18 Stunden makabre Faszination – Meine Erinnerungen an Gladbeck

Vor 25 Jahren ereignete sich die „Gladbecker Geiselnahme“, die in den meisten Medien immer noch „Das Geiseldrama von Gladbeck“ genannt wird. Mit teilweise heuchlerischer Selbstkritik erinnern die Medien an eine ihrer größten Stories der Nachkriegsgeschichte, und an ein ungeheuerliches Versagen von Journalisten und Polizei. Auch ich erinnere mich an die 18 Stunden, in denen ich das makabre Geschehen mit unwiderstehlicher Faszination verfolgte.

„Am ersten Tag, so erinnere ich mich heute, habe ich den Geschehnissen in Gladbeck keine Aufmerksamkeit geschenkt. Als am 16. August 1988 zwei Gangster die Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck überfielen, zwei Geiseln nahmen und rund 400000 Mark erbeuteten, nahm ich es eher als eine Randnotiz hin, auch wenn es eine Geiselnahme gab, auch wenn die Verhandlungen lange dauerten. Ich war sicher, daß die Bankräuber entweder einfach entkommen, oder von der Polizei an Ort und Stelle überwältigt werden würden.“

Das schrieb ich in einem Beitrag für meine Homepage im August des Jahres 2000. Ganz so einfach war es aber doch nicht. Ich war in den Schulferien in den Niederlanden, und Banküberfälle interessierten mich nicht besonders. Doch am Mittag dieses Dienstags erregte eine Meldung meine Aufmerksamkeit. Um den Druck auf die Polizei zu erhöhen, hieß es in einem Bericht des WDR, hätten die Gangster bei einem Radiosender und bei Zeitungsredaktionen angerufen und ihre Forderungen öffentlich gemacht. „Die sind aber clever“, dachte ich damals, „sie schlagen der Polizei ein Schnippchen.“ Doch den Rest des Tages habe ich die Nachrichten nicht mehr verfolgt, und auch von den Livebildern bekam ich nichts mit, die aufgenommen wurden, als die Gangster um 21:45 Uhr die Bank verließen, das Lösegeld durch eine ihrer beiden Geiseln einsammeln ließen und in einem von der Polizei präparierten Fluchtauto davon fuhren.

Am nächsten Tag, dem 17. August, hörte ich nur in den Nachrichten, dass die Geiselnehmer, die inzwischen auch Namen hatten, nämlich Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski, immer noch flüchtig seien. Immer noch seien zwei Bankangestellte aus Gladbeck in ihrer Gewalt. Es interessierte mich nicht so sehr wie der Tod des pakistanischen Präsidenten Sia Ul-Haq an diesem Tag, der die Hoffnung auf Demokratie und Freiheit in seinem Land nährte. Nur die Tatsache, dass Mittwochs in den Niederlanden keine aktuelle Hitparade im Radio lief, hielt mich lange bei den Nachrichten.

Aber dann hörte ich, dass Rösner und Degowski, scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht, einen bremer Linienbus gekapert hatten. Nun befanden sich 32 Menschen in ihrer Gewalt. 2000 schrieb ich: „Dann begannen jene dramatischen Ereignisse, die auf die ganze Nation eine unwirkliche, grausame Faszination ausübten, eine Faszination, deren Anziehungskraft drei Menschenleben fordern sollte. Aufmerksam wurde ich zu Beginn der Tagesschau um 20 Uhr. Ein Kollege, so hieß es da, habe mit einem der Geiselgängster ein Interview geführt. Man habe lange überlegt, ob man es senden wolle, doch es sei ein wichtiges Dokument, und so habe man sich zur Ausstrahlung entschlossen. Ohne jede Scheu und mit völliger Offenheit erklärte Hans-Jürgen Rösner, einer der beiden Geiselnehmer, daß er die Geiseln töten würde, wenn seine Forderungen nicht erfüllt würden. Über die beiden Bankangestellten aus Gladbeck sagte er locker: „Die sind fertig, die wollen nach Hause, und wir wollen, datt die bald nach Hause kommen.“.“

