Auf der Suche nach einer guten Nachricht

Der folgende Text wurde am 26.06.2012 für den Ohrfunk geschrieben. Er ist als Sprechtext konzipiert und klingt deshalb vielleicht etwas ungewohnt für meine Blogbeiträge.

Wissen Sie: Ich habe es ja schon in den letzten Wochen zart angedeutet, und ich kann es nur wiederholen: Ich mag nicht mehr. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es geht mir nicht ans Leben oder so, ich mag einfach nur die Politik nicht mehr mit ansehen. Wahrscheinlich sagen viele von Ihnen jetzt: „Das sage ich schon seit Jahren.“ Schön für Sie! Aber ich war mal ein politisch aktiver Idealist. Was? Selbst Schuld, sagen Sie? Da haben Sie auch wieder recht. Aber das steckte halt in mir so drin. Und ich wollte auch heute wieder über ein Thema berichten, doch es fiel und fällt mir entsetzlich schwer, mich zu entscheiden. Irgendwas positives sollte es sein. – Helfen Sie mir doch mal!

Ah ja richtig: In Ägypten hat die Wahlkommission entschieden, zumindest vorläufig das zumindest vermutlich einigermaßen korrekte Ergebnis der Präsidentschaftswahl bekanntzugeben. Demnach wird Muslimbruder Mohammed Mursi erster demokratisch oder halbwegs demokratisch gewählter Präsident Ägyptens. Nun kriegen Sie nicht gleich einen Schreck, wenn sie das nicht für eine positive Nachricht halten sollten. Muslimbruder hört sich jetzt erst mal gefährlich an, ist aber nur halb so schlimm, der ist nicht so radikal, wie man glauben könnte. Aber einen festen Glauben hat er schon, und natürlich wird er auch versuchen, den in Politik umzusetzen. Das könnte jetzt eine schlechte Nachricht sein, weil der massiv gegen Israel vorgehen will und so. Aber ich habe mich entschieden, die erste demokratische Wahl in Ägypten als positive Nachricht zu bezeichnen. Bloß bringt es nichts, denn es kommen gleich zwei negative hinterher. Erstens gibt es bei den Brüdern, also den Muslimbrüdern jetzt, eine Menge radikalerer Leute als Mursi, und wer weiß, wie lange er sich gegen die durchsetzen kann. Und zweitens gibt es da auch noch den Militärrat. Das mögen Sie als einer, der vielleicht vor Muslimbrüdern Angst hat, jetzt wieder eher für eine gute Nachricht halten, ist es aber nicht. Denn der Militärrat degradiert den Präsidenten zur Witzfigur herab, der keine echte Macht hat. Das werden sich die Ägypter nicht lange gefallen lassen, und sie werden mehr und mehr gegen diesen Militärrat aufstehen und immer radikaler werden. Das macht die ganze Sache sehr explosiv. Die Muslimbrüder, die nun mal von der Mehrheit der Ägypter gewählt wurden, muss man einbinden, sie müssen stark an der Macht beteiligt werden, man muss sie respektieren. Sie gehören zu den nicht ganz so radikalen Strömungen, und man sollte sie nicht unterdrücken. Aber machen Sie das mal einem ägyptischen Militärrat klar. Sehen Sie, und deshalb rede ich heute nicht über Ägypten.

