Der 9. November 1989 – eine Rekonstruktion

Den folgenden Beitrag habe ich für 17-20 geschrieben, aber er ist dem historischen Tag und den Menschen gewidmet, die ihn zum Feiertag machten.

Der 9. November 1989 war ein Donnerstag. Es war ein trüber Tag, ein Tag, an dem nichts besonderes los war, jedenfalls schien es so.

Um 9 Uhr traf der Abteilungsleiter Pass- und Meldewesen im DDR-Innenministerium, Gerhard Lauter, mit drei Kollegen zusammen, um eine neue Reiseregelung zu erarbeiten. Viele DDR-Bürger flohen damals über die CSSR in die Bundesrepublik, und die CSSR-Führung empfand dies als einen unhaltbaren Zustand. Also hatte Egon Krenz, der damalige SED-Generalsekretär, den Auftrag erteilt, eine Regelung auszuarbeiten, die es ermöglichte, Ständige Ausreisen über Grenzübergangsstellen der DDR durchzuführen. Gerhard Lauter und seine Kollegen waren sich aber nach kurzer Diskussion einig, dass eine solche Regelung Unsinn sei. Man konnte nicht die ständige Ausreise, also die Übersiedlung in die BRD, erleichtern, und die anderen Bürger weiterhin einsperren. Das würde die Fluchtwelle nur noch vergrößern. Die Menschen waren ungeduldig geworden und wollten endlich uneingeschränkt reisen können. Also nahm Gerhard Lauter eigenmächtig einen folgenschweren Satz in den zu fassenden Beschluss auf: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.“ Ansonsten stand in dem Papier, dass ständige Ausreisen über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD und Berlin West erfolgen könnten. Gegen 12 Uhr hatten die beiden Polizei- und die 2 Stasioffiziere ihre Arbeit abgeschlossen und schickten das ausgearbeitete Papier ins Zentralkomitee zurück.

Dieses Zentralkomitee tagte seit 10 Uhr unter Vorsitz von Egon Krenz. Auf der Tagesordnung, so verbreiteten es alle Nachrichtenagenturen und Radiosender stündlich, standen Kaderfragen. Mit einem Wort: Langweilig. Um 12:30 Uhr langte das erarbeitete Papier beim zuständigen Sekretär Wolfgang Herger an, der es an Egon Krenz während einer Sitzungspause weitergab.

Währenddessen flog Bundeskanzler Helmut Kohl zu einem als historisch bezeichneten Besuch nach Warschau. 5 Tage wollte er in Polen verbringen, das Verhältnis zum östlichen Nachbarn auf eine noch bessere Grundlage stellen, ausgerechnet an einem geschichtsträchtigen Tag, dem 9. November.

Ab 14 Uhr durchlief die neue Reiseverordnung im sogenannten Umlaufverfahren den DDR-Ministerrat. Jeder Minister bekam das Papier zur Unterschrift zugesandt, da der Ministerrat nicht persönlich zusammentreten konnte. Die Überschrift der Verordnung war sinnverwirrend, es ging um einen Beschluss zur Regelung der ständigen Ausreise über Grenzübergangsstellen der DDR. So erklärte es auch Egon Krenz, als er gegen 16 Uhr das Papier beiläufig im Zentralkomitee verlas. „Wie wir es machen, machen wir es verkehrt, aber ich denke, es ist die einzige Lösung“, erläuterte er. Krenz behauptete später, ihm sei natürlich klar gewesen, dass damit die Grenze geöffnet worden sei, doch die Dokumente sprechen eine andere Sprache. Der Generalsekretär sprach nur und ausschließlich von der Ständigen Ausreise. Wäre ihm aufgefallen, was die 4 Offiziere, die das Schriftstück ausgearbeitet hatten, eigenmächtig hinzugefügt hatten, hätte er das im Zentralkomitee gewiss erwähnt. Um 14 Uhr war Krenz mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau zusammengetroffen. In seinen Erinnerungen behauptet Krenz, er habe darüber nachgedacht, Rau die Grenzöffnung mitzuteilen, habe es aber dann unterlassen, um die Nachricht selbst bekanntgeben zu können. Auch diese Darstellung darf man bezweifeln. Jedenfalls nickte das Zentralkomitee vollkommen beiläufig die neue Reiseregelung ab. „Das kann dann der Regierungssprecher gleich bekanntgeben“, sagte Krenz. Damit übersah er, das auf dem Zettel selbst eine Sperrfrist bis zum 10. November 4 Uhr angegeben war. Gerhard Lauter und seine Kollegen wollten Zeit haben, um die Grenztruppen vernünftig vorzubereiten. Außerdem war vorgesehen, dass Privatreisen ins Ausland nach wie vor beantragt werden mussten, also nicht sofort angetreten werden konnten. Das Ziel war es, zu Weihnachten die ersten Reisen zu gestatten. So zumindest dachten es Gerhard Lauter und seine 3 Kollegen.

