Die Behindertenbewegung muss kritikfähig werden

Behindert ist man nicht, behindert wird man. So tönt es allenthalben durchs Land. Seit Jahren reden die Experten und die, die sich für welche ausgeben von nichts anderem mehr als von Inklusion, wenn es um das Thema Behinderung geht. Doch es gibt auch andere Stimmen, die die Behindertenbewegung scharf kritisieren.

Auf dem Blogportal der Süddeutschen Zeitung mit Namen jetzt.de schreibt ein Autor, der sich nur DerMarcel nennt, aber ansonsten nichts über sich und seinen journalistischen oder persönlichen Hintergrund preisgibt. Die Behindertenbewegung scheint ihm allerdings ein Dorn im Auge zu sein. In einem seiner Beiträge schreibt er unter Anderem:

„… Werfen wir einen Blick in einschlägige Behindertenblogs, dann lesen wir vor
allem Storys über behinderte Opfer. … So lesen wir,
dass die Politik barrierefrei wird. Im Artikel steht irgendwas über den Mainzer Landtag, dessen Barrierefreiheit wirklich kein Schwein interessiert…
Die meisten Blogger sind leider damit beschäftigt, belanglose Fehler in großen Medien aufzuzeigen. Als ob es einen Unterschied macht, ob man Gebärdensprachdolmetscher oder Gebärdendolmetscher, Blindenstock oder Blindenlangstock schreibt. … Nun haben Kinder und Behinderte bekanntlich Narrenfreiheit. Behinderte
sagen immer die Wahrheit, sind immer brav und haben nie persönliche Interessen. Ihre Gegner sind immer böse, einfach schon deshalb, weil sie nicht wissen, dass Behinderte immer recht haben und man immer lieb zu ihnen sein muss, sonst kommt die Gedankenpolizei der Behindertenmagazine und facht die Empörungsglut an.
… Behinderte sind hervorragend darin, die beleidigte Leberwurst zu spielen. … Wenn Silke Burmester ein wenig Kritik an Behinderten
äußert
, wird ihr vorgehalten, sie sei nicht behindert und dürfe sich daher
nicht zur Inklusion äußern.
Es wundert daher nicht, dass vor allem junge Behinderte sich mit Grausen von der Behindertenbewegung abwenden. Eine selbstbewusste Bewegung erfordert ein Minimum an Kritikfähigkeit und Selbstreflexion. Leider sind vor allem die lautesten Stimmen genau das Gegenteil. … Wenn sie sich nicht wandelt und vor allem aktiv wird, wird sie gnadenlos aussterben und vielleicht wäre das sogar das Beste für alle Beteiligten.“

Die Kritik ist hart, zumal der Vorwurf der Zersplitterung der Bewegung und der selbstsüchtigen Wahrung eigener kleiner Interessen ebenfalls erhoben wird. Und bei allem, was man sonst noch über diesen Artikel sagen kann: Das Problem ist real und akkut.

Sicherlich ist der Beitrag polemisch formuliert, und an einigen Stellen ist er schlicht falsch. Natürlich interessiert die Barrierefreiheit des mainzer Landtages, denn die Zugänglichkeit öffentlicher Gebäude ist eine Grundvoraussetzung für eine Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben. Allerdings gibt es auch hier Auswüchse: Ein Dorf mit 100 Einwohnern, von denen niemand behindert ist, muss keine 2 Millionen Euro ausgeben, um das alte Rathaus zu modernisieren und es barrierefrei zu machen. Ich gebe aber gern zu, dass die grenze fließend ist und ich hier nur meine eigene Meinung gesagt habe. Die starre Anwendung von Regeln allein, ohne ihre Sinnhaftigkeit zu überprüfen, tut dem Anliegen behinderter Menschen meines Erachtens jedenfalls nicht gut.

Viel schmerzlicher finde ich, was der Beitrag des Marcel über das Verhältnis behinderter Menschen zum Rest der Gesellschaft sagt. Denn es ist viel Wahres an der Beschuldigung, behinderte Menschen sähen sich selbst oft als die „Guten“ und die „Opfer“ und die Gesellschaft als „böse“ an. Mit einer solchen Einstellung ist wahre Inklusion nicht zu machen. Diese muss nämlich in den Köpfen beginnen. Auch die Menschen ohne Behinderung sind nur Menschen, und man kann sie nicht zu einem Wohlwollen gegenüber Menschen mit Behinderung zwingen. Keine Frage, dass man Institutionen in die Pflicht nehmen muss, eine Anspruchshaltung gegenüber der Gesellschaft allerdings, die sich in einer Bringschuld befindet, ist extrem kontraproduktiv und mindert im Grunde den Wert des Behinderten selbst.

