Zum „Vorfall von Münster“ und „psychischen Auffälligkeiten“

Den folgenden Beitrag habe ich am 9. April 2018 für den Ohrfunk verfasst.

Glauben Sie mir: Ich wüsste einige Themen, über die ich gern etwas sagen würde. Eigentlich hatte ich mir die Me-Too-Debatte vorgenommen, die seit einem halben Jahr läuft und mit der letzten Titelgeschichte der „Zeit“ einen neuen Höhepunkt erreichte. Aber natürlich wurde nichts daraus, denn es kam der sogenannte „Vorfall von Münster“ dazwischen.

Natürlich müsste es einen eigentlich freuen, dass die Medien über das Geschehen am vergangenen Samstag unter der Überschrift „Vorfall“ berichten. Endlich mal keine übermäßigen Sensationen, endlich mal keine wochenlange Terrordebatte, endlich mal kein islamistischer Hintergrund. Positiv anzumerken ist auch, dass sich einige Medien mit Spekulationen zurückhielten, solange die Polizei keine offiziellen Informationen herausgab. Selbstverständlich galt das nicht für alle Medien, und auch nicht für alle, die man gemeinhin für seriös hält. Schnell war vom Terroranschlag die Rede, besonders taten sich hier die rheinische Post und ihre Online-Ableger hervor. Immerhin war ein Kleintransporter in eine Menschenmenge gerast, immerhin hatte sich der tatverdächtige erschossen, was lag da näher als ein Terroranschlag? Natürlich hielten sich die rechten Hetzer, vor allem mal wieder Beatrix von Storch, nicht zurück und sprachen offen vom Staatsversagen angesichts eines islamistischen anschlages. Die ARD setzte für 20:15 Uhr den üblichen Brennpunkt an.

Und dann stellte sich heraus, dass der täter nicht Ali oder Mohamed hieß, sondern, ich muss es bekennen, Jens. Er war ein paar Monate jünger als ich und war natürlich Deutscher, er lebte in Münster und war dort geboren. Die Reaktion der Medien war verblüffend: Der Brennpunkt wurde ohne Angabe von Gründen abgesagt, die Online-Medien titelten: Täter von Münster ist Deutscher. Was sie aber doch eigentlich sagen wollten war: Der Täter ist kein Muslim, denn natürlich können auch deutsche Muslime Terroristen sein.

Merken Sie etwas?

Es stellte sich im Laufe des Abends heraus, dass der Täter kein Muslim war, und schon senkten die Medien ihre Präsenz, fuhren sie die Aufmerksamkeit zurück, bremsten sie die angelaufene Hysteriemaschine. Im Bemühen, diesmal nicht zu eskalieren, ist die Journalistische Zunft ins nächste Fettnäpfchen getreten: Ein Terroranschlag ist auszuschließen, wenn der täter kein Moslem ist, verbreiteten die Medien implizit. Wer Jens r. heißt und volksdeutscher Herkunft ist, und dazu noch Christ oder zumindest kein Muselmane, der kann kein Terrorist sein, zumindest dann nicht, wenn er nicht als Teilnehmer linksextremer Veranstaltungen aufgefallen ist. Er kann höchstens ein armer Irrer sein. Über arme Irre müssen wir nicht so heftig berichten, also fahren wir die Berichterstattung zurück. Vollends vorbei war es mit der Medienhysterie, als bekannt wurde, dass es sich um einen Mann handelte, der psychisch auffällig gewesen sei, wass auch immer das bedeuten mag. Aha: Ein Versager, ein Spinner also, darum müssen wir uns ja nicht kümmern.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin gegen den Brennpunkt zum Wintereinbruch, und auch gegen den zum Flugzeugabsturz, wenn man keine verlässlichen Informationen hat. Aber den bereits angesetzten Brennpunkt zu entfernen, weil der täter kein Islamist ist, zeigt deutlich, nach welchen sensationen unsere Medien suchen. Und sollte sich herausstellen, dass Jens R. aus rechtsextremen Motiven heraus gehandelt hat, so wird man dies mit seinen psychischen Auffälligkeiten entschuldigen.

In Münster sind drei Menschen umgekommen, und ich schließe ausdrücklich den Mann mit ein, der seinem Leben unbedingt auf spektakuläre Weise ein Ende setzen wollte. Sie hinterlassen Familie und Freunde, die ein Leben lang mit dem Verlust, dem Schrecken, dem Trauma werden leben müssen. Der Täter war einer, den man ohnehin nicht versteht, er war psychisch auffällig. Niemand redet darüber, was das bedeutet: Familiäre Überlastung? Drei Minijobs? Einsamkeit? finanzielle Existenzangst? Beziehungsunfähigkeit oder Beziehungsprobleme? Versagensangst im Beruf oder persönlichen Bindungen gegenüber? Was heißt denn dieser begriff der psychischen Auffälligkeit? Kann das nicht alles und gar nichts bedeuten? Kann es nicht politische Kriminalität verharmlosen und das Versagen unserer Gesellschaft verdecken? Der Begriff macht den Täter noch einmal zu einem stigmatisierten Opfer, denn wer psychisch auffällig ist, gilt bestenfalls als Berufs- und Gesellschaftsversager, schlimmstenfalls als „plemplem“ und „nicht ganz richtig im Kopf“.

So viel, wie wir gemeinhin für die Bekämpfung des Terrorismus investieren, sollten wir auch gegen Vereinsamung, seelische Verelendung und Versagensangst einsetzen. Berufliche und private Überforderung, Vereinsamung und Versagensangst sind ernstzunehmende Probleme, die zu Depression führen können, aber auch zu Abstumpfung, Verzweiflung und Gewalt. Wenn wir etwas lernen wollen aus dem „Vorfall von Münster“, dann sollten wir Empathie gegenüber Menschen aufbringen, die in der Leistungs-, Medien- und der kapitalistischen ellenbogengesellschaft unterzugehen drohen, die zu sensibel sind, um sich laut Gehör zu verschaffen, die am Rand stehen. Empathie und Solidarität brauchen wir dringender als Überwachungskameras und mehr Befugnisse für die Sicherheitsbehörden.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter Leben, Medien, Politik abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort zu Zum „Vorfall von Münster“ und „psychischen Auffälligkeiten“

  1. Herbie sagt:

    Zwei unterschiedliche Interpretationen einer Wahrheit, nämlich der
    einfachen Nachricht.

    Mit freundlichen Grüßen

    Herbie

Schreibe einen Kommentar