Lässig steckte er sich die Waffe in den Mund, um seine Entschlossenheit und seinen fehlenden Selbsterhaltungstrieb zu demonstrieren. Auf mich wirkte Rösner wie ein Kinoheld aus einem Road Movie. Es war eine unwirkliche Szene, wie ein nachgestellter Krimi mit überzeichneten Figuren. Während meine Mutter die Geiseln bedauerte und sich über die Tatenlosigkeit der Polizei ärgerte, beobachtete ich fasziniert die Kaltschnäuzigkeit Rösners und den Mut der Journalisten. Ich stellte mir die Situation wegen Rösners Gelassenheit ruhig vor, hatte das Gefühl, die Gangster hätten alles unter Kontrolle. Dass sie sich nur mit Aufputschmitteln auf den Beinen halten konnten, dass die Situation jederzeit für jede Geisel tödlich werden konnte, war mir allenfalls im Hinterkopf irgendwo bewusst.

In meinem Text 2000 schrieb ich weiter: „Von diesem Augenblick an blieb ich am Radiogerät. Heute denke ich oft darüber nach, warum ich das getan habe. Schon an diesem Abend, während der Linienbus mit 27 Geiseln an Bord richtung Osnabrück fuhr, ärgerte mich die Presse, die den Wagen auf Schritt und Tritt verfolgte und der Polizei jede Möglichkeit nahm, frühzeitig zuzugreifen. Fast bewunderte ich einen Reporter von RSH – Radio Schleswig-holstein -, der gegen halb elf abends ein zweites Interview mit Rösner führte, an einer Raststätte zwischen Hamburg und Bremen. Dem Reporter hörte man die Angst an. Auf die Frage, ob Rösner auch angst hatte, verneinte dieser wie der lässige Gunman. Ich kam mir vor wie in einem Krimi, und ich blieb dran, irgendwann mußte die Polizei doch zuschlagen.“

Im WDR und im Deutschlandfunk jagte eine Sondersendung die Andere. Schon damals haben mich besondere geschichtliche Augenblicke fasziniert. Also legte ich eine Kassette ein und schnitt die Nachrichtensendungen mit, nahm die Sondersendungen auf und versuchte, eine Zweitausstrahlung des Interviews der Tagesschau mit Rösner zu erwischen, was mir auch gelang. Heute bin ich keineswegs mehr stolz darauf, denn es war reine Sensationslust, die mich dazu trieb. Natürlich ging es nicht nur mir so. Der Pressetross, der den Bus verfolgte, sprach für sich. Alle wollten die Lust an der Katastrophe und die Sensationsgier ihrer Leser und Hörer bedienen. Zwei Gangster wurden zu Medienstars, 32 Geiseln zu Statisten, Verschiebemasse, Spielfiguren. Das offizielle Mitleiden der meisten Menschen mit den Geiseln tarnte nur höchst unzureichend eine gewisse schwarze Sympathie mit den Gangstern. Gerade weil sie nicht besonders intelligent waren und trotzdem die Polizei an der Nase herum führten, waren sie die tragischen bösen Helden, die zwar am Schluss fallen mussten, denen man aber ein langes Leben und viele weitere Tricks wünschte. Ich zumindest habe das für eine gewisse Zeit getan.

Aber es gab auch andere Meinungen. Ich schrieb im Jahr 2000 dazu: „In meiner Familie löste die Situation eine große Empörung aus. Das ZDF, so wurde damals behauptet, habe das Tagesschauinterview mit Rösner bei der Überspielung nach Hamburg abgefangen, um es dann selbst senden zu können. Reporter verschiedener Privatsender und vieler Zeitungen, aber auch Kommentatoren des hessischen Rundfunks und des westdeutschen Rundfunks rasten im Auto hinter dem Bus her, Stoßstange an Stoßstange, und alle wollten Interviews führen. Die Einschaltquote bestimmte das Handeln. Meine Eltern regten sich über das Verhalten der Presse fürchterlich auf, und sie taten, was ich in dieser Nacht nicht schaffte, sie drehten den Fernseher ab. Ich konnte sie verstehen, aber wie gesagt war ich auf schaurige Weise vereinnahmt von der Offenheit, mit der Rösner vor der Kamera sprach, auch wenn ich es abstoßend fand. Ich wollte mehr hören, und wenn es nur war, um mir eine Antwort auf die Frage geben zu können, wie lange der das noch durchhielt ohne verrückt zu werden und auf jemanden zu schießen.“

