St. Martin, St. Martin! – St. Martin ritt durch Schnee und Wind

Heute ist St. Martin. Aber heute kamen keine Kinder, um nach etwas Süßem zu singen. Das haben sie schon vor einer Woche gemacht, bedrohlicher, maskierter, fordernder, an Halloween. Damals, als ich zur Schule ging, in meinem strengen Internat, da war das noch ganz anders…

Morgens in der Schule saßen wir und wussten: Heute war der Martinstag. Wir mochten den Martinstag, und wir mochten die Geschichte vom heiligen Martin. Er war ein guter Mensch. Er hatte einen Mantel, und der Bettler im Schnee hatte keinen Mantel. Also teilte er den seinen und gab eine Hälfte dem armen Mann. Mir gefällt die Geschichte auch heute noch. Ich dachte damals nicht, dass sie irgendeinen Gegenwartsbezug haben könnte, denn es gab doch keine Bettler mehr. Ich jedenfalls hatte noch nie welche gesehen.

Wir saßen also in der Schule und konnten es nicht erwarten. In den letzten Wochen hatten wir Martinslaternen gebastelt, zumindest die vielfarbigen Lampignons. Da wurden Papplampenschirmchen mit Farben bemalt oder beklebt. Wir bereiteten uns auf das Fest vor.

Vor unserer Schule gab es eine kleine Sandfläche, auf der hin und wieder geritten wurde, wir nannten sie die Reitgrube. Am Martinstag konnten wir nicht dorthin gehen, um dort in der Pause zu spielen. Wir wussten, warum. Dort wurde ein riesiges Feuer vorbereitet. So ein Feuer wie am Martinstag in unserer Schule habe ich vorher, und auch nachher, nie wieder gesehen. Wir waren alle ganz aufgeregt. Wenn die Schule endlich aus war, gingen wir in unsere Wohngruppen. Dort mussten wir lange warten, wir erhielten von unseren Erziehern unsere Martinslaternen und probierten sie aus, ob sie auch leuchteten. Allerdings taten wir das meistens noch im Hellen, und das war nicht besonders effektiv. Auf das Feuer freuten wir uns besonders, und auf die Süßigkeiten, die wir bekommen würden. Jede Gruppe hatte einen Vorrat von nahezu identischen Süßigkeiten parat, und nach dem Fest würde auch jede Gruppe den gleichen Vorrat fast identischer Süßigkeiten parat haben, aber das begriffen wir nicht. Wir freuten uns nur darüber, dass wir etwas Süßes bekommen würden.

Endlich, als das Abendessen gegen viertel nach sechs vorbei war, gingen wir in den Flur unserer Wohngruppe. Sie bestand aus einem langen Flur, an dem rechts und links Zimmer abgingen. Vier Zimmer für die Schüler, ein Büro, ein Waschraum, zwei Schülerklos, ein Erzieher-WC, ein Erzieherschlafzimmer, ein Besucherzimmer, ein Aufenthalts- und Speiseraum, der von uns Tagesraum genannt wurde. Und es gab die Eingangstür. Kleine, hässliche Bungalos mit ungeheurer Eintönigkeit. Über unsere Innenausstattung habe ich in meinem Artikel Erinnerungen an meine Schulzeit schon einmal ansatzweise geschrieben. Wir warteten also.

Vom Platz mit dem Feuer her näherte sich nun die Schulband und spielte immer wieder dieselben drei Lieder. St. Martin, und dann noch ein anderes Martinslied, ach ja, ich geh mit meiner Laterne, und noch ein drittes Lied, das mir jetzt nicht einfällt. Und wenn sie an einer Wohngruppe vorbeizogen, dann schlossen sich alle geschlossen und in Reih und Glied an. Die Gruppen blieben zusammen. Wir marschierten durch das ganze Schulgelände, und natürlich leuchteten dabei die Laternen in den vielen Farben, mit denen sie bemalt worden waren. Für die Blinden ein ganz besonders schöner Anblick. Ich hatte das Glück, noch ein wenig zu sehen und die Farben zu erkennen. Es war schon toll. Je länger es allerdings dauerte, desto mehr spürte man auch die Kälte des Novemberabends. Der Zug näherte sich wieder dem Platz mit dem Martinsfeuer, und das war dann wirklich gewaltig! Aus meiner heutigen subjektiven Sicht möchte ich sagen, dass es mindestens zwei Meter hoch war, aber wie gesagt, das ist meine Erinnerung. Ich empfand das Feuer immer als die schönste Sache bei dem Fest.

