Der Wahlkampf hat begonnen

Das schlimmste ist, dass man langsam abstumpft. Dabei müsste der Wahlkampf
gerade jetzt das Hauptthema Nr. 1 sein.

Eigentlich müsste man sich jetzt wie ein Assgeier auf die Wahlprogramme
stürzen, aber bevor nicht das Bundesverfassungsgericht sein Urteil über die
Rechtmäßigkeit der über uns hereingebrochenen Wahl getroffen hat, habe ich
dazu keine Lust. Nur mein politisches Interesse wird mich letztlich doch
dazu treiben, und sei es nur, um die Wahlprogramme in Bausch und Bogen
verdammen zu können. Und genau jetzt kommt eine Empfindung hinzu, die ich
schon gar nicht mehr für möglich gehalten hätte. Ich bin enttäuscht.

Ich kann mich an diesen Wahlsonntag im September 1998 erinnern, als nach
sechzehn Jahren die Ära Kohl endlich zuende ging. Ich bin damals mit sehr
viel Hoffnungen an die Beurteilung der neuen Regierung gegangen, auch wenn
ich Gerhard Schröder damals schon nicht mochte. Ich habe bei seinen
Äußerungen immer die soziale Gerechtigkeit vermisst, überhaupt die
Anerkennung sozialer Errungenschaften. Damals habe ich Leuten wie Ottmar
Schreiner und Oskar Lafontaine zugetraut, Schröder im Zaum zu halten. Aber
beide waren bald verschwunden. Schreiner blieb nicht lange Generalsekretär,
und Lafontaine zog sich nach einem halben Jahr zurück. Schröder setzte sich
durch. Er, der in Niedersachsen so grandios gewonnen hatte, produzierte im
Bund eine Panne nach der Anderen. Und es wurde manchmal schon peinlich, ein
Anhänger dieser Regierung zu sein. Trotzdem gab es auch viele gute Ansätze.
Die Behindertenpolitik ist so ein Beispiel. Mit Karl Hermann Haack als
Behindertenbeauftragter
der Bundesregierung gab es tatsächlich den so oft beschworenen
Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik, zumindest wurden die
Betroffenen endlich einmal an politischen Entscheidungen beteiligt. Dass
diese neue Zusammenarbeit dann stück für Stück wieder zurückgefahren wurde,
als die finanziellen und wirtschaftspolitischen Erwägungen immer mehr in den
Fordergrund trafen, ist eine der Enttäuschungen, von denen ich spreche.
Hätte die Regierung einen längeren Atem haben wollen, sie hätte viel
erreichen können. Aber der „Genosse der Bosse“ hatte diesen Atem und auch
den Willen nicht, sich die Stimmen zu erhalten, die ihm den Sieg brachten.

Gerhard Schröder hat gewonnen im Jahre 1998, weil die mit Helmut Kohl
zunehmend unzufriedenen Menschen ihn gewählt haben. Und all das hat er sich
verspielt, weil er auf die dynamischen Unternehmer setzte. Aber mit
Wirtschaftlern allein lassen sich keine Wahlen gewinnen. 5 Millionen
Arbeitslose werden den Kanzler bestimmt nicht wählen, und die werden durch
die Manager, die sich ihre Gehälter selbst erhöhen dürfen, egal, wer gerade
an der Regierung ist, nicht aufgewogen.

Dieser Frust ist es, der mich zögern lässt, mir die Wahlprogramme der
Parteien anzusehen. Ich bin mündig genug um zu wissen, dass keine der
möglichen Regierungspartner der Zukunft eine Lösung für die dringenden
Probleme hat, mit denen wir kämpfen müssen. Alle ziehen im Grunde an einem
Strang, mit dem Abbau des Sozialstaates soll die Wirtschaftskrise überwunden
werden. Und alle wissen im Grunde, dass sie damit auf die Dauer die
Lebensgrundlagen unseres Staates im Wohlstand zerstören, finden aber keinen
Ausweg. Die neue Linkspartei vielleicht, aber die muss ihre Konzepte noch
finden, Konzepte, die auf die heutige Situation anwendbar sind. Das ist
nicht leicht.

Der Wahlkampf hat begonnen, die ersten Schlammschlachten werden geschlagen.
Bald wird man in Radio und Fernsehen wieder die Wahlwerbespots der Parteien
hören: „… für den Inhalt der Sendung ist die jeweilige Partei
verantwortlich…“ – Schönen Dank, das kennen wir schon. Wer sich wirklich
informieren will, muss die Wahlprogramme lesen und sich über die internen
Presseveröffentlichungen und die im Bundestag zirkulierenden Papiere
informieren. Aber wer tut das schon? Die meisten stehen auf griffige
Formeln.

Copyright © 2005, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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Eine Antwort zu Der Wahlkampf hat begonnen

  1. Das Nest sagt:

    Hallo, Jens und ihr anderen LeserInnen! Also ich finde es schade, daß Du sagst, man brauche die Programme ja im Grunde überhaupt nicht zu lesen, da ja sowieso keines der Programme Lösungen biete. Ich denke, daß es trotzdem lohnt und daß man aus dem, was Parteien über sich selbst schreiben und erst recht durch die Botschaften zwischen den Zeilen Schlüsse ziehen kann. Wo kann man einhaken, wo sich vielleicht selbst engagieren? Nicht zuletzt die Weblogs von PolitikerInnen könnten eine gute Chance werden, etwas mehr Einfluß zu nehmen als durch den guten alten Vermittlungsausschuß. Deine Unlust kann ich allerdings verstehen, aber wir sollten sie überwinden, gerade auch, weil extra für blinde Leute engagierte Menschen sich die Arbeit gemacht haben, die Wahlprogramme auf einer Daisy-Dc-Rom zusammenzustellen.Ich persönlich bin neugierig auf die Wahlprogramme und hoffe, Dich und andere damit vielleicht ein wenig anstecken zu können!

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