Dass ich die Situation völlig falsch einschätzte, habe ich teilweise erst Jahre später erfahren. Von der bremer Polizei, die den Einsatz scheute, vom gladbecker Führungsstab, der sich nicht auskannte, war erst später in den Untersuchungsausschüssen die Rede. Auch diese Mängel führten zur Katastrophe, die sich gegen 23:15 Uhr auf der Raststätte Grundbergsee ereignete. Zum ersten mal hörte ich von der Freundin von Hans-Jürgen Rösner, Marion Löblich, die sich auch im Bus befand. Als sie austreten musste, wurde sie von zwei Polizisten überwältigt und verhaftet. Rösner verlangte ihre Freilassung binnen 5 Minuten, andernfalls werde eine Geisel erschossen. Der Polizist, der Löblich festgenommen hatte, hatte das Funkgerät abgeschaltet und wurde zu spät erreicht. Beim Abnehmen der Handschellen brach der Schlüssel ab. Jedenfalls war Marion Löblich zu spät am Bus. Und Dieter Degowski hatte den 15jährigen Emanuele de Giorgi erschossen. Erst da, so schrieb ich 2000, sei meine Faszination in Entsetzen umgeschlagen, denn nun war ein Menschenleben zu beklagen.

Weiter schrieb ich: „Zwar habe ich mich immer für Geschichte und aktuelles Zeitgeschehen interessiert, aber was ich in diesen 18 Stunden tat, hatte damit nichts zu tun. … Da stand der freche, aber gelassene Geiselgängster vor laufender Kamera. Noch nie hatte ich einen Schwerverbrecher so unverblümt über seine Tat reden hören. Noch nie war die Presse so dicht am Geschehen gewesen. Ich will nicht sagen, daß ich echte Sympathie für Rösner empfand, aber ich hätte nie gedacht, daß jemand in einer solchen Fluchtsituation so weit gehen würde, seelenruhig ein Interview zu geben. Und ich glaubte aus seinen Worten zu hören, daß die Lage so weit unter Kontrolle war, daß es keine Verletzten und Toten geben würde. Ich war gespannt, wie es ausgehen würde, bis eben jener Schuß im Bus fiel, der den Jungen das Leben kostete.“

Und trotzdem blieb ich am Radiogerät, denn ich war sicher, dass die Polizei jetzt eingreifen würde und musste. Der Road Movie musste zu einem Ende kommen.

Auf einmal verschoben sich bei mir die Perspektiven. Ich will nicht sagen, dass ich mich vom Saulus zum Paulus wandelte, aber ich begann, nachzudenken. 2000 schrieb ich dazu: „Ich fragte mich, warum man das Interview mit Rösner als wichtiges Dokument bezeichnete. Eigentlich hatte er nur grausam und ohne jedes Mitgefühl über Mord gesprochen und klar gesagt, daß er die Geiseln töten würde, wenn seine Forderungen nicht erfüllt würden. Es war Irrsinn, daß die Presse in einem langen Pulk dem Bus folgte, alles im Namen der Bürgerinformation, in Wirklichkeit nur zur Befriedigung unserer grenzenlosen, schamlosen Neugier, auch der meinen. Die Geiseln waren keine Schachfiguren und Filmschauspieler, die für uns eine Rolle spielten, sie waren echte Betroffene, Opfer eines Gewaltverbrechens.“

