Civilcourage oder Ignoranz – Über ein erschreckend bewegendes Hörspiel

Früher habe ich oft und gerne Hörspiele im Radio gehört. Heute komme ich nur noch selten dazu, aber vorgestern habe ich es mal wieder gemacht. Zu hören gab es „Ruhe 1“ von Paul Plamper, und die realistische Art der Darstellung eines Moments der Entscheidung hat mich wirklich bewegt.

Das Museum Ludwig in Köln hat zusammen mit dem WDR ein begehbares Hörspiel im Raum geschaffen. Ein leerer Raum mit Tischen wie in einem Restaurant, man hört die Kulisse, kann zwischen den Tischen hindurchwandern und den an jedem Tisch aus Lautsprechern kommenden Gesprächen der Menschen zuhören, die da am Tisch sitzen. Es sind banale und weniger banale Alltagsgespräche. Doch dann passiert etwas draußen vor der Tür: Ein Mann schlägt auf eine Frau ein, die sich offenbar nicht wehrt oder wehren kann. Nach kurzer Zeit verschwindet er mit ihr aus dem Blickfeld, und dem Hörer wird nicht klar, ob er sie nur schlägt oder auch vergewaltigt, ob sie schwer verletzt wird, oder ob der Täter ablässt. Aber in dem Moment, als der Mann die Frau vor dem Fenster des Restaurants zu boden wirft und auf sie einschlägt, ist für alle Gäste der Moment der Entscheidung. Ein Moment totaler Ruhe entsteht, und jede und jeder Einzelne muss sich fragen, wie er oder sie nun reagiert. Diesen Moment absoluter Stille hat der bekannte und vielseitige Hörspielautor Paul Plamper zum zentralen Moment seiner Radioversion dieser außergewöhnlichen Klanginstallation gemacht. Die Frage ist: Zivilcourage oder Ignoranz. Steht irgendwer auf und hilft? Paul Plamper lässt die Radiohörer an den Gesprächen an jedem Tisch teilhaben, nachdem er kurz die Vorgänge draußen vor dem Restaurant dargestellt hat, und nachdem er gewissermaßen aus einer Perspektive mitten im Raum die Schrecksekunde von allen Seiten her einwirken lässt. Man wird neugierig, wie sich die einzelnen Protagonisten verhalten werden. Dabei wird aus der ganzen Installation und der Art, wie man die Gespräche im Raum hört, die Eindringlichkeit klar. Es ist so eindringlich, weil es so natürlich ist. Die Schauspielerinnen und Schauspieler verstehen es besser als in vielen anderen Hörspielproduktionen, die ich gehört habe, eine Alltagsatmosphäre zu schaffen. Man kann sich mit an jeden einzelnen Tisch versetzen.

Da sind die zwei alten Damen, vermutlich Schwestern, denn sie trinken auf die Pflege ihrer verwandschaftlichen Beziehungen. Als die Schrecksekunde vorbei ist, steht eine auf und will eingreifen, die andere hält sie zurück: Man könne nicht immer eingreifen, so etwas passiere jeden Tag, wo solle das denn enden, wenn man z. B. jedem, der Geld wolle und bedürftig aussehe, Geld gebe? Außerdem sei es ja schon wieder vorbei. Einen Moment lang sträubt sich die andere Frau, man müsse immer da handeln, wo man sei. Die Andere wehrt ab: Wenn man sich überall einmischen wolle, habe man für nichts anderes mehr Zeit. Die zweite Frau gibt nach und erzählt von einem Mann mit einem Hund, der eine sogenannte Obdachlosenzeitung im Maul gehabt habe. Wegen dem süßen Hund habe sie ihm etwas Geld gegeben…

Da sind die vier Jugendlichen, die sich über die Situation lustig machen, die das Geschehen mit ihrem Handy aufnehmen und auf Youtube veröffentlichen wollen, wo die jungen Frauen sagen, die Frau sei selbst Schuld, wenn sie sich nicht wehrt. „Die sehen so asozial aus“, sagt eine der jungen Frauen: „voll Hartz IV.“…

Da sind die drei Frauen, die sich über die bevorstehende Judoprüfung der Einen unterhalten, und sie vermuten, dass die beiden vor der Tür ein Paar sind, wo die Frau in Abhängigkeit geraten ist. Keine steht auf, aber sie unterhalten sich darüber, dass eine der drei ebenfalls einmal in einer solchen Beziehung gelebt hat, und dass erst der Leidensdruck da sein müsse…