Wäre Syrien vielleicht ein Thema? Aber nein, positiv ist da gar nichts. Wer nun in Syrien selbst recht hat, ob es da überhaupt so was wie Demokraten gibt: Fragen Sie mich nicht, ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich konnte es Ihnen schon in Libyen nicht sagen, und das hat sich nicht wesentlich verändert. Was mich aber gerade wirklich aufregt ist die Sache mit dem türkischen Militärflugzeug, das über Syrien abgeschossen wurde. Man weiß ja nicht viel, aber man weiß, dass die westlichen Staaten seit Monaten versuchen, das syrische Regime in die Knie zu zwingen. Das hat bislang nicht geklappt, weil man im UN-Sicherheitsrat immer von Russland gestoppt wurde. Was macht man also jetzt? Meine Vermutung geht so: Man lässt immer wieder türkische Militärflugzeuge knapp über die Grenze fliegen und Tests durchführen und Aufnahmen machen, bis mal eins abgeschossen wird. Was im Irak die Massenvernichtungswaffen, in Afghanistan die armen Mädchen und Buddhastatuen und Terroristencamps waren, was in Libyen die armen, geschundenen Demokraten waren, das ist in Syrien ein abgeschossenes türkisches Militärflugzeug: Ein Kriegsvorwand nämlich. Die Türkei wird das Problem zumindest im NATO-Rat besprechen lassen. Entweder die NATO hat das Ganze geplant und fühlt sich jetzt angegriffen, oder man hat jetzt zumindest durch diese Aktion der Türkei und die voraussehbare Reaktion Syriens mehr Druck gegen das Regime in Damaskus in der Hand. Das ist meine Vermutung. Sie muss nicht stimmen, aber sie könnte stimmen.

Also gut, dann reden wir halt über Innenpolitik. Die Regierung und die Opposition haben sich auf die Zustimmung zum europäischen Fiskalpakt und zum Stabilitätsmechanismus geeinigt. Kriegen Sie nicht schon wieder einen Schreck, die Nachricht ist noch nicht zu Ende. Ich verstehe ja, dass Sie das jetzt nicht für den Knaller halten, aber unsere glorreiche Opposition hat ja was dafür raus geholt. Und wissen Sie was? – Wie? – Finanztransaktionssteuer? – Ach hören Sie doch damit auf, das war vor zwei Wochen, wen interessiert denn dieser Käse von gestern, das haben doch alle schon vergessen, einschließlich der Opposition und der Regierung. Nein, ich spreche von den 4 Milliarden Euro jährlich, die der Bund die Kommunen im Gegenzug zur Zustimmung der Opposition entlasten wird. Das ist doch mal eine positive Nachricht, oder?
Obwohl: Das erinnert mich irgendwie an die Finanztransaktionssteuer. Wann wird die noch mal beschlossen? Irgendwann in der nächsten Legislaturperiode, und genau so ist es auch mit den 4 Milliarden Bundeszuschuss. Die Abstimmung über Fiskalpakt und Stabilitätsmechanismus ist allerdings schon morgen und am Freitag. Warum sollte sich welche Bundesregierung auch immer nach dieser Abstimmung noch an irgendwelche Zusagen halten? Schon gar die Bundesregierung der nächsten Legislatur?

Ha! Aber ich habe noch eine positive Nachricht gefunden, über die ich berichten könnte. Sie lauerte an einem Ort, wo ich gar nicht mit ihr rechnete, nämlich im Bundespräsidialamt, sorry. Und ja: Sie hat mit Fiskalpakt und Stabilitätsmechanismus zu tun. Denn ganz egal, wie Bundestag und Bundesrat entscheiden: Vorerst werden die Gesetze nicht in Kraft treten. Die Linke hat dagegen einen Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht angekündigt, und deshalb wird Bundespräsident Joachim Gauck, der Neue, die Gesetze zunächst nicht unterschreiben. Merkel hat ihn versucht zu überreden, vielleicht sogar, ihn unter Druck zu setzen, aber das Gericht teilte mit, dass die Aufschiebung der präsidialen Unterschrift bei Eilanträgen gängige und erprobte Praxis sei, und Gauck hat deutlich gesagt, dass er sich daran halten wird. Damit ist es möglich, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht den Fiskalpakt und den Stabilitätsmechanismus für verfassungswidrig hält. Es hat ja auch die Bundesregierung gerügt, weil sie im Gesetzgebungsverfahren die Mitwirkungsrechte des Bundestages verletzt hat. – Gut: Konsequenzen hatte diese Rüge des höchsten deutschen Gerichts meines Wissens nach jetzt eher nicht. Aber man wird ja mal hoffen dürfen.

Schöne Krise!

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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