If I say the Words – Meine Hitparaden und ich

Irgendwo unter meinen tausend Kassetten, die in mehreren großen Kisten ihrer Verstaubung entgegenschlummern, befindet sich auch eine, deren B-Seite heute vor 30 Jahren aufgenommen wurde. Zuerst kann man dort ein paar Lieder hören, an die ich mich nicht mehr so genau erinnere, dann plötzlich ist nur die zweite Strophe eines Liedes zu hören, eines weithin unbekannten englischsprachigen Schlagers niederländischer Bauart. Das Lied hieß „If I say the Words“ und stammte von der niederländischen Gruppe BZN. Mit diesem Lied und mit diesem Tag begann meine Liebe zum niederländischen Radio, zur niederländischen Musik, ja meine Begeisterung für Popmusik überhaupt, und natürlich meine Liebe zu Hitparaden.

Als ich 13 war, kaufte meine Familie in den Niederlanden ein kleines Ferienhaus. Nicht am Meer, wo es alle hinzieht, sondern kurz hinter der Grenze in der Provinz Limburg, nahe bei der Stadt Roermond, die vielen Westdeutschen heute wegen des dort ansässigen Designer Outlets bekannt ist. Von da an lebte ich in einem Wunderland. Am Wochenende waren wir immer dort, und ich liebte die Stille, den Wald, den Sand unter meinen Füßen, den See hinterm Haus, die Enten im See, die meinen Freunden und mir die Brotstücke aus den Fingern nahmen, die Vögel in den Bäumen, die jedes Erwachen zu einem Fest machten, die Eichhörnchen, die morgens übers Dach liefen, um nach Nüssen zu jagen, das Hämmern und Sägen der Menschen, die fröhlich an ihren Häuschen arbeiteten, ihrem privaten Lebensglück, unterstützt von Nachbarn und Freunden, die einander fröhlich über die niedrigen Zäune und Hecken hinweg Klatsch, Infos und Freundlichkeiten mitteilten. Ich liebte den Gesang an den Abenden vor so manchem Haus, den Duft nach Rauch und Feuer, nach Grillgut und Dünger, nach Wald und Feld. Ich liebte das Knallen der Vogelscheuchen, das Planschen der Kinder im See, den Bass der Musik, die bei Festveranstaltungen aus dem Festsaal und der Kantine drangen. Ich liebte das Radio, das mir von ferne fremdartige Worte und Töne ins Haus brachte. Ich liebte das Frühstück draußen auf der Terrasse, während sich ein älterer Nachbar über unseren Zaun beugte und stundenlang mit uns schwatzte. Wir nannten ihn den Zaunkönig. – Und so könnte ich noch Stunden schwärmen von dem Paradies meiner Kindheit und Jugend. Mit zwei Freunden erkundete ich die Gegend und erlebte allerlei Abenteuer, wer mir wichtig war, dem wollte ich dieses wundervolle Kleinod zeigen, das noch heute tief in meinem Herzen lebt.

Ich darf sagen, dass wir bei unseren Nachbarn schnell beliebt waren und Freunde fanden. Deutsche und Niederländer gleichermaßen verstanden sich mit uns, und so mancher Samstag wurde in den kommenden Jahren zum Grill- und Feiertag. Aber unsere niederländischen Freunde sprachen deutsch mit uns, und wenn ich Radio hörte, schaltete ich meistens WDR 2 ein, der kurz hinter der Grenze gut zu empfangen war. Wenn ich damals Musiksendungen hörte, dann war es die Schlagerrallye auf WDR 2, die mir Mitte 1983 aufgefallen war. Mein erster Hit aus der Popmusik war „Moonlight Shadow“ von Mike Oldfield, und an der neuen deutschen Welle begeisterte mich fast ausschließlich Peter Schilling mit seinen Weltraum- und Science-Fiction-Songs.

