Die Demokratie ist tot, und was nun?

Den folgenden Beitrag habe ich schon Anfang April für den Ohrfunk geschrieben, aber vergessen, ihn ins Blog zu stellen. Das hole ich hiermit nach.

Ich habe in den letzten Jahren mehrfach und immer wieder gesagt, dass wir keine echte Demokratie mehr haben, wenn wir sie denn je hatten. Es wird Zeit, dieses Faktum anzuerkennen, dieses Gefecht ist nicht mehr zu gewinnen. Die Demokratie ist ein Selbstbedienungsladen für Politiker, sie wird von Lobbyisten beherrscht und vertritt nahezu ausschließlich Interessen einflussreicher Gruppen. Das Gemeinwohl ist zur Floskel verkommen, die formale Gültigkeit demokratischer Spielregeln und die Aufrechterhaltung demokratischer Institutionen ändert daran nichts. Es wird also Zeit, sich mit dem Thema „Zukunft“ zu befassen.

Die Analyse der derzeitigen Situation unserer Demokratie ist eine Sache, der man sich Stunde um Stunde, Tag um Tag, Monat um Monat widmen kann. Es ist ein schmerzlicher Prozess, zu erkennen, dass der formale,
institutionalisierte Einfluss des Volkes auf politische
Entscheidungsprozesse sinkt. Irgendwann muss man begreifen, dass das Parlament nicht der Ort ist, an dem letztlich die Entscheidungen getroffen, die Gesetze gegeben werden, sondern nur die symbolische Hülle und der öffentliche Ausdruck dieser Entscheidung. Und es ist eine an sich unnötige Abnickmaschine für die Entscheidungen der wahrhaft Mächtigen. Die zweite Erkenntnis ist die, dass dabei das Volk in Deutschland nicht unterdrückt wird. Seine Freiheiten werden eingeschränkt, sicher, aber in bescheidenem Maße. Kein Vergleich zu kommunistischen oder rechtsgerichteten Diktaturen. Wer will, sieht darin einen klugen Schachzug der Mächtigen, nämlich das Bestreben, das Interesse des Volkes an der echten Demokratie, an wirklicher Beteiligung an der Macht so gering wie möglich zu halten. In Deutschland gelingt dies vorzüglich. Bei Wahlen und Abstimmungen wenden sich immer mehr frustrierte Bürger ab. Lange habe ich geglaubt und befürchtet, dies sei das Ende einer freien und partizipatorischen Gesellschaft, aber das ist ein Irrtum.

Wenn die Demokratie nicht mehr zu haben ist, wenn ihre Institutionen und ihre Spielregeln ausgehöhlt und diskrreditiert sind, dann müssen wir uns nach neuen formen der Beteiligung umsehen, und spannenderweise werden wir schnell fündig. Da sind die Lobbygruppen, die man früher Randgruppen nannte. Greenpeace, Attac, Amnesty International, die humanistische Union, sie und viele andere Gruppen haben in den letzten Jahrzehnten ihren Einfluss stärken können. Ihre Experten sitzen, genau wie die Beauftragten der Wirtschaftslobby, in den Ministerien, beraten die Politik bei der Ausformulierung von Gesetzen, sind gern gesehene Gäste bei Anhörungen im Bundestag und seinen Ausschüssen. Selbst die Selbsthilfe- und Sozialverbände haben sich zu relativ einflussreichen Lobbygruppen entwickelt, von den Gewerkschaften ganz zu schweigen. Es ist also, mit viel Fleiß, einem langen Atem und einer gehörigen Portion Anpassungsfähigkeit, ohne dabei den Idealismus zu verlieren, durchaus möglich, Einfluss auf die Entscheidungen postdemokratischer Institutionen zu nehmen, ja man wird sogar ausdrücklich zur Expertise eingeladen. Wenn ein Land nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten geführt wird, dann ist ein Interessenausgleich notwendig, um den sozialen Frieden zu erhalten und die verschiedenen einflussreichen Gruppen zufriedenzustellen. Das verhindert zwar durchgreifende Reformschritte, begrenzt aber gleichzeitig Politik und Wirtschaft in ihrer Macht.

