Nach dem Mord an Theo van Gogh

Nachdenken über die multikulturelle Gesellschaft und ihre Fehler

Dies ist ein Artikel, den ich am 10.02.2005 für meinen Freundeskreis schrieb, und über dessen Inhalt ich immer noch im Zweifel bin.

Es gab Tage, an denen ich die Diskussionen satt war. Es gab Tage, an denen ich nach etwas suchte, um sie mit einem schmerzvollen Satz zu beenden. Aber
es war ungemein schwer. Dann zog ich den Vorwurf des Faschismus aus der
Tasche, und ich weiß, dass er übertrieben war. Immer, wenn draußen vor
unserem Fenster Yasin, der kleine Sohn unserer türkischen Nachbarn, vorbei
lief und meine Mutter mit „Oma“ ansprach, immer, wenn Aishe, seine Mutter,
herüberwinkte, und sich mit meiner Mutter gestikulierend verständigte, oder
wenn sie bei uns am Tisch gesessen und die Küche wieder verlassen hatte, gab
es diese Diskussion.
„Die Aishe will nicht deutsch lernen, und deshalb wird sie sich hier nie
integrieren. Am Anfang trug sie normale Kleidung, aber seit dem Besuch in
der Türkei im Sommer ist sie wieder vollständig unter dem Schleier
verborgen. Dabei ist sie nicht dumm, und sie könnte hier heimisch werden.
Aus irgendeinem Grund sind sie doch hergekommen, und dann muss man sich auch
an die Gepflogenheiten des Landes anpassen.“ So sprach meine Mutter.
„Ayshe ist muslimischen Glaubens, und sie kann und soll nach ihrem Glauben
leben. Dazu gehören Kopftuch und Schleier, und es ist diskriminierend, wenn
du sie zwingen willst, ohne Kopftuch und Schleier herumzulaufen. Wir sollten
sie vielmehr so akzeptieren, wie sie ist“, antwortete ich. Über Stunden ging
es dann manchmal hin und her. Aber zum Kern der Sache stießen wir nie vor.
Schleier und Kopftuch waren Äußerlichkeiten, über die wir uns stritten. In
Marburg, in den „linken“ Kreisen, in denen ich mich bewegte, konnte ich
sagen, dass die türkische, ja die muslimische Frau oft unterdrückt wurde,
und dass Schleier und Kopftuch nicht nur Symbole der Religion, sondern als
solches auch Symbole der Unterdrückung waren. Aber in Solingen und meiner
Mutter gegenüber konnte ich das nur andeuten, denn sie verlangte, so sah ich
es, vollkommene Assimilation, obwohl sie immer wieder sagte, dass jeder
seinen Glauben haben solle, und dass sie den respektiere. Schwierig war
daran aber, dass Aishes Verhalten zu diesem Glauben passte: In der Regel
blieb sie im Haus, lernte kein Deutsch, und sie trug Kopftuch und Schleier.
Wie würde ich wohl heute argumentieren? Würde ich not gedrungen auf meine
Mutter zugehen, oder wäre ich zu stolz?

An jenem Dienstag im November 2004 gab es für mich nur ein Thema: Die
amerikanische Präsidentschaftswahl. Sie verschlang regelrecht alle anderen
Tagesmeldungen, und als mich Bianca einen Tag später auf jenes andere
Ereignis ansprach, habe ich es beiseite gelegt, weil ich glaubte, es habe
sich schon einmal so zugetragen. Mehr als ein leises Bedauern über ein
zusammenbrechendes, ehemals gut funktionierendes System des Zusammenlebens habe ich
nicht empfunden, als ich vom Tode Theo van Goghs hörte. Bianca sagte mir, er
sei ein rechter Filmemacher gewesen, und er sei auf offener Straße ermordet
worden, vermutlich von einem jungen Ausländer. Da haben wir die Bescherung,
dachte ich. Bei Pim Fortuyn waren alle froh, dass der Mörder kein Ausländer
gewesen war, denn sonst hätte man einen Bürgerkrieg gehabt. Jetzt war ein
bekannter Niederländer von einem Ausländer ermordet worden. Mist. Jetzt
würde es drunter und drüber gehen in Holland. Wie recht ich damit hatte,
überprüfte ich nicht. Ich hörte nur nebenbei, dass es Anschläge auf Moscheen
und Schulen und Kirchen gegeben hatte, dass diese in der Regel nachts
durchgeführt wurden, wo keiner in den Gebäuden war, und dass die
mitte-rechts-Regierung in Holland einige des Terrorismus verdächtige
Personen festgenommen hatte und gemeldet hatte: „Wir sind im Krieg.“ Nach
zwei Wochen, so schien es, beruhigte sich die Lage wieder, das Thema
verschwand vollends aus meiner Erinnerung. … Bis mich Jürgen Neitzel, der
Organisator der marburger Montagsdemos, auf die lange Nacht im
Deutschlandfunk zum Thema „Amsterdam“ aufmerksam machte. Das war vor knapp
zwei Wochen, und plötzlich war alles wieder da, und es enthüllten sich große
Zusammenhänge, und in mir erhob sich ein ganzer Fragenkatalog. In den
letzten zwei Wochen habe ich versucht, ihn zu beantworten, und dabei musste
ich mir die Frage nach der multikulturellen Gesellschaft und der Toleranz
anderen Religionen gegenüber vollkommen neu stellen.

