Offener Brief einer engagierten Bürgerin gegen das Küken-Schreddern

Ein kluger Mann hat einmal gesagt, den zivilisatorischen Fortschritt einer Nation könne man an ihrem Umgang mit den Tieren ablesen. Dann muss es um Deutschland schlecht bestellt sein. Im März 2015 musste die Bundesregierung eingestehen, dass jährlich rund 45 Millionen männliche Hühnerküken nach ihrer Geburt geschreddert und vergast werden, weil sie für die Landwirtschaft unbrauchbar sind. Zunächst zeigte sich
Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt entsetzt und kündigte einen Aktionsplan an. Im Mai berichtete der Spiegel, der Minister sehe derzeit keinen Handlungsbedarf, in den nächsten anderthalb Jahren werde es voraussichtlich eine Möglichkeit geben, das Geschlecht der Küken schon im Ei zu erkennen. Nach Aussage der Grünen gibt es aber diese Möglichkeit bereits, sie sei den Landwirten lediglich zu teuer. Die zynische Antwort der Regierung auf eine kleine Anfrage der Grünen erboste meine Liebste, Bianca Bertrams, so sehr, dass sie einen Brief an den Landwirtschaftsminister schrieb. 4 Wochen lang wartete sie auf eine Antwort, doch ihre ernste Besorgnis, ihre Wut und ihr Engagement waren dem Vertreter der Regierung nicht einmal eine formalisierte Antwort wert. Darum veröffentliche ich den vollen Wortlaut dieses Briefes jetzt auf meinem Blog, da meine Liebste selbst derzeit noch nicht bloggt. Ich hoffe, dass möglichst viele Menschen durch diesen Brief aufgerüttelt werden.

„Herr Minister Schmidt,

seit über einer Woche trage ich mich nun mit der Idee, Ihnen diesen Brief zu schreiben. Eine Woche lang denke ich nun über treffende, überzeugende und – um Himmels Willen – nicht respektlose Worte nach. Aber je länger ich nachdenke, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, dass meine Gefühle und Gedanken zu dem Thema, um das es in diesem Brief gehen soll, sich mit politischer Korrektheit und gedrechselten Sätzen nicht vertragen werden. also habe ich jetzt beschlossen, Ihnen ungefiltert von Bürgerin zu gewähltem Volksvertreter zu schreiben, was ich von Ihnen und Ihrer Arbeit halte – sofern Sie überhaupt derjenige sein werden, der dies liest, was ich bezweifle. Abgesehen von der Fülle an mails, die Sie vermutlich bekommen und wohl wirklich kaum alle selbst lesen können, , wird es schon irgend jemand auf sich nehmen, diese „Unannehmlichkeit“ von Ihnen fernzuhalten. Aber einen Versuch musste ich machen.

Einen Versuch musste ich machen, weil es um etwas geht, was mich seit einiger Zeit so nachhaltig erschüttert, dass ich mir nicht ins Gesicht sehen könnte, wenn ich den Mund nicht aufmachte. Es bringt mich buchstäblich um den Schlaf.

Da Sie sich in Ihrem Ressort mit zahlreichen Themen beschäftigen und man ja nicht an alles denken kann, sage ich Ihnen zunächst, dass es sich bei diesem für mich so wichtigen Thema um die Tötung von 45 Millionen männlichen Hühnerküken im Jahr handelt. Denn vielleicht ist eine Woche eine zu lange Zeit, um das hier in unserer schnellen Welt noch als „direkte Reaktion“ durchgehen zu lassen, und da ist ja so vieles, was Sie tagtäglich bedenken müssen…

Die Regierung – verkörpert durch Sie, Herr Minister – sieht also derzeit keinen Handlungsbedarf in dieser Sache. In ein bis zwei Jahren, so lassen Sie wissen, werde ja eine Technologie entwickelt sein, mit der es möglich werde, das Geschlecht eines Kükens im Ei bereits zu erkennen, bevor es ausgebrütet sei, und solche Eier könne man ja dann vernichten. auf diese Art einer Lösung will ich nur insofern eingehen, dass ich ohne Schwierigkeiten einräumen kann, dass sie zweifellos erheblich humaner ist als das, was derzeit passiert. Aber ein bis zwei jahre? Sie meinen etwa 67,5 Millionen Küken weiter. Das ist in Ordnung? Verstehe ich Sie da richtig?

Sagen Sie, Herr Minister, und ich meine diese Frage nicht polemisch, sondern völlig ernst: Was stimmt bei Ihnen nicht? Was läuft mit Ihrem Vermögen, in einer Situation entsprechende empathische Gefühle zu entwickeln, so schrecklich schief?