Am liebsten hätte ich immer meine gesamten Schulferien auf Heelderpeel verbracht, so hieß der Campingplatz, auf dem unser Häuschen stand. Aber meine Eltern mussten oft arbeiten, und so war meistens nicht länger als eine Woche möglich. In den Osterferien 1984 hatten wir uns auf die erste Woche geeinigt. Meine Freunde Helmut und Mark waren auch da, und wir verlebten eine schöne Zeit. Eine Katze war uns zugelaufen, auf dem Platz gab es viele Katzen ohne Besitzer. Wir fütterten sie und versuchten, sie an uns zu gewöhnen, allerdings vergebens. Helmut hatte seine Vorliebe für die neue Musikrichtung Breakdance entdeckt, aber ich konnte damit überhaupt nichts anfangen. Trotzdem probierte ich an den strengen Rhythmen meine Schneidekünste aus, und wir produzierten ein Medley. Leider war die Woche viel zu schnell vorbei, und am 15. April hätten wir Heelderpeel verlassen müssen. Doch es gab eine Überraschung: Meine Schwester, 11 Jahre älter als ich und schon Mutter zweier Kinder, wollte eine Woche mit mir und meinem Freund Helmut auf Heelderpeel Urlaub machen. Es war eine der schönsten Wochen dieses Jahres. Meine Schwester war fröhlich und gut drauf, wir spielten einander Streiche, meine Freunde und ich waren viel unterwegs, wir kochten auch mal zusammen. Im Hintergrund lief Radio, meine Schwester hörte gern Musik. Aber sie war nicht auf WDR 2 festgelegt, sondern drehte am Senderwahlknopf und blieb, wo es ihr gefiel. So kam es, dass erstmals das Radio auf Hilversum 3, dem Pop-Sender der Niederlande, eingestellt war. Schnelle, spritzige Moderatoren waren dort zu hören, die ich nicht verstand, und überhaupt machte das Ganze für mich einen hektischen Eindruck. Aber meine Schwester war zufrieden, sie konnte oft ihr damaliges Lieblingslied hören: „Hello“ von Lionel Richie. Und sie erzählte mir, dass auf dem Video eine blinde Frau mit Langstock zu sehen sei, die durch die Straßen einer Stadt ginge.

Heute vor 30 Jahren, am Donnerstag, dem 19. April 1984, wurde meine Schwester von meinem Schwager abgeholt, und ein paar Stunden war ich allein in unserem Häuschen, bevor meine Eltern kamen und mit mir das Wochenende dort verbrachten. Ich weiß noch genau, wie das Häuschen aussah, der langgestreckte Wohnraum, der früher ein eigenes, kleines Zelthaus gewesen war. Hinten eine Küche und ein Bad angebaut, über den sandigen Hang hinweg und unterkellert, daran arbeitete mein Vater noch. Und wie ein L angebaut zwei Schlafzimmer: Eins für meine Eltern, eins für mich. Ich kniete an diesem Mittag vor meinem Bett und vor dem Radiogerät, das immer noch auf Hilversum 3 eingestellt war. Fasziniert hörte ich, dass offenbar eine Hitparade lief, obwohl ich kaum etwas verstand. Ich spitzte also die Ohren. Niederländische Zahlen kannte ich schon, also konnte ich die Plätze der einzelnen Lieder ermitteln. Leicht zu hören war auch, ob es sich um einen Aufsteiger oder absteiger handelte, und ich konnte auch ermitteln, wieviele Wochen das Lied bereits in der Hitparade vertreten war. Mit den Hitparaden auf Hilversum 3 begann ich, niederländisch zu lernen. Nicht alles war gut, was ich da an Musik hörte, längst nicht alles gefiel mir, aber ich lauschte fasziniert der Hitparade und bedauerte, dass es Donnerstag war. Donnerstags würde ich künftig selten Hitparaden hören können. Ich ahnte damals noch nicht, dass fast jeden Tag auf dem Sender eine Hitparade zu hören war. Der Sender wurde nämlich von verschiedenen öffentlich-rechtlichen Veranstaltern benutzt. Es gab einen katholischen Radiosender, der Sonntags sendete, einen sozialistischen, er war Dienstags dran, einen evangelischen, den hörte man Mittwochs, einen überkonfessionell christlichen, der Samstags seine Sendungen ausstrahlte, und drei reine Unterhaltungsstationen, die Montags, Donnerstags und Freitags sendeten. Freitags war es das berühmte „Radio Veronica“, der ehemalige Seesender, den man auch fälschlicherweise einen Piratensender genannt hatte. Donnerstags sendete die TROS, auch ein POP- und Unterhaltungssender. So war ich also mitten in die TROS Top 50 hineingeraten.