Der zweite Punkt, der in unserer Postdemokratie die relative Zufriedenheit der Bürger mit den bestehenden Verhältnissen erklärt, ist der Rechtsstaat. Obwohl die Vertreter des Volkes praktisch keinerlei Einfluss mehr haben, achten die verschiedenen Interessengruppen doch im Großen und Ganzen darauf, dass die gesetzlichen Spielregeln eingehalten werden. In einer Willkürherrschaft ist auch die Finanz- und Wirtschaftslobby unsicher, niemand weiß, wann es auch ihr an den Kragen gehen könnte. Verlässlichkeit und Durchschaubarkeit von Entscheidungen ist ein Mittel, um einen Konsenz zu stiften. Das bedeutet nicht, dass die Entscheidungen der Gerichte oder anderer Schiedsstellen dem Ideal entsprechen, dass einst in den Gesetzen formuliert wurde. Es heißt lediglich, dass jeder ungefähr weiß, woran er ist. Beispielsweise mag der hessische Gesetzgeber entgegen dem Wortlaut und Geist der Landesverfassung Studiengebühren einführen, was ganz sicher ungesetzlich ist. Aber die Eintreibung der Gebühren und die genehmigten Ausnahmen werden vermutlich nach den in dem Gesetz formulierten Regeln erfolgen. Reine, offensichtliche Willkür ist nicht vor der Öffentlichkeit zu verbergen, und im Allgemeinen will man das auch gar nicht. Die Verlässlichkeit oder relative Verlässlichkeit politischen Handelns und verwaltungsmäßiger Entscheidungen sind einer der wichtigsten Gründe dafür, dass sich die Bürger die tatsächliche Macht aus den Händen nehmen lassen. Sie wissen, dass sie zumindest teilweise ihre Interessen vor Gericht mit einer gewissen Erfolgswahrscheinlichkeit vertreten können.

Wer heute ein bestimmtes Ziel verfolgt, muss einen langen Atem haben, aber sein Sinnen und Trachten ist nicht von Anfang an wertlos. Nur ist heute nicht mehr der vielversprechendste Weg, eine Partei zu gründen und sich ins Parlament wählen zu lassen. Dann nämlich landet man entweder in der Opposition und wird gewohnheitsmäßig überstimmt, oder man schließt sich irgendwann der ganz großen Koalition der etablierten Parteien an, dann wird man zumindest einige seiner Ziele auf dem Altar der Gemeinsamkeiten opfern müssen und läuft Gefahr, von anderen Parteien nicht mehr unterscheidbar zu sein. Der vielversprechendste Weg für die Vertretung und auch Durchsetzung seiner Interessen ist es, sich einem bereits bestehenden Interessenverband anzuschließen oder selbst einen zu gründen. Man braucht Zeit und auf die Dauer auch Geld, und es geht darum, Experten für sich zu gewinnen, die Politiker und die anderen Interessengruppen zu überzeugen. Nicht verkniffenes Protestieren, sondern geduldige, intensive und unablässige Lobbyarbeit scheint heute der einzige Weg zur Partizipation an Entscheidungsprozessen zu sein. Derzeit jedenfalls ist die Lobbyarbeit nicht auf bestimmte Interessengruppen beschränkt, auch wenn der Einfluss der Lobbyverbände unterschiedlich groß ist. Lobby- und Überzeugungsarbeit ist die Partizipation der Zukunft, nicht die Teilnahme am parlamentarischen Geschäft. Nur über außerparlamentarische Interessenverbände lässt sich heute noch etwas bewegen.

Die Demokratie ist tot, es lebe der postdemokratische, transparente Rechtsstaat.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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