Ich habe in der letzten Woche redlich versucht, mir Antworten auf diese Frage auszudenken:

Ich kann Ihnen kaum zum Vorwurf machen, dass Sie sich, auch als Landwirtschaftsminister, nicht mit allen Fragen der Massentierhaltung und ihres Missbrauchs gleichzeitig beschäftigen oder auch nur von allem wirklich detaillierte kenntnis besitzen können, obwohl es schon traurig ist, dass ich Ihnen so weit entgegen kommen muss. solche Themen müssten in Ihrem Ministerium eine wesentlich höhere Priorität genießen. Aber fast alle von uns machen mehr oder weniger mit bei der Massentierhaltung, auch ich, die ich kein Fleisch mehr esse und schweren Herzens auf den Verzehr von Eiern in ihrer reinen Form verzichte, komme aus dieser Nummer nicht mehr ohne weiteres heraus. Da sind riesige Anstrengungen gefordert, und ich kann auch von mir selbst nur hoffen, dass ich mich Ihnen unterziehen werde, sobald sie wirklich einen Weg zu artgerechterer Tierhaltung aufzeigen können. Das alles also kann ich Ihnen nicht guten Gewissens vorwerfen. Was ich Ihnen aber vorwerfe ist der Umgang mit dem Thema, *nachdem* sie Kenntnis von dieser unfassbaren Quälerei erhalten haben! Ich werfe Ihnen ihr
bräsig-selbstgefälliges Aussitzen dieser massenhaften Folter mit Todesfolge vor! Große Worte, ja, aber denken Sie drüber nach und sagen Sie mir dann am Ende des Briefes, ob Sie mir ernsthaft widersprechen können.

Ist es vielleicht die Zahl? Ist es die Unvorstellbarkeit der zigfachen Millionen Küken, die sich Ihrem emotionalen Fassungsvermögen entzieht? Ist es dasselbe Prinzip, das uns persönlich betroffen sein lässt, wenn jemandem einige Tausend Euro gestohlen werden, während wir nichts nennenswertes mehr fühlen, keinen Protest, keine wirkliche Empörung mehr, wenn es sich um Millionen oder Milliarden handelt? Fehlt Ihnen dazu ein Bild vor Ihrem „inneren Auge“? Dann setzen Sie sich doch einfach mal ganz ruhig irgendwohin, lassen sich für fünf, wenn Sie es aushalten 10 Minuten nicht stören und stellen sie sich zunächst einmal – wir fangen klein an – den Haufen aus Knochen, Blut und Federn vor, der dabei entsteht, wenn man etwa 85 Küken zerschreddert, die Menge an „Kükenabfall“, die innerhalb einer Minute in Deutschland produziert wird. 85 Küken. Das kann man sich vorstellen, oder? So viele haben sicher auch Sie in Ihrer Kindheit noch auf einem Bauernhof gesehen, wenn nicht, nehmen Sie ein paar weniger. Aber erinnern Sie sich *genau* und mit allen Sinnen an Sie, wie Sie Sie früher vermutlich einmal empfunden hätten: Ganz nüchtern betrachtet: 85 kleine, bereits fertige, vom Ei noch etwas nasse Vögel, die Ihren Kopf nach allen Seiten strecken und sich orientieren, dabei vielleicht Töne ausstoßen und ansonsten – wie alles neu geborene – den Eindruck völliger Hilflosigkeit erwecken. Ich hoffe, das war nun sachlich genug, damit sie diese Mail nicht gleich als „gefühlsduselbrief“ eines „Gutmenschen“, der in
Wolkenkuckucksheim lebt, im Papierkorb verschwinden lassen. Ich habe nichts von flauschig, niedlich und dergleichen geschrieben, und so muss man die Küken auch gar nicht betrachten, um für Ihre Sache einzustehen – wenn es sich auch zumindest in meinem Kopf erschwerenderweise trotzdem nicht verhindern lässt. Ja, ich gebe zu, das Thema emotional anzugehen. Diskreditiert das meine Glaubwürdigkeit oder meine Denkfähigkeit? Ich glaube nicht. Vielmehr macht es mich meiner Ansicht nach erst zu einem kompletten Menschen.