Der Fall van Gogh

Theo van Gogh war 47 Jahre alt und ein Urgroßneffe von Vincent van Gogh. Er
war ein Filmemacher und Provokateur. Holland hielt viel von ihm. Er sagte
seine Meinung, überzog und überspitzte sie, und obwohl er in Holland immer
mal wieder einen Sturm der Entrüstung auslöste, war man stolz auf ihn. Es
gehörte zum holländischen Selbstverständnis, seine Provokateure zu haben,
die unverblümt unangenehme Dinge sagten, die bis hart an die Grenze der
Beleidigung gingen. Es ist in Holland nicht einfach, Provokateure in eine
politische Schublade zu stecken. Weder Theo van Gogh, noch Pim Fortuyn waren
im klassischen Sinne Rechtsausleger. Van Gogh legte sich politisch überhaupt
nicht fest, von ihm kriegten die Linken und die Rechten ihr Fett, und alle
drei großen Religionsgruppen, die Christen, Juden und Moslems. Er teilte
aus, und setzte sich gleichzeitig vehement für Demokratie, Meinungsfreiheit
und Gleichberechtigung ein, beleidigte aber jede Religion mindestens einmal.
Er lebte in Amsterdam, gab sich volksnah und fuhr täglich mit dem Rad zur
Arbeit. Auch er war stolz auf dieses multikulturelle Gewimmel, dass als das
tolerante kleine Land perfekter Integration bekannt geworden war.

Im August 2004 zeigte das niederländische Fernsehen einen elf-minütigen Film
Van Goghs, in dem, so verkürzten es die Medien, frauenfeindliche Koranverse
auf die nackten Körper geschundener Frauen geschrieben worden waren. Wieder
eine Provokation. Es sollte seine letzte sein.

Am 2. November 2004 fuhr er mit seinem Rad zum Studio. Er wollte sich die
erste Schnittfassung seines neuen Films über Pim Fortuyn ansehen. Er
verehrte diesen vor knapp drei Jahren in Holland ermordeten Populisten, weil
er mit Tabus gebrochen und in der Gesellschaft längst überfällige
Diskussionen angeregt hatte, so sah es van Gogh. Auf dem Weg zum Studio
sprach ihn der 26jährige Mohammed B. an, ein niederländer marokkanischer
Abstammung, der in Amsterdam geboren und aufgewachsen war. Mit einem Messer
stach er auf den Filmemacher ein, schoss dann fünf mal auf van Gogh, schnitt
dem Toten sodann mit einem zweiten Messer die Kehle durch und rammte ihm das
Messer, um dessen Heft ein Brief geschlungen war, in den Bauch. Dann floh
er, konnte aber wenige Stunden später in der Nähe des Tatortes bei einem
Feuergefecht mit der Polizei gestellt und festgenommen werden. Das Land war
entsetzt. 20.000 Menschen versammelten sich abends in Amsterdam, um des
Ermordeten zu gedenken. Zwei Tage später begann sich der gegenseitig
aufgestaute Hass und die Wut zu entladen. Brandsätze gegen Moscheen, Kirchen
und Schulen wurden geworfen, die Regierung verkündete, man sei im Krieg.
Geschockt fragte sich die Öffentlichkeit, wie so etwas möglich geworden sei
in den Niederlanden, die immer ein Beispiel für Toleranz gewesen seien. Aber
es gab auch kritische Stimmen. Es gab Menschen, die sich fragten, ob die
viel gepriesene Toleranz nicht in Wirklichkeit Gleichgültigkeit gewesen sei,
ob nicht die sogenannte Integration in Wirklichkeit zu zwei nebeneinander
lebenden Gesellschaften geführt habe, die sich kaum begegneten, nämlich der
niederländischen Gesellschaft und der muslimischen. Toleranz bedeutete in
Holland bis zum Auftreten von Fortuyn, dass islamische Imame, die den Hass
auf den Westen offen predigten, ungehindert ins Land kommen und predigen
durften. Kurz nach dem Tode Van Goghs hing ein Rotterdamer in sein Fenster
den Satz: „Du sollst nicht töten.“ Daraufhin wurde er von der Polizei
festgenommen, denn sein Haus lag in der Nähe einer Moschee. Man beschuldigte
ihn der Diskriminierung und der Provokation, dabei hatte er nur an dieses
Gebot erinnern wollen, alle Menschen, alle Gruppen. Das sind die Stilblüten
holländischer Toleranz, und auch dieses Ereignis rief einen Sturm der
Entrüstung hervor. Seit Fortuyn fragt sich die niederländische Gesellschaft
verwirrt, wie weit politische Korrektheit gehen darf.

