Gerade gelesen: Todesengel – das neueste Buch von Andreas Eschbach

Andreas Eschbach ist einer der größten lebenden deutschen Schriftsteller. Zu unrecht wird er als Science-Fiction-Autor bezeichnet, nur weil er auch ein paar Ausflüge in dieses Genre unternommen hat. Eigentlich beschäftigt er sich mit der Gegenwart und den Möglichkeiten, die sich daraus für die Zukunft ergeben. Dabei greift er immer wieder aktuelle gesellschaftliche Fragen auf. Die endlichkeit der fossilen Ressourcen in „Ausgebrannt“, die Problematik der Wahlcomputer und einer echten Demokratie in „Ein König für Deutschland“, gesellschaftliche Folgen und Risiken bei einer Weiterentwicklung und Beherrschbarkeit der Nanotechnologie in „Herr aller Dinge“, um nur einige seiner jüngsten Veröffentlichungen zu nennen.

In seinem 2013 erschienenen Roman „Todesengel“ wendet sich Andreas Eschbach einem aktuellen gesellschaftlichen Problem zu: Der Jugendgewalt. Als ein Rentner in einer U-Bahn-Station zwei Jugendliche auffordert, die Sitzbänke nicht mutwillig zu zerstören, schlagen sie ihn brutal zusammen und hätten ihn vermutlich einfach ermordet, wenn nicht plötzlich eine weiß strahlende Gestalt mit wehendem Haar erschienen wäre und sie ohne Zögern erschossen hätte. Auf diesen Fall, und auf drei weitere, die sich binnen einer Woche ereignen, wird ein erfolgloser junger Journalist aufmerksam. Er hätte gern schon oft den Opfern brutaler Gewalt auf den Straßen eine Stimme gegeben, doch sein Chefredakteur beschied ihm, es passe nicht ins gesellschaftliche Klima, man wolle viel lieber etwas über den Hintergrund der Täter erfahren. Nun erhält er eine Chance, eine eigene Fernsehsendung zu moderieren, die „Anwalt der Opfer“ heißt und scheinbar genau seinen Idealen entspricht.

Wie immer ist Eschbachs Roman voll von interessanten, realistisch gezeichneten Figuren. Da ist der Journalist, mit dem man angesichts seiner allgemeinen Erfolglosigkeit und seines unbestreitbaren Engagements Sympathisiert, auch noch, als man langsam begreift, dass er zu Selbstjustiz aufruft und populistisches Gedankengut vertritt, nach härteren Strafen ruft und dem „Todesengel“ ein Forum bietet. Da ist der Soziologieprofessor, ein Frauenheld und unsympathischer, hochmütiger Karrierist, der unbeirrbar an der These festhält, dass man sich für die Motive und Hintergründe der Täter interessieren muss, um wirksam gegen Jugendkriminalität vorzugehen. Da ist der Staatsanwalt, der voller Arroganz und mit dem Auftreten eines überlegenen Medienprofis auf das Gewaltmonopol des Staates pocht und versucht, die Geschichte des modernen Robin Hood, zu dem der Journalist den Todesengel stilisiert, unter dem Teppich zu halten. Und dann haben wir noch einen redlich arbeitenden Polizeikommissar, dessen Ziel es ist, seine Arbeit zu tun und sich nicht durch den Medienhype einerseits und den politischen Druck andererseits einschüchtern und einnehmen zu lassen. Die Liste der Hauptfiguren ist damit natürlich nicht abgeschlossen, aber mehr soll hier nicht verraten werden.