Aber selbst wenn Ihnen auch die hohe Zahl noch so unvorstellbar erscheinen würde: als Ernährungs- und Landwirtschaftsminister können Sie niemandem erzählen, sie wüssten nicht – zumindest auf dem Papier -, wie die Tötung der Küken vor sich geht. Bei Menschen wäre durch die absolute Grausamkeit, mit der Sie vonstatten geht, nicht von „Tötung“, sondern von „Mord“ die Rede. Auch wenn es dieses Tatbestandsmerkmal für Tiere nicht gibt, wie Sie als Jurist natürlich wissen, lohnt es sich, das Wort „Grausamkeit“ in diesem Zusammenhang einmal im Munde hin- und herzuwenden. Fehlt Ihnen ein Zugang dazu, wie es sich anhört, wie es aussieht, wie es sich anfühlt, wenn 5100 Küken pro Stunde auf ein Förderband geworfen und in einen Schredder weitergeleitet werden, der sie bei lebendigem Leibe häxelt? Was würde Ihnen da helfen? Ein Klingelton mit ihren letzten Lebensäußerungen, vielleicht noch ein kleines Video dazu? Soll man Sie und Ihre Kinder, falls Sie welche haben, einmal exklusiv durch einen Brutbetrieb führen wie damals nach dem 2. Weltkrieg die Verantwortlichen durch Dachau oder Buchenwald? Ich weiß, dass sich das millionenfache Töten von männlichen Hühnerküken mit der systematischen ausrottung ganzer Volksgruppen und den fürchterlichen Kriegsverbrechen der nazis nicht vergleichen lässt, und ich will es auch nicht. Man kann solche dinge nicht vergleichen. Außerdem hat das Kükentöten keinen ideologischen Unterbau, sondern ist einfach „nur“ Folge eines erbarmungslosen Wirtschaftsinteresses. Keines der entsetzlichen Verbrechen des Nationalsozialismus möchte ich beschönigen, verniedlichen oder sonstwie abwerten. Was ich aber vergleichen kann sind Zahlen und Methoden, und Millionen sind und bleiben Millionen. Abgesehen davon müssen wir Menschen uns daran messen lassen, wie wir mit dem Rest der natur umgehen. Küken sind sicher nicht auf dem gleichen Evolutionsstand wie Menschen, aber was da lebendig geschreddert und bei einer zweiten angewandten Methode unter inkaufnahme eines mehrminütigen Todeskampfes in Containern vergast wird, vergast, Herr Minister! Erinnert Sie das an etwas? – sind fühlende Lebewesen, Schmerz und Angst empfindende Lebewesen! Es kotzt mich an, wie Sie diese Tatsache in Ihrer kaltschnäuzigkeit einfach wegfegen und zu etwas verschiebbarem, verhandelbarem, vernachlässigbarem machen! Sind sie *trotz* des Wortes Christlich in Ihre partei eingetreten, weil Ihnen einfach deren Politik gefiel, oder ist das Ihre Auffassung von „macht Euch die Erde Untertan“? Wie können Sie es unter den gegebenen Umständen wagen, auf Ihrer Homepage zu behaupten: „Für den Respekt vor der Schöpfung zu arbeiten, ist mir ein besonderes Anliegen.“?

Und wie ist es, als Krönung des ganzen, um die Aussage aus den Reihen der Grünen bestellt, es gäbe eine solche Technologie, wie Sie sie in ein bis zwei jahren erwarten, bereits, sie sei nur einfach teurer als das Kükenschreddern? Wie können Sie überhaupt noch ruhig schlafen? Wie weichen Sie jeden Tag Ihrer eigenen ignoranz aus? Haben Sie das gewissenhaft geprüft, und sind Sie überhaupt bereit, sich wegen ein paar läppischer Vögel mit der tierverarbeitenden Industrie anzulegen? andere PolitikerInnen – in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Hessen zum Beispiel – haben doch schon gezeigt, wie das mit dem Rückgrat funktioniert. wie wäre es da mal mit einer Lehrstunde in Zivilcourage, in Gewissensentscheidung?

Zum Abschluss wünsche ich Ihnen, Herr Minister, die Art von Träumen, die Ihre Haltung meiner ansicht nach verdient. ich würde Ihnen gern auch wünschen, dass Sie aufwachen und die ungeheuerliche, nicht zuletzt moralische Tragweite dessen begreifen, was Sie als Bundesminister den Bürgerinnen und Bürgern mit Ihrer Gefühlskälte und Wirtschaftshörigkeit, durch Ihren Umgang mit schützenswerten und wehrlosen Kreaturen als vorbildhaftes Verhalten vorleben. Aber angesichts Ihrer unerträglichen Gleichgültigkeit bleibt mir dieser fromme Wunsch als vermutlich unerfüllbar im Hals stecken.

Mit wenig bis Null Hochachtung

die Bürgerin Bianca Bertrams

p.s.: Da ich blind bin und der Umgang mit elektronischen Medien deshalb für mich einfacher ist als mit gedruckten Briefen, würde ich die Email als Kommunikationsmedium bevorzugen, falls Sie mir antworten möchten.“

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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