Der Stellvertretermord: Die Geschichte von Ayaan Hirsi Ali

Der Brief, den die Polizei um das Messer gewickelt fand, mit dem Theo van
Gogh ermordet worden war, war an die Parlamentsabgeordnete Ayaan Hirsi Ali
gerichtet. Van Gogh kam in diesem Brief nicht ein einziges mal vor. Der
Mörder prophezeihte ihr das nahe Ende, denn sie arbeite als „Soldatin des
Bösen“ gegen den wahren Glauben. Sie sei eine abtrünnige, und Amerika,
Europa, Holland und Hirsi Ali würden untergehen. Aber wer ist Ayaan Hirsi
Ali, die kurz nach dem Mord untertauchte und erst im Januar 2005 nach den
Haag zurückkehrte?

Ayaan Hirsi Ali wurde am 13.11.1969 in Mogadischu, Somalia, als Tochter der
vierten Frau eines Reformpolitikers geboren, der das streng islamische Land
verlassen musste. In seiner Familie hielt der Reformpolitiker nichts von
Liberalisierung, und so wurde Ayaan traditionsgemäß beschnitten und zur
islamischen Frau erzogen. Allerdings war sie schon früh aufmüpfig. Sie
widersprach ihrem Koranlehrer, der sie daraufhin schlug und ihr einen
Schädelbasisbruch zufügte. Die Familie lebte eine Zeit lang in Saudi Arabien
und dann in Kenia. Als Ayaan 22 war, verheiratete sie der Vater an einen
entfernten Vetter, der in Kanada lebte. Das mutet seltsam an, denn
gleichzeitig hatte er ihr, ganz im Gegensatz zur sonstigen Tradition, eine
hohe Bildung ermöglicht, sie hatte das Abitur abgelegt, was in Somalia nie
möglich gewesen wäre. Als sie nach Kanada zu ihrem Mann reisen sollte, den
sie noch nie gesehen hatte, machte sie in Deutschland station. Anstatt das
nächste Flugzeug zu nehmen, fuhr sie mit dem Zug in die Niederlande,
beantragte Asyl und rief den Vater an und unterrichtete ihn von ihrer
Entscheidung. Natürlich war er sauer und warf ihr vor, der Familie Schande
bereitet, also die Ehre der Gemeinschaft verletzt zu haben. Ayaan Hirsi Ali
bekam ihr Asyl, stellte einen Einbürgerungsantrag, arbeitete als Putzfrau,
lernte Niederländisch, engagierte sich als Übersetzerin in Frauenhäusern und
kam so mit dem Leid islamischer Frauen in den Niederlanden in Berührung. Es
gab viele Frauen, die sich verstecken mussten, weil sie die Ehre der Familie
verletzt hatten. Jede Handlung, die den islamischen Gesetzen zuwiderläuft,
oder jede größere Kritik am Islam gilt als mangelnder Respekt der
Gemeinschaft der Gläubigen gegenüber. Wenn eine Frau sich verliebt, wenn sie
sich weigert, den Schleier zu tragen, immer fühlt sich die Familie und
manchmal schlimmer noch die gesamte Glaubensgemeinschaft in ihrer Ehre
beeinträchtigt. Die nach islamischem Recht und vorislamischen
Stammesgepflogenheiten angemessene Antwort ist die Tötung der Ehrschänderin.
Ayaan Hirsi Ali setzte sich mehr und mehr für die Frauen ein und wandte sich
mehr und mehr gegen den Islam, weil sie erkannte, dass die allermeisten
Gläubigen im Gegensatz zu den Christen die Bibel, den Koran als wörtlich zu
nehmende Lebensanleitung betrachten. Auch die sogenannten gemäßigten
islamischen Gemeinschaften, wie beispielsweise die islamische Föderation in
der Bundesrepublik Deutschland, schreiben deutlich in ihren Publikationen
und auf ihrer Website, dass der Koran wörtlich zu nehmen sei, und zwar in
jeder Hinsicht, da es dem Menschen nicht zustehe, das Wort Gottes und des
Propheten zu interpretieren.