Natürlich brauchen wir die Behindertenbewegung. Ihren Tod würde ich sehr bedauern. Allerdings ist sie sicherlich extrem reformbedürftig. Mehr Zusammenarbeit, häufigere und intensivere Blicke über den eigenen Tellerrand hinaus und eine starke und freundliche Partnerschaft mit anderen gesellschaftlichen Gruppen wären hier erste, wichtige Schritte. Und die Behindertenbewegung wäre auch sicher der Ort, an dem man über die Kritik dieses Autors diskutieren müsste. Ich glaube nämlich, dass er einigen nichtbehinderten Menschen aus der Seele gesprochen hat, und es wäre an der zeit, die Gründe dafür zu ermitteln und ein wenig Selbstkritik zu üben. Gerade diese jungen Behinderten, die sich von der Bewegung abwenden, sollten ihre Foren nutzen, um diese bewegung in ihrem Sinne zu beeinflussen.

DerMarcel hat in einem öffentlichen Forum die Behindertenbewegung scharf angegriffen. Vielen Aktivisten wird er wohl als Nestbeschmutzer gelten, der die Arbeit angreift, die sie geleistet haben. Das kann ich gut nachvollziehen. Zwar teile ich die Meinung des Autors, dass eine Bewegung Kritik ertragen und selbstkritik üben können sollte, doch Schmähungen allein sind hier nicht das Mittel der Wahl. Andererseits kann man Menschen mit Behinderung nur ernstnehmen, wenn sie ihren eigenen Ansprüchen nachkommen. Sie wollen behandelt werden wie alle anderen auch, wollen nicht besonders geschützt werden, dann müssen sie einen Teil ihrer Überempfindlichkeit ablegen. Vielleicht bietet der Beitrag des Marcel ja einen guten Ausgangspunkt für eine offene, kritische Debatte.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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3 Antworten zu Die Behindertenbewegung muss kritikfähig werden

  1. Lieber Jens, du hast Recht und ich finde den Artikel noch sehr „weichgespült“. Ich habe mich neulich über die Aktion Mensch und den hohen Eintrittspreisen zum Inklusionskongress aufgeregt: http://politgirl.wordpress.com/2014/10/05/exludiert-der-zukunftskongress-der-aktion-mensch-inklusion-2025/

    Niemand hat öffentlich kommentiert, nur nicht öffentlich.
    Das hat seine Gründe, aber das darf einfach nicht sein.

    LG aus Berlin
    Doreen

  2. Joachim Lembke sagt:

    Lieber Jens,
    endlich wird auch eine Diskussion angestoßen, die sich mit der Interessengebundenheit und der Selbstwahrnehmung der Behindertenbewegung auseinandersetzt. Inkludieren kann auch „einschliessen“ im negativen Sinne bedeuten, d. h. ohne Sensibilität für die Außenwelt agieren.

  3. Lieber Jens,
    in vielen Punkten hast Du recht. Manche Behinderte treten selbstgerecht und sehr fordernd auf, ohne sich ihre eigene Bringschuld gegenüber der Gesellschaft zu vergewärtigen. Allerdings hat die Gesellschaft und vor allem der Staat auch die Pflicht zur Inklusion.
    Was indes Inklusion konkret bedeutet, darüber mag man mitunter auch streiten. Zwischenzeitlich ist dieses Wort nämlich zur leeren Hülle verkommen, die von unterschiedlichen Seiten für ihre Zwecke missbraucht wird.
    Im Übrigen ist das Besondere jeder Bewegung, dass sie aus vielen unterschiedlichen Menschen mit sehr verschiedenen Positionen besteht. „Die Behindertenbeweung“ setzt sich zusammen aus uns allen. Da hat Deine Position genauso Platz wie meine.
    Wer das nicht respektiert, hat Bewegung nicht verstanden: Gemeinsam kämpfen bedarf der Freiheit unterschiedlicher Geister, der freiwilligen Einigung auf gemeinsame Zile und des Eintretens für die ganz persönlichen eigenen Belange und Bedürfnisse.
    Ich als Mehrfachbehinderter beispielsweise bin zunehmend enttäuscht darüber, dass Behinderte in Schubladen wie „blind“ oder „gehbehindert“ gesteckt und dann an Vorerfahrungen mit den jeweils Betroffenen oder den eigenen Erfahrungen der Betroffenen gemessen werden. Inklusion im besten Sinne würde aber bedeuten, dass jeder Mensch – ob behindert oder nicht – entsprechend seiner individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse gesehen und gegebenenfalls gefördert wird.
    Das mag eine Idealvorstellung sein; manche Auswüchse ideologischer „BehindertenFunktionäre“ sind für mich das negative Beispiel, dem ich nicht folgen mag.
    Dank für die Anregung zur Diskussion hat Dein Beitrag hier allemal verdient. Nicht Rechthaberei bringt uns voran, sondern das solidarische Ringen um gemeinsame Ziele und Aktionen.
    fjh

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