Da ist das Paar, das sich über Schönheitsoperationen lustig macht, und als die Frau per Handy angerufen wird, telefoniert der Mann auch mal eben schnell. Nach der Schrecksekunde telefonieren beide weiter, lassen sich von ihren Gesprächspartnern ablenken, und als das Gespräch zuende ist, sind sie einhellig der Meinung, dass es sich um Junkies handelt, dass die unter sich bleiben mit ihren Problemen, dass man sie nicht von dem Stoff runterholen kann, und dass man, mischt man sich tatsächlich ein, riskiert, eine Aids-Nadel in den Arm gerammt zu bekommen…

Da ist das junge Pärchen, das sich über seine sexuellen Probleme unterhält. Als er überlegt, einzugreifen, sagt sie, er wolle von ihren Problemen ablenken, kurze Zeit später wirft sie ihm vor, er habe ja gar nicht eingegriffen, er lasse sich immer nur treiben…

Da ist das Ehepaar mit ihrem noch kleinen Sohn, der unbedingt ein großes Eis haben will. Im ersten Moment will der Mann eingreifen, der kleine Junge will mit, aber da erklären ihm die Eltern, dass er sich in solchen Fällen auf keinen Fall selbst einmischen, sondern die Pollizei, oder auf dem Schulhof die Lehrer einschalten soll. Auch Papa könne da nicht eingreifen, aufgrund einer einfachen Rechnung: „Wieviele sind da draußen?“ fragt die Mutter. „zwei“, sagt der Junge wahrheitsgemäß. „Und wieviel ist Papa?“ Ein wenig irritiert scheint er zu sein, antwortet aber korrekt: „einer.“ Und außerdem hat ja jemand die Polizei gerufen, denn zwei Leute haben ja während des Vorfalls telefoniert…

Da sind die vier Geschäftsleute, die eine Zusammenarbeit ihrer Unternehmen vereinbaren wollen. Einer kommt sofort nach dem Vorfall erst an, hat aber offenbar draußen nichts bemerkt. Die Anderen sind ebenfalls sitzen geblieben. Es handele sich um Milieustreitigkeiten, „Leute dieser Art“ müssten lernen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Staat und Polizei könnten da nicht immer helfen, am Ende reguliere sich alles von selbst. Eine Erziehungsfrage sei es, und wer diese Erziehung nicht genossen habe, der könne sich nicht entsprechend verhalten…

Da sind die zwei Freunde, die sich über die Darmspiegelung des Einen unterhalten. Der Eine hilft nicht, weil er Angst hat, der Andere nicht, weil er noch nie geholfen hat und eigentlich nur etwas für Geld tut. Der Eine versucht daraufhin dem Anderen klar zu machen, dass er gar nicht so radikal sei, wie er es selbst gesagt habe…

Da ist der Professor und der Theaterintendant, die sich kurz fragen, warum sie nicht eingegriffen haben. Sie betrachten das reflektiert, selbstkritisch, philosophisch, interessiert. Und schließlich erzählen sie sich über die Zigeuner in Rumänien, die ihre Kinder in der Öffentlichkeit schlagen und Geld dafür kassieren, dass sie es nicht mehr tun. Die Kinder stehen dann schon mit drei Jahren im Berufsleben. Interessant…

Da sind der ältere und der junge Mann, die für andere wie Vater und sohn wirken. Tatsächlich scheint es, als habe der Ältere den Jungen mit 12 missbraucht, und der Junge sucht nach Erklärungen für das, was geschehen ist. Jetzt scheint er dem Älteren zu alt geworden, der Lack ist ab. „Das ist das Letzte“, sagt der Ältere, als er die Szene vor der Tür sieht, den jungen Man scheint die Situation mehr mitzunehmen, aber sie bleiben sitzen…

Und da ist das ältere Ehepaar. Aufgewühlt rufen sie nach dem Zuständigen und lassen sich beruhigen: „Es wird sich schon drum gekümmert.“ Sie erinnern sich an eine Nachbarin, die immer mit blauem Auge herumlief, und obwohl ihr Mann anfangs immer freundlich gewesen sei, wusste man, dass er sie schlägt…

27 erwachsene Personen plus Personal treffen, Jeder und jede in seine und ihre Geschichte verstrickt, die Entscheidung, nicht einzugreifen und eine Frau ihrem Schicksal zu überlassen. Schon zwei Personen hätten dieser Frau helfen können. Das, was von einer freien und offenen Gesellschaft erwartet wird, nämlich beherztes Zupacken und Zivilcourage, findet nicht statt. Dabei erfährt man die ganze Palette der tatsächlichen und vorgeschobenen Begründungen, der Vorurteile und Ängste. Jede dieser Personen in dem Restaurant ist vorstellbar. Einige wirken durchaus sympathisch, in jedem Falle aber normal, keiner ist ein Held oder eine Heldin.