Natürlich kannten wir die Martinsgeschichte, aber trotzdem war es Tradition, und in unserer Schule schwor man auf Traditionen, dass sie vorgelesen wurde. Nachdem die Band noch einmal zum Mitsingen alle Martinslieder intoniert hatte, trat ein Erzieher, immer derselbe, ans Megaphon und las die Martinsgeschichte vor. Es war ein wahrer Schläger und Brutalo, der das tat und da von Liebe, Mitgefühl und Menschlichkeit sülzte. Es war langweilig, aber wir durften nicht ausscheren. Zwar verstanden wir angesichts der seltsamen Technik nichts von dem, was er vorlas, aber wir hörten zu, waren still, um uns keine Rüge unserer Erzieher einzufangen. Und wir warteten auf den nächsten Höhepunkt: Die Weckmänner!

Über den nächsten Punkt bin ich mir nicht mehr sicher, aber vielleicht habe ich ihn auch verdrängt. Mir ist, als hätten wir alle, jedes Jahr, ein Martinsversprechen abgegeben, nämlich im nächsten Jahr ebenfalls gut und mitmenschlich zu sein. Mir ist, als hätten wir die Weckmänner nur nach diesem Versprechen vor der versammelten Schule bekommen. Ich muss aber sagen, dass ich zu klein war, denn später, das weiß ich, gab es diesen Brauch nicht mehr, ich meine das letzte Jahr meiner Martinsteilnahme, da war ich schon fast 13.

Jedenfalls wurden, nach endlosem Warten, Weckmänner verteilt. Das sind diese Stutengebäckmänner mit Pfeife, die wir zumindest sehr gern mochten. Damit zogen wir dann ab in unsere Gruppen, wo wir uns dann, bevor wir endlich die Weckmänner essen durften, zu mehreren Kleingruppen zusammenschlossen und hinauszogen, um um Süßigkeiten zu singen. Da machten dann meistens nur noch die Kleinen mit, die großen blieben zu hause, obwohl das nicht gern gesehen wurde. Zumindest einer von den Großen sollte mitgehen als – tja – Anführer? Wir klingelten bei den einzelnen Wohngruppen, was völlig unnötig war, denn die Türen standen immer offen, und sangen unsere Martinslieder und sagten das kurze Martinsgedicht auf. Immer tat man so, als sei es besonders gut gewesen, und wir erhielten ein Päckchen mit Süßigkeiten. Die Erzieher hatten uns vorher gesagt, welche Gruppen wir besuchen sollten, die in der Nachbarschaft, obwohl keine Gruppe von der Anderen mehr als 50 Meter entfernt lag.

Mit unseren Süßigkeiten kehrten wir dann in die Gruppe zurück, wo wir uns im Tagesraum niederließen und die Weckmänner aßen. Die Süßigkeiten wurden eingesammelt und in den nächsten Tagen portionsweise an uns ausgegeben. Wir freuten uns, denn es war was los gewesen in unserer Schule. Und wenn wir auch genau den Ablauf kannten, so war sogar das für uns irgendwie toll. Jede kleine Änderung an der Prozedur spürten einige von uns mit penibler Genauigkeit auf und wiesen die Erzieher darauf hin, als hätten sie einen Fehler gemacht. Das war sogar irgendwie süß.

Wenn ich heute an St. martin in meiner Schulzeit zurückdenke, dann gibt es noch eine weitere Erinnerung, die ich nicht verschweigen will: Unsere Schule liegt im nördlichen Düren. In der Nähe gibt es eine Zuckerrübenfabrik, und jedes Jahr im Oktober und November roch es dort wundervoll nach Zuckerrüben. Ich habe sie mal probiert, geschmeckt haben sie mir nicht, aber den Geruch werde ich nie vergessen. Er war herrlich!

Copyright 2006, Jens Bertrams.