Ayaan Hirsi Ali studierte Politologie, bemühte sich um Kontakte und fühlte
sich der sozialdemokratischen Partei der Arbeit (PVDA) nahe. Sie trat einer
parteinahen Stiftung bei und engagierte sich politisch. Ihre Parteifreunde
bekamen es schnell mit der Angst zu tun, als sie begann, gegen die
Frauenverachtung des Islam zu wettern. In Holland war es politisch inkorrekt
und daher diskriminierend, gegen eine Religionsgemeinschaft und deren
Glauben aufzutreten. Man bekam es mit der Angst zu tun. Zu dieser Zeit
betrat Pim Fortuyn die Bühne und bezeichnete den Islam wegen seiner
Homofeindlichkeit und seiner Frauenunterdrückung als „rückständige
Religion“. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich. Ayaan Hirsi Ali war längst
nicht in allen Punkten mit Fortuyn einer Meinung, aber sie bewunderte dessen
Auftreten und stimmte ihm in der Einschätzung des Islam zu. Für ihre Partei
wurde sie nach und nach zum Problem, weil sie immer wieder die Probleme der
Frauen in muslimischen Familien und Gemeinschaften anprangerte, bei jedem
öffentlichen Auftritt. Nach dem Mord an Pim Fortuyn im Mai 2002 wurde es
auch für Ayaan Hirsi Ali gefährlich, denn sie wurde anonym mit dem Tode
bedroht und musste sich für mehrere Monate verstecken. In dieser Zeit trat
die rechtsliberale Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) auf sie zu
und bot ihr einen absolut sicheren Listenplatz für die Parlamentswahl im
Januar 2003 an. Ayaan Hirsi Ali stimmte unter der Bedingung zu, dass sie von
der Partei nicht daran gehindert wurde, ihre Meinung zu sagen. Die VVD
brauchte ein Aushängeschild gegen den ungehinderten Zuzug in die
Niederlande, eine Frau ausländischer Herkunft, die trotzdem sagte, dass eine
neue Integrationspolitik her müsse, und Hirsi Ali benötigte einen Sitz im
Parlament, um ihre Meinung öffentlich sagen und für die Frauen streiten zu
können. Man machte einen Deal. Enttäuscht hatte sie über die
Sozialdemokraten gesagt: „Allah verspricht ein Paradies nach dem Tode, die
Sozialdemokraten wollen 20 oder 30 Jahre warten, aber ich will jetzt
Veränderungen.“ Sie übernahm Fortuyns Satz von der rückständigen Religion
und provozierte damit die islamische Gemeinschaft der Niederlande bis auf
den Tod. Radikale Imame forderten ihren Tod, aber sie kämpfte weiter und
schrieb das Drehbuch zu einem Kurzfilm namens Submission, der von Theo van
Gogh gedreht wurde. Eine islamische Frau betet in diesem Film zu Allah und
erzählt das Schicksal von vier weiteren Frauen, die um sie herumsitzen.
Eine, die wegen außerehelichem Verkehr zu 100 Stockschlägen verurteilt
wird, eine, die gegen ihren Willen verheiratet und in der Ehe vergewaltigt
wird, eine, die von ihrem Mann misshandelt wird und eine, die Allahs Gebote
immer beachtet, aber von ihrem Onkel im Haus vergewaltigt wird, deren Vater
ihre Anschuldigungen aber als Ehrverletzung seines Bruders betrachtet. Die
zu diesen Geschichten gehörenden Koranverse sind auf den Körper oder die
Kleidung der Frauen geschrieben, die Kamera wandert von der Sprecherin zu
der jeweiligen Frau, über die sie spricht. Nackte Frauen sind nicht zu
sehen, nur halbnackte. Eine Frau trägt einen durchsichtigen Schleier und ein
durchsichtiges Kleid, um zu zeigen, dass es sich um einen Frauenkörper
handelt, was sonst praktisch unsichtbar wäre. Dieser Film, der nach Aussage
niederländischer Medien für van Goghs Verhältnisse eher noch moderat ist,
führte zu dem Mordanschlag, der eigentlich Ayaan Hirsi Ali galt, aber an
Theo van Gogh verübt wurde, weil man an die Abgeordnete nur schwer heran
kam. Wütend, verzweifelt und traurig, mit Schuldgefühlen belastet, weil sie
Theo van Gogh fragte, ob er den Film produzieren wolle, musste Ayaan Hirsi
Ali wieder untertauchen, aber sie beschloss, ihre Arbeit fortzusetzen. Und
das geschah sehr zum Verdruss ihrer Parteifreunde und des politischen
Establishments. Man sehnt sich in Holland nach der kuscheligen Zeit zurück,
in der die Probleme nicht offen zutage traten, weil es einfach zwei
Parallelgesellschaften gab, die einander kaum berührten. Man will zurück in
die Zeit, in der die Probleme nicht angesprochen werden, weil das den Zorn
der anderen Seite auslöst. Der Film Submission wurde nie wieder öffentlich
gezeigt, um Konsequenzen vorzubeugen, obwohl es Stimmen gibt, die sagen,
dass es erlaubt sein muss, die Wahrheit zu sagen.

