Wie ich als Kind den heiligen Abend verbrachte

Der „heilige Abend“. Der Tag, an dem es viel zu spät hell wird, und an dem es nicht dunkel werden will. Der Tag, an dem ich morgens in aller Herrgottsfrühe aufwache und nicht mehr schlafen kann, während meine Eltern, die ausnahmsweise mal nicht arbeiten müssen, noch immer seelig schlummern. Wenn ich doch wenigstens mein Radio einschalten oder ein Hörspiel hören könnte. Aber das würde sie wecken, und ich will, dass sie ausschlafen können, wenn sie das mal können. Mein Bruder hat es gut, ich höre ihn in der Wohnung über uns durch das Zimmer gehen. Er ist erwachsen, er kann aufstehen, wann er will.

Ich darf nicht ins Wohnzimmer. Ob das Christkind heute Nacht da war? Oder: Gibt es das Christkind überhaupt? So ganz sicher bin ich mir da nicht. Natürlich habe ich schon von Jesus gehört, aber kommt der wirklich jedes Jahr auf die Erde zurück und bringt die Geschenke? Hat ihn schon mal irgendwer dabei gesehen? Und: Werden im Himmel wirklich Playmobilstädte oder Schmuck oder Werkzeugkisten hergestellt? Bringen wirklich die Engel die ganzen Sachen auf die Welt, laufen sie durch unsere Straße? Oder fliegen sie herein? „2 Engel sind hereingetreten“, heißt es im Lied vom Weihnachtsbaum. Also muss man sie doch schon mal gesehen haben. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht sehen kann? Aber so viel sehe ich ja nun doch noch, denke ich.

Ah: Endlich! Mein Vater stehtt auf, und gleich wird auch meine Mutter aufstehen. Dann dauert es nur noch eine unglaubliche halbe oder dreiviertel Stunde, bis es Frühstück gibt. Aber ich kann mich anziehen und in die Küche gehen, um meiner Mutter Löcher in den Bauch zu fragen über meine Geschenke. Ich bin schrecklich aufgeregt. Was kriege ich zu Weihnachten?

Draußen liegt Schnee. Nachbarskinder haben gestern versucht, Knallerbsen auf den Boden zu werfen, damit es so richtig knallt, aber im Schnee ist nichts passiert. Heute könnte ich rodeln gehen, wir haben ja einen Schlitten. Und wenn Thomas kommt, mein Freund, könnte er mich durch den Schnee ziehen, und wir könnten die Hunde mitnehmen. Das würde Spaß machen, und der Tag ginge schneller rum.

Ich frage meine Mutter nach Thomas. „Ich weiß nicht, ob er kommt, das müssen wir abwarten“, sagt sie. Das ist das Schlimmste. Immer muss man warten. Auf den Kaffee, die Brötchen, den Thomas und das Christkind. Wie schrecklich! Ich will nicht mehr warten! „Wann machen wir denn Bescherung?“ frage ich meine Mutter, und zum ersten mal an diesem Tag weist sie mich streng zurecht. „Heute Abend, und das weißt du genau. Fang nicht an, mir auf die Nerven zu gehen.“ Ich bin lieber still.

Das Frühstück ist lecker, aber die Zeit geht nicht weiter. Ich kann so schnell essen. Dann stehe ich auf und gehe zur Wohnzimmertür. Über die Schwelle treten darf ich nicht, und mein Vater sitzt genau hinter mir und guckt mir zu. In der Ecke steht der große Weihnachtsbaum mit den vielen Lichtern. Nach Silvester wird mein Vater ihn hinter dem Haus einpflanzen, wo schon die Weihnachtsbäume der letzten Jahre stehen. Ganz viele Lichter und glänzende Kugeln sind darin, und meine Schwester und ich werden heute Nachmittag Lametta hineinwerfen. Das sieht schön aus, sagt meine Schwester, und es fühlt sich auch schön an. Es bleibt in den Zweigen hängen, wahrscheinlich wegen der vielen Nadeln. Normalerweise fällt alles runter, was ich irgendwo hinwerfe, aber nicht das Lametta. Der Baum jedenfalls stammt nicht vom Christkind, den haben meine Eltern gekauft.

Außer dem Baum kann ich im Wohnzimmer nichts sehen, nur das Fenster, und den Fernsehschirm, wenn er eingeschaltet ist. Ich sehe die Umrisse des Schranks, das Blau der Sessel, aber was auf den Tischen und unter dem Weihnachtsbaum liegt, wenn die Geschenke überhaupt schon da sind, das weiß ich nicht. Wenn wir Lametta werfen, muss ich das immer aus einiger Entfernung tun, und meine Schwester führt mich dann zum Baum und zeigt mir, wie es sich anfühlt.