Technorati : Blindenschule, Düren, Kinder, Kindheit, Martinstag, Religion, Schule, St. Martin

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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4 Antworten zu St. Martin, St. Martin! – St. Martin ritt durch Schnee und Wind

  1. Lieber Jens,
    das dritte Lied war wohl „De hellije Zinte Meates“, wenn Du Deine Erlebnisse im Rheinland gemacht hast. Dort gehört dieses mundartliche Lied zum Repertoire.
    Beim „Schnörzen“ wurde es als Auftakt gesungen, um dann nahtlos in „Hier wohnt ein reicher Mann“ überzugehen.
    Die Bedeutung der Geschichte vom „Heiligen Sankt Martin“ sollte vor allem die katholische Kirche mal wieder reaktivieren. Das Teilen des Mantels ist doch ein wunderbares Gegenmodell gegen den heute leider nur allzu verbreiteten K(r)ampf eines jeden gegen jeden.
    Schön finde ich übrigens die Verhohnepiepelung des Martins-Umzugs durch den Kabarettisten Herbert Knebel. Da warnen die Kinder mit ihren Laternen den „Heiligen Sankt Martin“, als er dem Bettler ein Stück von seinem Mantel abschneiden will: „Gib dem Asi nix!“
    Das ist mir sehr bezeichnend für die heutige Haltung auch schon bei den Kleinen.
    Liebe Grüße
    fjh

  2. Das Nest sagt:

    Schade, Jens, daß du fast an alles, was Du aus Schule und Kindheit, wenn es nicht mit Deiner Familie zu tun hat, auch immer schlechte und blöde Erinnerungen hast. Das deprimiert mich manchmal richtig. Wir haben zu St. Martin in der Schule überhaupt nichts gemacht, und, vielleicht, weil es mit meiner Familie schwierig war, habe ich immer jede Art von Ritual genossen. An Laternen basteln kann ich mich nur aus dem Kindergarten erinnern. Naja, klar kann ich verstehen, daß das für dich blöd war, und auch, weil der Erzieher so ein ARsch war – sorry für das Wort -, aber grade deprimierte es mich mal. Und heute gibt’s für die Kinder nahezu gar nichts mehr davon

  3. @Das Nest: Ich sehe das durchaus differenzierter, habe ich ja auch geschrieben. Wir haben uns immer auf den Zug, das Feuer, die Weckmänner und die Süßigkeiten gefreut. Wir hätten uns auch immer auf das Lesen gefreut, wenn man den Typen bloß richtig verstanden hätte, aber unsere Technik war für Freilichtauftritte einfach noch nicht so gut, wie sie vermutlich heute ist. Den Brutalo hatte ich nicht als Erzieher, drum hatte ich nicht unmittelbar unter ihm zu leiden. Und die Zuckerrübengerüche sind mir auch in guter Erinnerung geblieben. Ich schaue heute nur etwas mehr hinter die Kulissen als damals. Ich setze Dinge in den richtigen Zusammenhang. Bis auf das Basteln, das ich damals schon nicht gerne machte, habe ich immer positive Erinnerungen an St. Martin gehabt. Und ich finde es schade, dass die Kinder das heute nicht mehr haben und machen. Das hat sich, wie gesagt, jetzt so ein bisschen nach Halloween verlagert, und es hat eine andere Bedeutung bekommen.

    @FJH: Das dritte Lied war nicht dein Vorschlag, ich kenne es zwar inzwischen, abe in der Schule, wo sowieso nur hochdeutsch erlaubt war, haben wir das nicht gesungen. Ich komm aber auch nicht drauf.

    Übrigens haben wir St. Martin am abend des 10. November gefeiert, vielleicht, damit die Schulband nicht auf den Gedanken kam, den Martinszug mit einem Karnevalszug zu verwechseln!:-)

  4. toberbossel sagt:

    Hallo, zusammen,

    nun möchte ich mich auch einmal kurz dazu äußern, da ich wie du, Jens, ja dieselbe Schule besucht und die alljährlichen Traditionen habe über mich ergehen lassen (müssen).

    @Jens, zur Atmosphäre und Durchführung hast du ja schon genug geschrieben, so dass ich dazu nichts mehr schreiben muss, bis auf, dass meiner Erinnerung nach das dritte gespielte Lied „Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne“ gewesen sein muss, zumal mir jetzt auch kein anderes Martinslied mehr einfällt.