Toleranz, Integration und Assimilation

Die provokanten Worte der Ayaan Hirsi Ali enthalten sozialen Zündstoff. Das
liegt daran, dass die Niederländer vor den Scherben eines Traumes stehen. In
Holland nämlich bildete man sich viel ein auf Toleranz und Integration.
Diese Vorhaben aber sind offensichtlich gescheitert. In den dreißiger Jahren
gab es auch in den Niederlanden Judenfeindlichkeit. Zwar war sie nicht so
ausgeprägt und nicht vom Staat verordnet wie in Deutschland, aber es gab
sie. Nach dem zweiten Weltkrieg beschloss man auch bei unseren Nachbarn,
daraus zu lernen. Die Menschen, die anders waren, sollten einfach akzeptiert
werden, man wollte nichts von ihnen verlangen, ihnen aber vieles anbieten.
So kam es, dass in den frühen sechziger Jahren die ersten Gastarbeiter auch
aus islamischen Ländern in die Niederlande strömten. Gute Erfahrung hatte
man mit Menschen aus anderen Teilen der Welt gemacht. Menschen aus
ehemaligen Kolonien fügten sich in die niederländische Gesellschaft ein,
aber sie brachten auch ihre Eigenheiten ein, beispielsweise ihre
Handelskontakte in die Länder Asiens und Amerikas. Auch den Muslimen wurden
Kurse in Niederländisch und eine Einbürgerungshilfe angeboten, aber dort zog
man es vor, unter sich zu bleiben, zusammen also mit anderen gläubigen
Muslimen, um gemeinsam den Geboten des Islam nachkommen zu können. Die
Gastarbeiter verrichteten wie in ganz West- und Mitteleuropa zu dieser Zeit
niedere Arbeiten. Aber gesellschaftlich wurden sie freundlich empfangen. Als
sie sich allerdings entschieden, unter sich zu bleiben, ließ man sie
gewähren. Religionsfreiheit wurde hoch gehalten, in den Niederlanden war man
stolz darauf. So konnten die Imame frei predigen, auch öffentlich und laut
von den Minaretten ihrer Moscheen aus. Und sie konnten predigen, was ihnen
gefiel. Einen Paragrafen gegen Volksverhetzung kannten und kennen die
Niederlande bislang nicht. Da Frauen kein Niederländisch lernten, gerade bei
Marokkanern war das weit verbreitet, wuchsen auch die Kinder der zweiten
Generation oft ohne Sprachkenntnisse des Niederländischen und ohne viel
Kontakt zur einheimischen Bevölkerung auf. Die Regierung förderte islamische
Schulen, und dabei blieb es. Sie achtete nicht darauf, welche Einstellung
man dem Land entgegenbrachte, in dem man lebte. Während Menschen anderer
Kulturen zum Teil den Anschluss an die Gesellschaft suchten, ohne ihre
Sitten aufzugeben, ihr Aussehen zu verleugnen und ihre Heimat zu vergessen,
blieb man bei den Muslimen häufig unter sich, und seit es das
Satellitenfernsehen gibt, hört man in der muslimischen Gemeinschaft
praktisch nur noch arabische Fernsehsender. Solange nichts passierte,
solange selbst die größten Hasstiraden fundamentalistischer Imame nur ein
kleines oder gar kein Echo in der niederländischen Gesellschaft
hervorriefen, ging alles gut. Auch dass man nie offen sagte, dass die
Gewaltbereitschaft unter marokkanischen Jugendlichen besonders hoch war,
trug zum gesellschaftlichen Frieden bei. Aber seit 2000 standen die Zeichen