Und was ist, wenn mir so etwas geschehen würde? Was wäre, wenn ich selbst Zeuge eines solchen Vorfalles werden würde? Ich bin immer und überall entschuldigt, ich bin schließlich blind, und ein persönliches Eingreifen ist mir nach allgemeiner Gesellschaftsmeinung nicht zuzumuten. Und natürlich ist es bequem, sich auf dieser Absolution auszuruhen. Was würde ich also tun? Diese Frage habe ich mir gestellt. Hätte ich ein Handy dabei, würde ich die Polizei anrufen, das glaube ich fest. Aber ich bin nun einmal ohne Handy unterwegs, ich mag diese ewig piependen Quälgeister nun einmal nicht. Sicher würde ich verlangen, dass man vom Restaurant aus die Polizei ruft. Würde ich mich mit dem Satz: „Man kümmert sich schon darum“ abspeisen lassen? Ich könnte es mir immerhin vorstellen. Aber ich weiß aus familiärer Erfahrung, wie schrecklich es ist, keine Hilfe zu bekommen.

Mein Bruder wurde einmal auf einer Kirmes vom Exfreund seiner Frau und drei weiteren Typen brutal zusammengeschlagen. 30 Menschen standen um sie herum und unternahmen nichts. Meine Mutter fiel einmal auf der Straße hin. Zig Personen gingen vorbei und hielten sie für eine Pennerin, und Pennerinnen lässt man liegen. Erst als sie konkret um Hilfe bat, war der zehnte oder zwölfte bereit, ihr auf die Beine zu helfen. Jeder kann einmal in Not kommen und Hilfe benötigen. Früher, so haben meine Eltern noch erzählt, war es undenkbar, dass Menschen auf der Straße einfach übersehen wurden, oder dass man sich nicht in eine Prügelei einmischte. Heute findet man die notwendige Zivilcourage eigentlich gar nicht mehr. Das ist das erschreckende an diesem Hörspiel, es macht die Realität ungemein deutlich, und man kann nicht einfach über sie hinweggehen. Jeder hat seine Gründe, nicht einzugreifen. Ignoranz, Dünkel, Angst, Beschäftigung mit seinen eigenen Problemen… Aber die Frage steht unüberhörbar und unausgesprochen im Raum: Hättest du, hätte ich anders gehandelt? Es reicht nicht, sich über die Verderbtheit der Gesellschaft und die zunehmende Kriminalisierung der unterschicht Gedanken zu machen. Es reicht nicht, nur abzuwägen, wie gefährlich ein persönliches Eingreifen für einen selbst wäre, sondern man muss seine eigene Grundeinstellung ergründen und sich selbst im Spiegel erblicken. Wenn man Angst hat, was ich durchaus verstehe, ich hätte sie auch, kann man wenigstens dafür sorgen, dass die Polizei erscheint. Ich hoffe, ich werde das nie aus Bequemlichkeit oder falsch verstandenem Nichteinmischungswahn übersehen.

© 2008, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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Eine Antwort zu Civilcourage oder Ignoranz – Über ein erschreckend bewegendes Hörspiel

  1. Christiane sagt:

    Es gibt keine Entschuldigung dafür, keine Hilfe zu holen. Wenn man Angst hat, selber Opfer zu werden, kann man wenigstens die Polizei rufen. Ich mache das immer und habe damit bislang auch gute Erfahrung gemacht.
    Eine Freundin von mir hat hier in London gesehen wie ein Mann auf der Straße seine Frau zusammen geschlagen hat. Sie hat erst von weitem gerufen, er soll sofort aufhören und als er das nicht tat, ist sie mit einem Regenschirm auf ihn los. Das fand ich ziemlich mutig, aber es hat geholfen. Der Mann hörte auf.

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