Warum habe ich mich nicht verweigert in dieser Nacht? Warum habe ich nicht getan, was meine Eltern, kriegserfahren und abgeklärt, schon nach den Tagesthemen taten, nämlich das Radio abgestellt? Warum blieb ich auch nach dem Mord an Emanuele de Giorgi am Radio? Ich wollte mit Sicherheit das Ende kennen, so viel hatte ich bereits gehört, jetzt wollte ich wissen, wie es ausging. Der Gedanke, dass der Mann, der gestern in der Tagesschau gesprochen hatte, jetzt ein kaltblütiger Killer war, gruselte mich. Langsam erkannte ich, dass niemand sicher war, und ich begriff auch, dass die Medien die Situation erschwerten. Ursprünglich hatte ich das noch anders gesehen, denn es waren Journalisten gewesen, die in Bremen zwischen Geiselgangstern und Polizei vermittelt hatten. Auch hatten sich Journalisten um Emanuele de Giorgi gekümmert, nachdem auf ihn geschossen worden war. Aber die Beschreibungen des Pressekonvois, der dem entführten Linienbus folgte, machte erschreckend deutlich, warum die Polizei keine Chance hatte, das Drama während der Nacht zu beenden. Und noch hatte ich das Schlimmste nicht gehört. Wie für viele tausend andere Menschen auch ist die makabre Pressekonferenz in der kölner Innenstadt für mich das einschneidendste Erlebnis im Bezug auf die Rolle der Journalisten während jener 54 Stunden.

In den Niederlanden, am frühen Donnerstagmorgen, hatten die meisten Geiseln gehen dürfen. Nur die beiden 18jährigen Frauen Ines V. und Silke B. mussten mit in das neue Fluchtauto, einen BMW, der von der Polizei zur Verfügung gestellt worden war. Damit fuhren Löblich, Degowski und Rösner zurück nach Deutschland. Zunächst nach Wuppertal, dann nach Köln, wo sie in der Fußgängerzone der kölner Innenstadt parkten, weil Rösner, wie er sagte, noch nie den Dom gesehen habe. Der Parkplatz in der breiten Straße lag nur wenige Meter vom WDR-Funkhaus entfernt, und so war es auch ein WDR-Journalist, der als Erster vor Ort war. 2000 schrieb ich über das Folgende: „Als ich gegen elf Uhr am Donnerstagmorgen dieses kurze, völlig sinnlose und grausame Interview mit Silke B. hörte, das der WDR in der kölner Innenstadt mit solchen Fragen führte wie: „Wünschen Sie sich ein baldiges Ende der Geiselnahme?“, drehte sich mir fast der Magen um. In die Wohnzimmer der Deutschen kam die Stimme einer ängstlichen jungen Frau, der – wie ich später erfuhr – einer der Geiselgangster die Pistole an den Kopf hielt, während sie sprach. Daß Journalisten nun sogar offen zu Komplizen der Entführer wurden, indem sie sie fragten, ob sie vielleicht Handschellen bräuchten, erfuhr ich erst jahre später, aber es paßte in die aufgepeitschte, sensationslüsterne Stimmung dieser Tage.“

Diese Worte reichen aber nicht, zu erklären, warum ich wieder mit einer Kassette am Radio saß. Wieder nur, um das Ende mitzuerleben? Ich weiß es bis heute nicht genau. Die Aufregung des vergangenen Abends hatte sich in Angst und ein mulmiges Gefühl verwandelt, aber weghören konnte und wollte ich offenbar nicht.