immer mehr auf Sturm. Da nämlich erschien ein viel beachteter Artikel von
Paul Scheffer, einem Publizisten aus Amsterdam. Paul Scheffer
behauptete, die Integration der Muslime in die niederländische Gesellschaft
sei gründlich schief gegangen. Man habe es nicht geschafft, in dieser
Gemeinschaft ein Zugehörigkeitsgefühl für dieses Land zu wecken. Eigentlich
müsse man auch von Ausländern fordern, dass sie sich einbrächten, dass sie
ihre Erfahrungen, ihre Kraft und Initiative der Gesamtgesellschaft zugute
kommen ließen, aber das würde hier nicht geschehen. Sie würden gefördert,
aber nicht gefordert, und ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Staat und
der Rechtsordnung, in der sie lebten, würde geduldet. Das sei falsch
verstandene Toleranz. Paul Scheffer ist weit davon entfernt, einen
Einwanderungsstopp zu fordern, aber er fordert, dass die Integration der in
den Niederlanden lebenden Ausländer kräftig vorangetrieben werden müsse.
Beispielsweise sollte man einen verpflichtenden Sprachkursus anbieten für
Männer und Frauen. Man sollte dafür sorgen, dass die Gesetze eingehalten
werden, und man sollte die Einwanderer verpflichten, nicht gegen die
Rechtsordnung zu verstoßen, in der sie leben. Hier stößt man allerdings
sofort auf das Problem. Wenn man vollständige Religionsfreiheit gewähren
will, so kann man nicht die Einhaltung der gegenwärtigen Rechtsordnung
verlangen. Die Islamische Religion, der Koran und die Sharia, sind für den
Gläubigen unmittelbar geltendes Recht. Es ist ihm verboten und praktisch
unmöglich, diese Vorschriften zu interpretieren, manche zu befolgen und
manche nicht. Der Islam ist eine Religion mit Absolutheitsanspruch. In ihm
hat es nie jene Auseinandersetzungen gegeben, die im Christentum dazu
geführt haben, dass ab dem 19. Jahrhundert die Bibel als Leitfaden, aber
nicht mehr als wörtlich zu nehmendes Gesetz betrachtet wurde. Bibelkritik
ist im christlichen Glaubensverständnis in der Regel enthalten, aber nicht
beim Islam. So kommtt es, dass gläubige Muslime sich in einem fürchterlichen
Konflikt sehen, wenn sie in einer westlichen Gesellschaft leben, in der
beispielsweise die Frauen mehr Rechte haben. Es verstößt gegen ihren
Glauben, gegen ihre Ehre und ihre Schamgrenzen, wenn jetzt Frauen aus dem
eigenen Kulturkreis eben solche Forderungen stellen. Dass die Ungläubigen
nicht nach dem Koran handeln, können sie, wenn auch murrend, akzeptieren,
aber für die Mitglieder der islamischen Gemeinschaft darf das nicht gelten.
Reformen sind für den Islam durch das eigene Selbstverständnis
schlichterdings unmöglich, eben weil der Koran als das unauslegbare Wort
Gottes gilt. Das bewirkt tatsächlich, dass die Grundsätze der islamischen
Religion im siebenten Jahrhundert stehen geblieben sind. Insofern haben
Ayaan Hirsi Ali und Pim Fortuyn recht, wenn sie von einer rückständigen
Religion sprechen, denn sie ist ganz bewusst nicht mit der Zeit und der
Entwicklung des Menschen gegangen. Dabei muss man sagen, dass sie damals, im
siebenten Jahrhundert, eine der fortschrittlichsten Glaubensrichtungen war.

