Besteuerung der Spekulation, nach mehr Geld für Bildung, Erziehung und soziale Sicherung, nach Stärkung der Kaufkraft, nach mehr politischer und gesellschaftlicher Teilhabe für Jedermann!!

Natürlich ist dies nur ein Traum, aber einer, der mir plastisch vor Augen steht: Kein Bus, keine Bahn fährt, die Räder stehen still, der Müll wird nicht abgeholt, es gibt keinen Strom, mit dessen Hilfe die Computer betrieben werden können, die Spekulationsgewinne machen, kein Bankautomat gibt Geld aus. Die Bevölkerung versorgt sich gegenseitig auf eigene Rechnung aus Solidarität mit dem Notwendigsten, und selbst die sollen essen, die die Dauerkrise zu verantworten haben. Mehr aber auch nicht. Nicht allein sollte jeder von uns stehen und kämpfen müssen, sondern zusammen! Gemeinsam! Hand in Hand!

Sie haben kein Recht! Wir sind das Volk!

 

 

Diese Zeilen fielen mir spontan ein. Vielleicht war die schleichende Abschaffung der Grundrechte bei der Behandlung des Blockupy-Protestes der direkte Anlass.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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Eine Antwort zu Sie haben kein Recht, wir sind das Volk!

  1. Ein ergreifender Text für jeden, der noch eigenständig denkt!
    Mein Kompliment.

    „Sie haben kein Recht!“ – wie wahr, aber sie nehmen es sich rigoros.
    „Wir sind das Volk!“ – wir wären es, doch wer ist „wir“?
    Das „Volk“ ist längst verloren gegangen im Sud einer beispiellosen Massenverblödung durch ebenso dummdreiste und gleichgeschaltete Medien in direkter Abhängigkeit von den „Machern“.
    Es fehlt an Bindung durch mangelnde Bildung – und das ist Absicht.

    Ich träume nicht mehr, aber hege dennoch einen ganz vorsichtigen Optimismus.
    Vielleicht ergänzt mein gegenwärtiger Beitrag „Die Überbewertung der schrillen Internet-Szene“, nachzulesen auf meiner Internetseite http://www.raymond-walden.blogspot.com , die hier so beeindruckenden Formulierungen von Jens Bertrams.

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