Man konnte bei den verschiedenen Interviews hören, wie das Auto von Menschen umlagert und umdrängt wurde. Für einen Reporter, der zu spät gekommen war, hielt Dieter Degowski der Geisel Silke B. noch einmal für die Kamera die Pistole an die Schläfe. Die Geisel musste Fragen von öffentlich-rechtlichen Reportern beantworten wie: „Wie geht es Ihnen? Hoffen Sie auf eine baldige Befreiung? Wie fühlen Sie sich mit der Pistole am Hals?“ „Wir wurden wie Schlachtvieh behandelt“, sagte Ines V. später sinngemäß. Dann erzählte sie, dass sie bis heute nicht niedriger sitzen könne als andere Menschen in ihrer Umgebung. Solche Sätze sind es, die zumindest mir klar machen, dass der Road Movie selbst bei persönlich glücklichem Ausgang extreme Folgen für alle Beteiligten hatte. Nur wir in unseren Wohnzimmern konnten wohlig erschauern und uns gruseln, und die Presseleute konnten die Story ihres Lebens genießen, sich als Helden fühlen.

Udo Röbel hat am eigenen Leib erfahren, dass dieser Status aber auch ganz schnell wieder verschwinden kann. Damals war er stellvertretender Chefredakteur des kölner Express. Er hatte den Wächterpreis gewonnen, eine Medienauszeichnung für gute journalistische Arbeit, weil er herausgefunden hatte, dass der Bundeswehrgeneral Kiesling zu Unrecht vom
Verteidigungsministerium beschuldigt wurde, homosexuell zu sein. Röbel und seine Nachforschungen stellten die berufliche Ehre des Generals wieder her. Nun, an diesem Sommermorgen 1988, stand er in der kölner Innenstadt und wurde vom Geiselgangster Rösner gebeten, sie aus der Stadt zur Autobahn zu lotzen. Und Röbel ging darauf ein. Für ein paar Tage war er daraufhin in der Redaktion der Held, der fast bis zum Ende des Dramas im Fluchtfahrzeug gesessen hatte. Als aber die Methoden der Presse plötzlich kritisch hinterfragt wurden, mutierte Röbel bei den anpassungsfähigen Kollegen zum „Journalisten des Satans“. Was für eine Heuchelei.

Das Ende der Geiselnahme ist bekannt. Nur eine Stunde später, gegen 13:40 Uhr am 18. August 1988, versuchte die Polizei den Zugriff. Auch hier gab es verschiedene unglaubliche Pannen, und Silke B. wurde aus der Waffe von Hans-Jürgen Rösner erschossen. Wahrscheinlich löste sich der Schuss, als Rösner selbst durch eine Polizeikugel getroffen wurde. Die drei Gangster konnten überwältigt werden, Marion Löblich ist die Einzige, die inzwischen wieder auf freiem Fuß ist.

Als ich im WDR-Mittagsmagazin die erste Meldung hörte, war ich erleichtert. Dann wurde mitgeteilt, dass Silke B., die schon zuvor so hatte leiden müssen, erschossen worden war. Noch vor etwas mehr als 2 Stunden hatte sie in ein Mikrofon gesprochen, jetzt war sie tot, die Verfolgungsjagd, der Road Movie war zu ende. Bis heute bin ich innerlich nicht damit fertig. 2000 schrieb ich darüber: „Die Bilder des sogenannten Gladbecker Geiseldramas gingen um die Welt und verursachten in Deutschland eine Debatte über die Grenzen der Pressefreiheit und die freiwillige Selbstkontrolle unter ethischen Gesichtspunkten. Aber die Frage, ob man sich in gewissen Situationen nicht zurückhalten sollte, muß sich nicht nur die Presse stellen, sondern jeder Einzelne von uns. Wir sind doch diese mündigen Bürger, von denen die Politiker behaupten, daß wir zur freien Entscheidung fähig wären. Wir sind es doch, die letztlich entscheiden, was gedruckt wird, wie „dicht dran“ die Presse sein darf und welche Regeln sie einhalten muß. Wir können uns nicht hinsetzen und uns gewissermaßen vorschreiben lassen, daß die Presse sich bei spektakulären Aktionen zurückhält oder mit Tätern während der Tat keine Interviews führt, wie es die Regeln des Presserates mittlerweile vorsehen. (Gemeint war, dass Vorschriften allein nicht reichen.) Wir sind es, die in solchen Fällen unseren Unmut äußern müssen, die sagen müssen, daß die Presse nicht zu Behinderern der Polizeiarbeit und Komplizen der Verbrecher werden darf. Es ist unsere eigene ethische Grundhaltung, die es zuläßt, ja sogar fordert, daß die Presse Gangster interviewt und sich an der Polizei vorbei in mörderischem Tempo an die Stoßstange eines Fluchtautos hängt, weil wir das sehen wollen, das Gesicht und die Pistole des Täters, die Angst des Opfers. Sicherlich wollen wir mitleben, wollen uns mit den Opfern identifizieren, aber wenn es dabei dramatisch und spannend zugeht, um so besser.“

