Wir sind die Mörder von Lampedusa

In diesen Tagen wird oft über eine neue europäische Flüchtlingspolitik gesprochen. Vor kurzem sind hunderte Flüchtlinge aus Afrika vor der italienischen Insel Lampedusa ums Leben gekommen, als ihre Boote kenterten. Vielleicht halten Sie das für einen tragischen Unfall, vielleicht bedauern Sie das Leid der Menschen. Doch ich empfinde neben der Trauer und dem Entsetzen ein gerüttelt Maß an Scham. Denn der Tod dieser Menschen im Mittelmeer war Mord. Mord, nicht nur mit unserer stillschweigenden Duldung, sondern auch mit unserer Billigung und in unserem ausdrücklichen Auftrag, zum Schutz unserer ureigensten Interessen. Und niemand kann sich davon frei sprechen. Wir sind die Mörder von Lampedusa!

Sie mögen jetzt sagen, dass, wenn überhaupt, die Regierungen Griechenlands oder Italiens für die sogenannten Unglücksfälle im Mittelmeer verantwortlich gemacht werden können, nicht aber Deutschland und schon gar nicht die einfachen Bürger, so wie Sie einer sind. Es stimmt: Sie und ich, wir haben nicht die Hände ausgestreckt, haben sie nicht gegen die Wände überfüllter Boote geschlagen, damit sie kentern, haben nicht die hilflosen Menschen im Wasser treiben lassen, bis sie untergehen, verzweifelt nach Luft schnappen und in Qualen ertrinken, nachdem sie zuvor für den europäischen Traum Heimat, Freunde und teilweise Familie aufgegeben und zurückgelassen haben. Wir sitzen im tausende Kilometer entfernten Deutschland und bedauern die Tragödie, reiben uns die Augen und wundern uns über so viel Naivität der Flüchtlinge. Sie mussten doch wissen, denken wir, wie gefährlich das Meer ist, wie unsicher ihre Boote, wie unzuverlässig ihre Schlepper, wie gut ausgerüstet die Grenztruppen sind. – Und da kommen wir zum Kern der Angelegenheit.

Die europäische Union ist ein wohlhabender Staatenbund. Woher aber kommt unser Wohlstand? Zum Teil haben wir ihn in der Kolonialzeit geschaffen, in der wir Afrika, Lateinamerika und Asien teilweise ausbeuteten. Bis heute sichern wir uns durch unsere Konzerne wirtschaftliche Vorteile, von denen wir profitieren. Wir fahren mit billigem Benzin, wir essen Bananen, Orangen und exotische Fische, können teure Stoffe billig erwerben und handeln mit Diamanten und Elfenbein, um nur einige Betätigungsfelder unserer Wirtschaft zu nennen. Ganz abgesehen davon, dass wir die ausgebeuteten Erdteile ihrer natürlichen Ressourcen berauben, damit wir genug zu Essen haben und billige Produkte kaufen können, die dort durch Sklavenarbeit hergestellt werden.

Im Klartext: Wir entreißen den Menschen in der sogenannten dritten Welt die Existenzgrundlage, bieten ihnen Kredite an, um ihre Lage zu verbessern, machen sie finanziell von uns abhängig, lassen unsere Banken von den Zinsen profitieren und unterstützen korrupte Regime, weil es den Handel fördert und wir unsere Produkte dort auf den Markt bringen können, gekauft mit dem Geld, das wir geliehen haben.

So viel zur Wirtschaftlichen Schraube in unserer Hand.

Und dann, wenn die Menschen die wirtschaftlichen und auch die politischen Bedingungen in ihrer Heimat nicht mehr aushalten, wenn sie versuchen, ins gelobte Land zu kommen, wo es allen gut geht, wo sich niemand über Hunger Sorgen machen muss, wo es scheinbar keine politische Verfolgung gibt und alles im Übermaß vorhanden ist, wo man sich unglaublichen Luxus leistet, auch als kleiner Angestellter oder Arbeitsloser sogar, wenn sie also versuchen, nach Europa zu kommen, dann schicken wir ihnen unsere gedungenen Mörder entgegen, die „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“, genannt Frontex. Diese von allen Mitgliedsstaaten der EU finanzierte und bestückte Polizeitruppe verjagt im Mittelmeer überfüllte Bote, zwingt sie zurück nach Afrika, verweigert ihnen Wasser und Nahrung, wendet immer wieder auch Gewalt an, um ihre Ziele zu erreichen. Sogar Frontex selbst gibt Menschenrechtsverletzungen zu. Diese Agentur muss sich nicht an einen Menschenrechtskatalog halten, ihr einziger Zweck ist es, das Loch in der Mauer um unser Wohlstandseuropa zu schließen. Wir zeigen mit dem Finger auf den Rest der Welt, auf Russland mit seinen Straflagern zum Beispiel, aber wir selbst lösen unser sogenanntes Flüchtlings- und Asylproblem mit Methoden, die man bestenfalls als unterlassene Hilfeleistung bezeichnen kann. Für mich ist es Mord.