    Da ich mit von dir erwähntem Zeitgenossen direkter zu tun hatte und noch dazu in einer Gruppe wohnte, in der überwiegend mehrfachbehinderte untergebracht waren, wurde ich zur Martinszeit häufig hervorgehoben, weil ich entweder die Strophen der Martinslieder besser konnte als die anderen, besser singen konnte und wohl auch eine andere Beziehung zum Martinssingen hatte, was in Wuppertal „Mätensingen“ genannt wird und da von den Nachbarskindern immer noch eine Tradition ist, wenngleich sie auch nicht exakt am Martinstag selbst stattfindet. Ich muss sogar sagen, dass mir die Martinsumzüge in der Wohnsiedlung, in der ich aufgewachsen bin, wesentlich mehr gefallen haben als die in Düren, wohl eben weil mir irgendwann dieser alljährliche Ritualkäse – hat nix mit Holland zu tun – irgendwann doch auf die Nerven ging, zumal ich nicht nur dem besagten Zeitgenossen zur Verwahrung und „Erziehung“ überlassen war, sondern auch noch in einer Schulklasse unterrichtet wurde, deren Lehrer unsere Musikalität immer wieder als eigenes Prestige hervorhob und unseren Willen zum Singen und Musizieren für die eigene Profilierung ausnutzte. Daher empfand und empfinde ich traditionelle Feste wie Weihnachten und Ostern zu Hause immer noch als dem Tag selbst angemessener als in der Schule.

    Später im Gymnasium wurden derartige Traditionen ja nicht mehr gepflegt, womöglich auch deshalb, weil um die Schule ja kein Zaun drum herum war und die SchülerInnen ja doch mehr mit der Außenwelt verbunden waren und nicht unter einer sozialen Käseglocke gelebt haben, durch die nichts böses nach draußen oder nach drinnen dringen durfte.

    Dieses mehr aufgenötigte Gefühl der Verbundenheit hat sicherlich mehr zur Abgrenzung der einzelnen beigetragen als das menschliche Miteinander zu fördern, da es ja eben „von oben herab“ stattfand.

    Als Kind gefielen mir die Feiern bis zu dem Zeitpunkt, wo ich merkte, dass meine eigenen Ansichten dem Erziehungspersonal nicht gefielen und ich daher außerhalb der Feiern doch mehr kalten Gegenwind als warme Harmonie mit dieser Schule verbinde. Dem widerspricht jedoch, dass mir die Karnevalstage dort immer noch als die wenigen Lichtblicke in Erinnerung blieben, obwohl die ja auch in das Gefüge der wiederkehrenden und trotz „Alaaf“ und „Rumtata“ reglementierten Sachen gehörten.

    Dass wir alle ein Versprechen abgeben mussten, im nächsten Jahr mitmenschlich und gütig zu sein kann ich mich nicht erinnern. Die Weckmänner haben wir auch so gekriegt, schön abgezählt und frisch vom Bäcker. Ich denke zumindest noch gern daran zurück, dass wir die am nächsten Morgen zerlegt und mit Butter bestrichen zum Frühstück essen durften.

    @Franz-Josef, gerade die sich auf christliche Nächstenliebe berufenden Leute sind es doch, die zur Schicht der Habenden gehören und daher ruhig mal einen der vielen Mäntel teilen sollten, die sie in den begehbaren Kleiderschränken haben. Insofern gewinne ich, wie du unterschwellig anklingen ließest, der pseudochristlichen Heuchelei auch nichts mehr ab.

    @das Nest: Es liegt leider in der Struktur dieses Lehr- und Verwahrinstitutes, in dem Jens und ich waren, dass viele Dinge da in der Rückschau deprimieren, weil da nämlich erst herauskommt, wie eingeschränkt wir doch gehalten wurden. Ich schreibe deshalb gehalten, weil wir ja doch eher zu behütbaren, sauberen, satten und braven Exemplaren einer für die Restwelt nicht unbedingt sichtbaren Gesellschaft erzogen werden sollten. Wer das Glück hatte, nach Marburg aufs Gymnasium wechseln zu dürfen, weil die Eltern ihn oder sie für geeignet ansahen und das den Lehrern abringen konnten, die entsprechenden Gutachten zu schreiben, lernte, dass ein Mensch auch mit einer Behinderung eigenständige Lebensqualitäten erreichen durfte. Wären Jens und ich nicht über Düren hinausgekommen und dort nach der zehnten Klasse in eine fragwürdige Freiheit der anerzogenen Unselbständigkeit entlassen worden, würden wir heute weder bloggen, diskutieren oder uns mit den realpolitischen Gegebenheiten auseinandersetzen. Andere würden das in unserem Namen tun, aber nicht unbedingt in unserem Interesse.

    Zum Schluss noch ein altgedienter Witz: Treffen sich zwei Gänse. Sagt die eine zur anderen: „Spiel mir das Lied vom Tod!“ Darauf die andere: „St. Martin, St. Martin, St. Martin war ein Guter Mann …“

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