Ich arbeite heute selbst als Journalist. Abgesehen davon, dass ich nur ein kleiner Fisch bin, der Schreibtischreporter eines kleinen, idealistischen Internetradiosenders ohne finanzielle Ambitionen, läge mir der Sensationsjournalismus auch vom Wesen her völlig fern. Ich würde mich nicht trauen, einem Auto in einem Taxi hinterher zu jagen, wenn in diesem Auto jemand mit einer Pistole sitzt. Als ich einmal in eine Straßenschlacht geriet, 4 Tage nach dem Neonazi-Brandanschlag von Solingen 1993, stand ich große Ängste aus. Trotzdem habe ich Gladbeck nie vergessen. Bei allem, was ich tue, frage ich mich, ob ich es verantworten kann. Manchmal kann ich es. Als ich in unserem Sender den frei verfügbaren Film „Submission“ ausstrahlte, der den Regisseur Theo van Gogh das Leben kostete, habe ich mir das lange überlegt, mich aber für die Ausstrahlung entschieden. Ich kann mir aber auch gut vorstellen, mich gegen eine Ausstrahlung von sogenanntem brisanten Material zu entscheiden. Meiner Ansicht nach soll der Qualitätsjournalismus informieren und aufklären. Wenn ich mir heute die Ereignisse von Gladbeck, Bremen, Köln und Bad Honnef ins Gedächtnis rufe, ist mir klar, dass eine solch katastrophengeile Nachrichtenhetze nicht nötig gewesen wäre. Information über den Stand der Dinge, soweit es die Polizei nicht behindert, ist legitim. Aber bitte aus einer gewissen Entfernung. Man muss nicht in die schreckgeweiteten Gesichter der Opfer sehen um zu erkennen, dass es ernst ist. Doch Journalisten wissen, dass wir alle sensationelle Reality-Krimis lieben, solange es uns nicht selbst betrifft. Dann plötzlich würden wir uns wünschen, die Presse würde mehr Takt walten lassen.

Viele glauben, dass sich so etwas wie damals nicht wiederholen kann, weil der deutsche Presserat seinen Pressekodex verändert hat. Ein Journalist hat aber deutlich gesagt, dass er glaube, dass bei ähnlichen Voraussetzungen genau dasselbe geschehen würde, vermutlich sogar noch schlimmer. Recht hat er. Es ist unser aller Grundhaltung, die solche Exzesse möglich macht. Solange wir, die Zuschauer und Zuhörer, uns anstecken lassen von der Faszination des Bösen, solange wird es weiterhin Journalisten geben, die glauben, Bilder von gequälten Geiseln und lässigen Verbrechern bringen Geld und Prestige. Wir können die Verantwortung der Presse zuschieben, und in beruflicher Hinsicht ist das sicher auch richtig. Aber wir selbst sind es, die uns an unsere eigene Nase fassen müssen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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Eine Antwort zu 18 Stunden makabre Faszination – Meine Erinnerungen an Gladbeck

  1. Eine gelungene Betrachtung der Vorgänge hat Jens hier aufgeschrieben. Meine Erinnerungen daran finden Interessierte unter http://fjhmr.wordpress.com/2013/08/16/dramatisches-versagen-des-journalismus-die-gier-nach-sensationen-bei-der-geiselnahme-von-gladbeck/.
    fjh

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