Und was habe ich damit zu tun als Antikapitalist, als Europakritiker, als linker Oppositioneller? Das mögen sich einige von Ihnen jetzt empört fragen. Sie werden sagen, dass Sie schon immer auf der richtigen Seite gestanden haben. Aber das sagen Sie nur, weil Sie nicht begreifen, worum es hier geht. Es geht nicht um Politik, um politisch aufrecht oder nicht, nicht um moralische Empörung in Sonntagsreden. Wenn man nichts ändern kann, ist es leicht, radikale Veränderungen zu fordern. Schwierig wird es erst dann, wenn man diese radikalen Veränderungen auch durchführen muss. Frontex und die europäische Flüchtlingspolitik mit Todesfolge gehen uns alle an. Denn es geschieht, um unser aller Wohlstand zu verteidigen. Wir sind die Profiteure dieser ertrinkenden Menschen. Wir hätten keine Geduld mit den Flüchtlingen, wir würden sie nicht friedlich in Deutschland aufnehmen, wir würden nicht unseren Wohlstand mit ihnen teilen.

Wollen Sie einen Beweis? Bitte sehr: IM November 1989 kamen Millionen Bürger der DDR in die alte BRD. Sie kauften auch Samstags die Geschäfte leer, Bananen wurden kurz zur Mangelware. Nur in der ersten Woche fanden wir das alle toll, in der zweiten Woche war es vielleicht noch verständlich, und in der dritten Woche beklagten sich viele über verstopfte Straßen und leere Regale. Und mancher fragte sich, wo die alle so viel Geld her hatten. So schlecht, implizierten sie, kann es ihnen ja drüben auch nicht gegangen sein.

Frontex ist der Vollstrecker allgemeiner menschlicher Habgier. Wir, egal ob Arbeitsloser oder Konzernchef, gehören zu den Gewinnern der weltweiten ungerechten Verteilung. Wir mögen die Menschen bedauern, die im Mittelmeer ertrinken, aber jeder von uns hat Horrorvisionen davon, was geschehe, wenn wir ganz persönlich als Bürger der ersten Welt von unserem Kuchen den Teil abgeben müssten, der den bewohnern der dritten und vierten Welt zusteht, um sie in Würde und Frieden leben zu lassen. Wir alle haben Angst: Auch der linke Politiker, der gegen Frontex wettert, auch die Leute von Pro Asyl, die das Leid wirklich lindern wollen. Aber niemand möchte die Zeiten rationierter Lebensmittel und rationierten Stroms zurück. Wir leben immer so weiter wie wir leben, bis es nicht mehr geht. Jeder von uns, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Diejenigen, die sich dessen bewusst sind, fordern Veränderungen, reden darüber, engagieren sich. Aber Angst vor globaler Umverteilung haben wir alle.

Wir sind die Mörder von Lampedusa. Denn wenn wir wirklich wollten, wären wir als Volk mächtig genug, Veränderungen herbei zu führen. Wieder mag die friedliche Revolution in der DDR das Vorbild sein. Es geht, wenn man es nur wirklich will. Dass wir es in unserem tiefsten Inneren nicht wirklich wollen, nicht aus ganzem Herzen und nicht mit ganzer Kraft, das ist unsere Schuld. Diejenigen, die auf der moralisch richtigen Seite stehen wollen, werden mir jetzt sagen: „Sprich für dich selbst, ich will wirklich die Veränderung. Ich will die Aufnahme all dieser Menschen in Europa, ich will ihre bestmögliche Versorgung, wir sind ein reiches Land.“ Ich kann ihnen nicht widersprechen, ich kann nicht in ihre Köpfe sehen. Aber die Mehrheit der Menschen ist das nicht. Die Mehrheit ist ganz tief drinnen vielleicht nicht froh, aber erleichtert darüber, dass unsere Wohlstandsmauer noch steht. Die Mehrheit ist nämlich nicht dumm. Sie weiß, dass den immer stärker wachsenden Bevölkerungen Asiens und Afrikas viel mehr Wohlstand zusteht, den wir uns seit vielen Jahrzehnten widerrechtlich unter den Nagel gerissen haben. Und das einzige, was sie hoffen können ist, dass sie den großen Umbruch selbst nicht mehr erleben müssen.

Deshalb werden im Mittelmeer vor Lampedusa, Griechenland und Malta Menschen entweder durch Nichtstun oder durch direkte Einwirkung ermordet, in unserem Namen ertränkt. Es geschieht, damit wir weiterhin im rundum-Sorglospaket leben können. Wir alle sind die Mörder von Lampedusa.

Was? Sie denken, ich werde jetzt losziehen und vor Lampedusa demonstrieren, den Polizeikräften in den Rücken fallen, mit dem Knüppel in der Hand die Öffnung der Grenzen fordern? Haben Sie mir nicht zugehört? Das einzige, was ich tue ist, diesen Beitrag zu schreiben und mir bewusst zu machen, dass auch ich zu ihnen gehöre, zu den Mördern von Lampedusa. Und ich schäme mich dafür.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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2 Antworten zu Wir sind die Mörder von Lampedusa

  1. Lieber Jens,
    weitgehend teile ich Deine Analyse. Aber das „Wir“ finde ich falsch. Wir sind keine Mörder.
    Viele Bundesbürger lassen sich den Wohlstand gefallen. Viele wählen Politiker, die die Grenzen dichtmachen und populistisch gegen Fremde wettern. Manche ziehen sogar vor Asylheime und beschimpfen die Menschen dort.
    Zu ihnen gehöre ich nicht. Auch lasse ich mir das nicht zurechnen, weil ich mich zumindest bemühe um eine andere Politik.
    Alle in einen Sack stecken und dann draufhauen ist wohlfeil. So einfach ist es nicht.
    Vielleicht unternehme auch ich nicht genug für eine menschenwpürdige Politik. Aber wenigstens gebe ich mir Mühe.
    Das „wir“ finde ich äußerst problematisch. Du selbst gehörst ja auch nicht zu denen, die alles klaglos hinnehmen.
    fjh

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