Die Frage lautet also: Wieviel Toleranz kann man sich leisten, was
gleichzeitig bedeutet: wieviel Integration kann man erreichen, und wieviel
Assimilation muss man verlangen?

Konsequenzen im eigenen Denken

Seit Tagen frage ich mich, was meine eigene Einstellung zum Thema
Integration von Ausländern, speziell von Muslimen, ist. Haben die Linken, so
frage ich mich, in ganz Europa nicht denselben Fehler begangen wie in
Holland? Haben wir nicht verlangt, dass Muslime ihre Kultur, ihre
Lebensweise und ihre Religion unangepasst auch hierher mitbringen und hier
ausleben dürfen? Haben wir nicht sagen wollen, dass es überheblich ist, dass
man sich unseren westlichen Werten anpassen muss? Doch, das haben wir sagen
wollen und auch oft gesagt. Aber haben wir nicht damit auch weggeschaut?
Haben wir damit nicht auch in kauf genommen, dass die Werte unserer
Gesellschaft plötzlich weniger Wert waren als die Werte jeder anderen
Gesellschaft? Haben wir nicht alle Ausländer auf einen Sockel gestellt wie
als Kinder die ausgerotteten Indianer? Haben wir nicht immer und immer wieder
behauptet, dass Menschen aus anderen Ländern bessere Menschen als die blöden
Deutschen sind? Gehörten solche Denkweisen nicht zu einer von uns
angenommenen, verklärten und übertriebenen Ideologie von Toleranz und Demut?
Steckte nicht mangelndes kulturelles und gesellschaftliches
Selbstbewusstsein und Angst vor faschistischen Tendenzen dahinter? Aber
haben wir nicht genau dadurch die Unzufriedenheit und die faschistischen
Tendenzen bei den Unzufriedenen gefördert? Hat die politische Korrektheit
nicht zu Tabuisierungen ganz neuer und anderer Art geführt? Ist es nicht
richtig, offen zu sagen, dass die islamische Religion und die westliche
Menschenrechtsauffassung in der Regel nicht kompatibel sind? Muss man nicht
eine solche Bestandsaufnahme treffen, um von dort aus weiterzugehen und neue
Wege der Kommunikation und des Miteinanders zu erforschen? Es geht nicht
darum,den Hass auf den Islam und schon gar nicht auf Menschen muslimischen
Glaubens zu schüren. Aber es geht darum, aus unserer Werteordnung heraus
klar sagen zu können, dass der Islam mit dieser Werteordnung unvereinbar
ist, wenn er in Reinform ausgeübt wird. Es kann nicht das richtige Mittel
sein, per Gesetz plötzlich islamischen Frauen das Tragen von Kopftuch und
Schleier zu verbieten, wenn sie im öffentlichen Dienst arbeiten wollen. Denn
wenn sie das wollen, dann sind sie schon einigen Vorschriften des Islam
entronnen, die sie an das Haus fesseln und rechtlos halten. Trotzdem: Ist es
nicht richtig, sich Gedanken darüber zu machen, wie man unsere Gesellschaft,
unsere Werte und unsere Freiheiten vor Religionen mit Absolutheitsanspruch
schützen kann?

Ich will niemanden diskriminieren. Dafür istt mir das Recht, seine eigene
Persönlichkeit frei zu entfalten, selbst viel zu wichtig. Trotzdem habe ich
stärker als früher das Gefühl, von Menschen anderer Herkunft eine gewisse
Anpassung an Werte und vor allem Normen einer Gesellschaft verlangen zu
sollen, in der sie leben und die sie aufgenommen hat, oder in der sie
freiwillig leben wollen. Wenn sie das wollen, dann müssen sie die Rechts-
und Gesellschaftsordnung des Landes, in dem sie leben, akzeptieren und
danach leben. Das bedeutet eben nicht, dass sie plötzlich Christen werden
müssen. Aber es bedeutet, dass die Vorschriften des Koran, die
gesellschaftliche und rechtliche Dinge betreffen, hier keine unmittelbare
Gültigkeit haben können. Ist das zu viel verlangt? Ist das Diskriminierung?