Was dann geschah, ist für sich genommen vollkommen unspektakulär. Ich döste ein. Wir hatten in den letzten Tagen oft die Nacht zum Tag gemacht, zusammen gesessen, auch mal ein Gläschen Wein getrunken, was für mich eine neue Erfahrung war. Ich war einfach platt, auch weil ich morgens noch mit meinen Freunden gewandert war. Jedenfalls döste ich während der Hitparade ein, vor dem Bett kniend, den Kopf auf dem Bett liegend, vor mir das Radiogerät, das leise lief. Gegen viertel nach fünf kamen meine Eltern zur Tür herein, und dabei wurde ich wach. Das erste, was ich hörte, war ein Lied. Eine Männerstimme sang: „If I say the words I want you, will you smile or let me down? Will you hold my hand or turn around?“ Dann ein kurzes Instrumental, und dann ein mehrstimmiger Gesang unter Führung einer Frau: „If you say the words I want you, I would never let you down. Love is golden like the morning sun, say the word and I’ll be yours.“ Aber da hatte ich längst den Aufnahmeknopf gedrückt und stand auf, um meine Eltern zu begrüßen.

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Ich weiß nicht, warum „If I say the Words“ von BZN, das an diesem Tag Platz 6 der TROS top 50 war, einen so großen Eindruck auf mich gemacht hat. Vielleicht, weil ich an einer der schönsten Stellen des Liedes aufgewacht war. Es klang überirdisch schön für mich, obwohl es ein einfaches Schlagerliedchen ist, sagt mein Kopf. Aber es hat seinen Zauber nie verloren. Ich musste es unbedingt in voller Länge aufnehmen, und so verbrachte ich jede freie Minute am Radio, bis ich es endlich ergatterte. Anfangs ärgerte ich mich noch darüber, dass die niederländischen Moderatoren in die Liedanfänge sprachen, dass kaum ein Lied ausgespielt wurde, aber das verging schnell. Als ich dieses Lied suchte, in den Osterferien 1984, lernte ich die Hitparaden der niederländischen Sender kennen, die berühmten Moderatoren, die Vielfalt der neueren und älteren Popmusik, eine Hitparade, in der klassische Stückchen, experimentelle, teils elektronische Musik, Pop- und Rockröhren und kaum erträgliche niederländische und deutsche Schlager nebeneinander zu hören waren. Ich verliebte mich endgültig in Land und Leute, und in das Radio.

Heute mag ich es gemächlicher. Wenn ich selbst eine Sendung moderiere, muss ich nicht überall hineinquatschen, ich kann meine Infos auch nach dem Lied in aller Ruhe an die Hörerschaft bringen. Aber wenn ich bei einer Veranstaltung den DJ gebe, oder wenn ich unsere Partysendung beim Ohrfunk moderiere, dann sind mir die niederländischen Moderatoren mit ihrer spritzigen Fröhlichkeit oft noch immer ein Vorbild. Und wenn ich die alten Hitparaden noch einmal alle hören könnte: Wie gern würde ich das tun.

Und BZN? Die Gruppe wurde für lange Zeit meine Lieblingsband. Ich mochte nicht alles, aber vieles. Beim 25jährigen Jubiläum der Band im Jahre 1991 war ich live dabei. In den Niederlanden sind sie eine Legende, als sie sich 2007 nach 41 Jahren auflösten, wurde eine 13teilige Dokumentation über sie gedreht, und das Abschiedskonzert wurde live im Fernsehen und Radio übertragen. Ich habe inzwischen viele viele Dinge gehört, die künstlerisch anspruchsvoller und interessanter sind als die Lieder von BZN, aber diese Band wird für mich immer etwas besonderes bleiben, weil sie mit meinem Leben so eng verwoben ist. Und „If I say the words“ wird für immer das Lied bleiben, das ich mit meiner Liebe für die Niederlande, ihre Hitparaden und ihre Musik verbinde, und für die unbeschwerten und paradiesischen Teile meiner Kindheit und Jugend.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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3 Antworten zu If I say the Words – Meine Hitparaden und ich

  1. Ingrid sagt:

    Wann komt Teil 3 von Ihre Jens Bertrams chaotischer Webpodcast über BZN mit Carola Smit? Sie singt in Get Back Live, Jan Tuijp spielt in Rock & R’All Stars mit Jan Rietman, Jack Veerman ist angefangen mit seinem band Mon Amour BZN Tributeband.Jan Keizer singt wieder mit Anny Schilder.

  2. @Ingrid: Ich weiß, aber den chaotischen Webpodcast gibt es nicht mehr. Ich bin in den letzten Jahren viel zu selten dort, um noch alles mitzukriegen. Vielleicht mache ich irgendwann mal wieder einen Podcast. Danke für die Nachricht. – Het beste!

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