Es klingelt! Es klingelt wirklich, und schneller als meine Mutter bin ich an der Tür.
„Na?“ sagt Thomas, kommt herein und gibt meinen Eltern die Hand.
„Wollen wir raus?“ fragt er mich dann, und ich bin einverstanden.
„Um 1 gibts Mittagessen“, ruft uns meine Mutter hinterher, und wir stürmen los. Natürlich nehmen wir die Hunde mit, unseren schwarzen Familienpudel und die Schäferhündin meines Bruders. Und ab gehts zum nahen Waldrand. Eine abschüssige Wiese eignet sich als Rodelbahn, wir haben einen Schlitten dabei. Aus dem Tal pfeift scharf der Wind, ein wenig abgeschwächt durch die Bäume am Hang. Die Züge auf der nahen Eisenbahnbrücke sind kaum zu hören, weil die Luft so wattig ist. Auch andere Kinder sind noch da, und wir fahren schnell und fröhlich die lange Wiese hinunter, ziehen den Schlitten dann wieder hinauf und fahren wieder hinunter, immer abwechselnd. Und dann kommt Thomas auf die Idee, eine Sprungschanze zu bauen. Er türmt Schnee auf, fast ganz unten am Waldrand, wo der Schlitten genug Schwung hat, um die kurze Steigung zu schaffen, und auf der anderen Seite macht er den Abgang ganz steil. Und wieder rasen wir los, während es erneut zu schneien beginnt. Und so vergessen wir die Zeit. Als Thomas auf die Uhr guckt, ist es schon fast 2 Uhr.
„Du musst nach hause“, sagt er, und wir sammeln den Schlitten und die Hunde ein und machen uns auf den Rückweg. Eigentlich will ich noch auf einen Baum klettern, aber Thomas sagt, dass das im Schnee nicht geht.
„Sag mal: Glaubst du an das Christkind?“ frage ich ihn, kurz bevor wir unser Haus erreichen.
„Quatsch, das gibt es nicht. Wie kommst du denn darauf?“
„Ich weiß nicht so genau, früher habe ich das immer geglaubt, aber ich find es komisch, dass die im Himmel Playmobilstädte bauen.“ Er fängt herzhaft an zu lachen.

In der Küche ist es warm, und meine Mutter empfängt uns mit den Worten: „Du meine Güte, ihr seht ja aus wie Schneemänner, und der Struppi…“ – unser Pudel – „… ist ja nicht mehr schwarz sondern weiß!“ Dabei lacht sie so ausgelassen, dass wir auch lachen müssen. Sie fragt Thomas, ob er bei uns essen möchte, aber er meint, auch seine Eltern würden jetzt auf ihn warten. Also verabschieden wir uns und verabreden uns für übermorgen. Morgen kommen einige Leute aus der Familie zu Besuch, und da kann ich nicht einfach abhauen. Das ist manchmal weniger schön an Weihnachten: Die Anderen unterhalten sich, und ich langweile mich schrecklich.“

Wir essen, wieder tun wir das ganz ganz langsam. Wieder geht die Zeit nicht weiter. Ich frage wohl mehrere Male nach der Uhrzeit, und von mal zu mal wird meine Mutter wütender. Ich reiße mich zusammen. Es riecht nach Schnitzeln, die es heute Abend gibt.

Dann schmücken meine Schwester und ich den Baum. Das ist schön, und wieder vergeht etwas Zeit. Meine Schwester zeigt mir ungefähr, wo ich hinwerfen soll, auch wie hoch. Ich gebe mein Bestes, und sie wird nie wütend.

Und dann macht mein Vater den Fernseher an. „Jetzt kommt die Sendung „Wir warten auf das Christkind““, sagt er, und ich setze mich hin und höre fast jedes Jahr denselben Geschichten zu, zum Beispiel der von dem Jungen, der irgendwo in den Bergen lebt und ins Tal muss, um für Weihnachten Lebensmittel einzukaufen, die ihm dann beinahe noch gestohlen werden, und der dafür den ganzen Tag unterwegs ist. Draußen wird es dunkel. In der Küche steht meine Mutter am Herd, aber ich weiß schon, dass es dann bald los geht, denn das Weihnachtsessen dauert nie lange. Schnitzel und Kartoffelsalat wird es geben, und den Kartoffelsalat hat sie gestern schon gemacht, damit er noch gut durchziehen kann.

Und endlich ruft sie uns in die Küche, der Fernseher geht aus, und wir setzen uns hin. Es wird wohl 6 Uhr sein, und meine Aufregung ist am Höhepunkt angelangt. Mein Bruder kommt die Treppe herunter, meine Oma auch, meine Schwester mit ihrem Freund ist auch da. Wir sitzen um den Tisch herum und verspeisen den leckeren Kartoffelsalat, den niemand auf der Welt so gut machen kann wie meine Mutter. Dazu ein warmes Schnitzel. Auf dem Tisch stehen 4 Kerzen, das Deckenlicht ist abgeschaltet. Ganz leise erklingt hinter mir Weihnachtsmusik. Wieso eigentlich? Vielleicht hat mein Bruder seinen Kassettenrekorder mitgebracht. Und schließlich geht die Musik aus, das Essen ist beendet, und mein Vater setzt sich ins Wohnzimmer, wo er abends immer sitzt.

Jetzt ist die Zeit, selbst Weihnachtslieder zu singen. Der Tisch wird leer geräumt, und ich spiele auf meinem Keyboard, und meine Mutter und meine Schwester singen mit. Drei oder vier Lieder fallen mir ein, ich bin viel zu aufgeregt.

Und dann, ganz plötzlich und unerwartet, erklingt aus dem Wohnzimmer ein silberhelles Glöckchen.
„Oh“, sagt meine Mutter, „jetzt war das Christkind da und wir können ins Wohnzimmer gehen.“ Die Anspannung löst sich in einem einzigen Augenblick und ich springe auf. Und im Wohnzimmer drücken wir uns alle, wünschen uns frohe Weihnachten und teilen die Geschenke aus. Meine Playmobilstadt wächst an diesem Abend, und als ich zurück in die Küche komme, stehtt da das Geschenk meines Bruders, ein nagelneuer Kassettenrekorder. Und ein paar Hörspielkassetten zum Hören sind auch schon da. Und eine Playmobil-Raumstation, bei der man ganz viel anfassen kann. Ich bin das glücklichste Kind der Welt, und ich spiele lange an diesem Abend.

Irgendwie, glaube ich, gibt es das Christkind doch. Wer hätte sonst das Glöckchen geläutet? Das muss ich unbedingt Thomas erzählen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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Eine Antwort zu Wie ich als Kind den heiligen Abend verbrachte

  1. Armin Moradi sagt:

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