Beim Lesen habe ich mich dabei ertappt, dass ich eine ganze Weile lang den Ansichten meines Sympathieträgers den Vorrang vor den Ansichten der anderen Seite gab. Wie gehen wir mit der gefühlt ständig zunehmenden Jugendkriminalität um? Sicher ist es keine Lösung, die Täter einfach in flagranti zu erschießen. Aber muss man die kriminellen und gewaltbereiten Jugendlichen immer mit ihrem schlechten Elternhaus, ihrer sozialen Stellung und ihrer Perspektivlosigkeit entschuldigen? Hat nicht jeder eine Wahl? Kann sich nicht jeder aus eigenem Antrieb entscheiden, nicht gewalttätig zu werden? Muss man den Jugendlichen nicht mit klaren Konsequenzen entgegentreten, und muss man diese Konsequenzen nicht nur androhen, sondern auch bereit sein, sie eben konsequent durchzusetzen? Und müssen es nicht Konsequenzen sein, die abschrecken, über die die Täter nicht nur lachen? Auch ich habe mich, wie einige im Buch, auf eine gewisse Weise für eine Weile erleichtert gefühlt, dass jemand diese Meinung einmal öffentlich vertritt, ein Mensch, der nicht im Verdacht steht, rechtsradikal und menschenverachtend zu sein. – oder? – Auch ich habe gefühlt, dass eine solche Meinung unpopulär ist, dass sie von den herrschenden Meinungsmonopolen vielleicht nicht unterdrückt, aber diskreditiert wird. – oder? –

Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis sich mein Inneres wieder geraderückte. Natürlich wird der Ruf nach härteren Strafen nicht unterdrückt oder diskreditiert, es ist der einfache Ruf, der von einer beachtlichen politischen Strömung bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein vertreten wird, mit dem Bestsellerautoren ihr Geld machen. Aber Andreas Eschbach spielt gekonnt mit Sympathie, Eloquenz und Engagement seiner Figuren. Neben allem anderen, was in diesem Buch zur Sprache kommt, zeigt er auch auf, wie sehr politische Überzeugungen auch an die Menschen gebunden sind, die sie vermitteln. Es dauert eine Weile, bis man begreift, dass der Journalist sich verrennt, weil auch er eine Geschichte hat, die man berücksichtigen muss. Er verliert danach nicht die Sympathie, aber man hofft, dass er die Kurve kriegt. Und es dauert auch, bis man sich eingesteht, dass die Thesen von der Prägung eines Menschen durch sein soziales und familiäres Umfeld nicht weniger wahr sind, nur weil sie von einem unsympathischen, egoistischen, erfolgsverwöhnten, testosterongesteuerten Soziologieprofessor vertreten werden. Und natürlich muss das Gewaltmonopol in den Händen des Staates liegen, will man, dass eine Gesellschaft funktioniert. Selbstjustiz ist keine Lösung, sie zu verhindern ist keine Unterdrückung.

„Todesengel“ ist sicher eins der dunkelsten Bücher Andreas Eschbachs. Nicht nur, weil man dort viele Menschen trifft, die Gewalt erfahren oder erfahren haben und dadurch für ihr restliches Leben gezeichnet sind, sondern auch, weil es keine Lösungen gibt, keine jedenfalls, die schnell spürbar funktionieren. Die Verrohung, die wir alle immer wieder zu spüren glauben, tritt auch in dem Roman deutlich zum Vorschein. Dass diese gefühlte allgemeine Verrohung im Gegensatz zu den Kriminalstatistiken steht, was im Buch auch angedeutet wird, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Umgang der Medien mit Gewalt.

Natürlich gibt es neben den tiefschürfenden gesellschaftlichen Problemen auch noch die persönlichen Geschichten der Beteiligten. Man kann dem Journalisten Beim Aufblühen zuschauen, ohne dass er seinen Charakter verändert. Eschbach zeichnet seine Figuren differenziert und interessant, wenn er auch mit der Darstellung von Liebesgeschichten meiner Meinung nach ein ernsthaftes Problem hat. Seine Beschreibungen der Polizeiarbeit, des Medienrummels und der Arbeit eines Selbstverteidigungslehrers werden, wie immer bei Eschbach, gut recherchiert und anschaulich vermittelt.

Populismus, so weiß ich nach der Lektüre dieses Buches wieder, ist nichts weit entferntes, was immer nur ein Problem anderer Leute ist. Populismus geht alle etwas an, auch mich, denn er ist gefährlich und kann im Gewand scheinbar vernünftiger und einleuchtender Argumente auftauchen.

Ich kann dieses Buch nur wirklich jedem empfehlen. Es macht nachdenklich, es verfolgt einen, und es findet Schmerz und Trauer.

Andreas Eschbach: Todesengel
Erschienen im Bastei-Lübbe-Verlag, auch als E-Book und Hörbuch ISBN 978-3-8387-4509-1

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter Leben abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar