Mit Blick auf morgen: Meine Lieblingssendung im niederländischen Radio wird 40

„Sie Hören:“Mit blick auf Morgen“, mit aktuellen Nachrichten aus Radio und Fernsehen, den Haag heute, der zeitung von Morgen und Entwicklungen und Hintergründen der Nachrichten. Draußen sind es 4 Grad, drinnen sitzt Jens Bertrams.“

So wird sich der Anfang der Sendung „met het oog op morgen“ nie anhören, aber früher habe ich mir oft vorgestellt, es würde einmal so klingen und ich selbst würde in einem Radiostudio sitzen und mit ruhiger Stimme über das Tagesgeschehen sprechen, Interviews führen, ein wenig spannende Musik ansagen und mit Experten über die Welt diskutieren.

Heute vor 40 Jahren startete die Sendung „Met het oog op morgen“, der allabendliche Tagesüberblick im niederländischen Radio. Jeden Abend um fünf Minuten nach elf Uhr erklingt der Refrain von „Gute Nacht Freunde“ von Reinhard Mey, und dann spricht Hans Hogendoorn immer dieselben Worte, nur die Gradzahl und der Moderator ändert sich. Der Moderator spricht noch einen persönlichen Satz oder einen Merkspruch, ein kleines Gedicht oder einen Gedanken zum aktuellen Geschehen aus, dann folgt der Nachrichtenüberblick mit O-Tönen. Obwohl die Weltlage dramatisch ist, bleiben die Moderatoren ruhig und sachlich, auch wenn die O-Töne bedrohlich oder angsteinflößend sein mögen wie bei den Anschlägen in Paris oder bei der Niederschlagung der Demokratiebewegung in Peking.

Nach dem Nachrichtenüberblick folgt der Blick in die Zeitungen, bevor das erste Musikstück gespielt wird. Erst dann wendet sich der Moderator oder die Moderatorin mit den Interviewpartnern ein oder zwei unterschiedlichen Themen zu, zwischen denen ein kurzes Musikstück erklingt, manchmal sogar live. Mich beeindruckt die ruhige Art, die Tatsache, dass man dort den Eindruck erweckt, man hat auch Zeit in die Tiefe zu gehen, komplizierte Zusammenhänge verständlich zu machen. Wenn es passt kommt aber trotzdem mal ein klein wenig Humor durch, das hängt von der Persönlichkeit der Leute ab, die da miteinander reden. Denn auch das ist faszinierend: Obwohl die Sendung nach dem immer gleichen Schema abläuft, bis hin zu den Ansagen der Rubriken, die der Sprecher Hans Hogendoorn seit 40 Jahren auf dieselbe Weise durchführt, hat jeder Moderator und jede Moderatorin seinen oder ihren eigenen Stil und übt einen subtilen Einfluss auf die Sendung aus, die dadurch bunt, vielfältig und doch wohltuend verlässlich wird. Ein Ruhepool im Nachrichtengewimmel, und genau so wollte ich immer Journalismus machen. Um „fünf vor 12“ kommt die gleichnamige Rubrik mit einem kleinen entspannenden Thema, vielleicht auch etwas zum Schmunzeln, bevor Reinhard Mey uns dann in die Nacht verabschiedet.

Warum erzähl ich das alles hier? – Ich habe diese Sendung erstmals gehört, da war ich 9 Jahre alt. Wir waren in den Ferien in den Niederlanden, und „Das Auge“, wie man die Sendung abkürzt, gab es erst seit 2 Jahren. Ich habe mich schon damals über das deutsche Lied „Gute nacht Freunde“ gewundert und es dadurch überhaupt erst kennengelernt. Als meine Familie 4 Jahre später ein Ferienhäuschen in den Niederlanden kaufte, und als ich mich für Radio zu interessieren begann, kam ich schnell wieder an dieser Sendung vorbei. Ich war 13 und längst absolut von Politik begeistert. Nur mit der niederländischen Sprache haperte es noch, aber auch anhand des „auges“ habe ich sie gelernt. Damals hörte das Radioprogramm um Mitternacht auf: Die Sendung war die letzte des Tages, danach erklang nur noch die Nationalhymne und dann der Test- und Pausenton. Es wurde still auf den Frequenzen, des Tages Hast kam zu einem Ende.

Als ich später hier nach Marburg ging, kam ich nur noch selten in die Niederlande, wo ich zuvor jedes Wochenende und alle Schulferien verbracht hatte. Manchmal konnte ich abends über Kurz- oder Mittelwelle ganz schwach den Sender Hilversum 1 hören, oder hieß der da schon Radio 1, und wenn dann zu erahnende Fetzen von Reinhard Meys Abendlied aus dem Lautsprecher drangen, wenn ich nur an der Sprachmelodie die immer selbe Ansage hörte, ohne vom Inhalt der Sendung auch nur ein Wort verstehen zu können, dann war es für mich ein Gruß aus der Heimat. Es linderte mein Heimweh, und es stachelte es zugleich an, wenn ich mich nicht wohl fühlte.

In den neunziger Jahren habe ich wieder oft „Das Auge“ gehört. Mehr und mehr habe ich auf den journalistischen Stil geachtet, mehr und mehr wurde mir diese unverrückbare Art der abendlichen Weltsortierungssendung zum Vorbild. Viel später, als ich selbst Gelegenheit hatte, eine Magazinsendung in einem Internetsender zu moderieren, habe ich versucht, sie auf ähnliche Weise aufzuziehen wie „Das Auge“.

Aber irgendwie ist es wie verhext: Seit ich Internet hab, seit ich die Sendung auch via Podcast hören kann, was mich ungeheuer freute, seither höre ich sie kaum noch. Ich denke immer: „Das kannst du ja auch morgen über Tag machen“, aber das stimmt nicht. Man kann diese Sendung nicht am Tag hören, und schon gar nicht kann man sie vorspulen, oder irgendetwas auslassen. Man hört sie, oder man hört sie nicht, man lässt sich von ihrer Ruhe mitnehmen, oder man fängt gar nicht erst an. Sie in den hektischen Alltag einzubauen ist jedenfalls unmöglich.

Am 5. Januar 1976 wurde „Mit Blick auf morgen“ erstmals ausgestrahlt. Die echten Fans verlangen, dass sich nichts, aber auch gar nichts, an dieser Sendung ändert. Als man die alte Aufnahme von „Gute Nacht Freunde“ mit ein paar dezenten Orchesterklängen unterlegte, dauerte es eine Weile, bis sich die Hörer daran gewöhnten. Es war auch erwogen worden, eine neue Erkennungsmelodie zu nehmen, doch das hatte einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen. Dabei waren anfangs längst nicht alle begeistert von dem deutschen Lied, zu frisch war die Erinnerung an die Besatzungszeit. Aber Reinhard Mey hatte 1975 die Niederlande besucht, und das Lied war gut angekommen. Nach anfänglichen Bedenken entwickelte es sich zum unverzichtbaren und festen Bestandteil der Sendung, und bei jedem Jubiläum gibt es auch ein Interview mit Reinhard Mey.

Ich sollte wieder anfangen, „het oog“ zu hören, gerade jetzt, wo ich dringend Erklärungen für die Lage der Welt brauche, und wo ich sie in Ruhe und mit Sachlichkeit brauche. Ich sollte mir die Zeit nehmen, abends zwischen 11 und 12, wo alles andere zur ruhe gekommen ist.

„Das war „mit Blick auf Morgen“, vielen Dank fürs Zuhören. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, morgen sitzt hier (Zum Beispiel) Lucella Carasso.“

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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