Toleranz darf nicht zur Selbstaufgabe führen, auch nicht in einer
Gesellschaft, die in ihrer Geschichte schwere Schuld auf sich geladen hat,
denn nahezu jede Gesellschaft hat dies getan. Wenn wir an unseren Werten der
Menschenrechte festhalten, wie viel Multikulturalismus vertragen wir dann?
Wenn wir Anderen nicht aufzwingen wollen, sich uns in den Grundfesten ihres
Glaubens anpassen zu müssen, was ist dann wirklich von einer
multikulturellen Gesellschaft zu halten? Muss sie dann nicht ein Traum
bleiben, der nicht zu verwirklichen ist? Der Traum von dieser
multikulturellen Gesellschaft ist ein linker Traum, ein Traum von
gegenseitigem Respekt und von gegenseitigem Anerkennen und voneinander
Lernen. Die Idee dahinter ist zweifelsfrei gut gemeint, denn sie besagt,
dass niemand besser ist als der Andere, nur weil seine Werte vorherrschend
sind in einem Gebiet. Es zeugt von Respekt und dem Willen, einander näher zu
kommen. Aber bei so vollkommen unterschiedlichen Lebensweisen, die beide
einen hohen, oder gar einen absoluten Anspruch auf Gültigkeit erheben,
entsteht ein Problem, und die schwächere Werteordnung, die, die nicht
vollkommen absolut ist, gibt nach, eben die, die auf Freiheit gerichtet ist
und toleranz predigt. Was also können wir tun? Wie bringen wir Toleranz und
den Schutz unserer Werte, unserer Menschenrechte in Einklang? Wie kann man
in einem Land leben und verlangen und erwarten, dass alle Bewohner sich an
bestimmte Grundregeln halten, ohne dabei ihre Identität aufzugeben? Fast
glaube ich, dass dies im Falle des wirklich frömmigen Muslimen nicht möglich
ist. Zumindest muss man darüber viel mehr nachdenken als bislang, und vor
lauter Toleranz können wir nicht mehr immer nur zurückweichen und
Verständnis aufbringen, wo es in unserer Werteordnung nichts mehr zu
verstehen gibt.

Wenn ich heute mit meiner Mutter am Fenster unserer Küche säße, wäre ich
viel verwirrter als früher. Ich war genau wie die Niederländer in fast schon
fundamentalistischer Weise politisch korrekt und auf einem Auge blind, das
weiß ich jetzt. Aber ich würde mir trotzdem bewahren wollen, andere Menschen
individuell zu betrachten und ihnen und ihrem Glauben und ihren Werten
gegenüber tolerant und interessiert zu sein. Aber ich möchte auch unsere
Werte der Demokratie, der Menschenrechte, der Freiheit und Gleichheit
verteidigen, ohne in den Verdacht zu geraten, ein Ausländerfeind zu sein.
Und ich möchte sagen können, dass die Regeln unseres Staates, in dem die
Ausländer leben, auch für sie Gültigkeit haben. Ich möchte keine
Assimilation, aber weitgehende Integration verlangen. Aber trotzdem möchte
ich wachsam bleiben. Was also würde ich heute meiner Mutter antworten, wenn
sie von Aishe spricht?
„Ja, es wäre gut, wenn sie deutsch lernen und aus dem Haus gehen würde. Nur,
wenn sie deutsch kann, kann sie sich auch integrieren. Vielleicht würde sie
dann auch den Schleier wieder ablegen. Und wenn nicht, dann könnte man sie
immerhin mal fragen, warum sie es nicht tut?“ Keine befriedigende Antwort.
Sie zeugt von Unsicherheit und dem Versuch, ein neues Verständnis für
Multikulturalismus zu finden. Eines weiß ich aber: die Debatte, wie sie
jetzt in Holland stattfindet, und wie sie auch in Deutschland stattfinden
müsste, wenn es nicht dieses Tabu Ausländerfeindlichkeit gäbe, das aus Angst
vor Faschismus geboren ist, hat mich endgültig vom Ideal der
multikulturellen Gesellschaft entfremdet, diesem Ideal, das aus Naivität und
Unkenntnis und bewusster Abschottung vor verschiedenen Tatsachen entstand.
Theo van Gogh, Paul Scheffer und Ayaan Hirsi Ali haben mir die Augen ein
stück weiter geöffnet, und ich werde wohl noch lange über dieses Thema
nachdenken müssen.

Copyright © 2005, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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