Gegen 17 Uhr kehrte Günter Schabowski von einigen Gesprächen mit Journalisten in die ZK-Tagung zurück. Krenz übergab ihm das Papier: „Das kannst du mit in die Pressekonferenz nehmen, das wird ein Knüller für uns“, soll Krenz Schabowski gesagt haben. Ungefähr zu dieser Zeit rief der Direktor der DDR-Nachrichtenagentur ADN, Günter Pötschke, den italienischen Journalisten Ricardo Ehrmann an. Er solle auf der Pressekonferenz Schabowskis, die ab 18 Uhr im internationalen Pressezentrum stattfinden würde, nach dem Reisegesetz fragen. Dies hat Ehrmann erst in diesem Jahr der detailgenauen Schilderung des 9. November 1989 hinzugefügt. Vermutlich wollte die DDR-Führung auf die Frage eines ausländischen Journalisten hin die neue Regelung zur ständigen Ausreise bekanntgeben.

Die Pressekonferenz verlief langweilig. Günter Schabowski erläuterte ab 18 Uhr der internationalen Presse langatmig die Beschlüsse eines Zentralkomitees, das längst den Blick für die Realitäten verloren hatte. Um 18:53 Uhr fragte Ehrmann nach dem Reisegesetz, als einige Journalisten schon aufbrechen wollten. Schabowski erläuterte umständlich, es sei eine neue Regelung zur ständigen Ausreise getroffen worden, die nun auch über die DDR-Grenze möglich sei. Unglauben bei den Journalisten. Schabowski las sichtlich verwirrt die ganze Verordnung vor, die als Vorwegnahme eines neuen, noch zu beschließenden Reisegesetzes schon einmal eingeführt werden solle. Peter Brinkmann von der Bild-Zeitung fragte nach, ab wann das in kraft trete. „nach meiner Kenntnis ist das sofort, … unverzüglich“, antwortete Schabowski. Kein Wort über Sperrfristen. Damit ging die Pressekonferenz zuende, viele Journalisten verließen Fluchtartig den Saal. Günter schabowski gab einer amerikanischen Nachrichtenagentur noch ein Interview und stellte klar, damit sei das Problem der ständigen Ausreise gelöst, nichts sonst.

So klangen auch die ersten Meldungen von Reuters, dem ADN und der DPA: Ausreise ab sofort möglich. Nur die Nachrichtenagentur Associated Press titelte um 19:05 Uhr: „DDR öffnet Grenzen“.

Um 19 Uhr rief der Justizminister der DDR bei Gerhard Lauter an und machte einen Änderungsvorschlag für die Formulierung der Reiseregelung. Obwohl der Beschluss inzwischen öffentlich im Fernsehen verkündet war, fehlten immer noch Unterschriften einiger Minister, der Beschluss war noch gar nicht offiziell gefasst.

In der sowjetischen Botschaft in der DDR wunderten sich in diesen Minuten Botschafter Katschemassow und sein Stellvertreter Maximytschew. Die Sowjetunion war nicht über die Tatsache informiert worden, dass Ausreisen, vor allem Privatreisen, auch über die Grenzübergangsstellen zu West-Berlin durchgeführt werden sollten. Das betraf den vier-Mächte-Status von Berlin und die Verantwortlichkeiten der vier Siegermächte des 2. Weltkrieges über Deutschland als Ganzes. Der Botschafter unternahm jedoch vorerst nichts, weil er nicht sicher war, ob die Grenzöffnung vielleicht über seinen Kopf hinweg mit Michail Gorbatschow abgesprochen worden war.

Um 19:30 Uhr tauchten die ersten Ostberliner am Grenzübergang Bornholmer Straße auf, um zu sehen, ob die Mauer offen war. Das war es nämlich, was sie verstanden hatten, obwohl von einem Antrag und kurzfristig erteilten Visa die Rede war. Das Bürokratendeutsch von Schabowski hatte ohnehin niemand verstanden, sie wussten nur, dass Privatreisen ab sofort über die Grenze zur BRD und nach Westberlin möglich waren. Die Grenztruppen reagierten mit Lautsprecherwagen, die erläuterten, dass derzeit kein Übergang gestattet sei. Oberstleutnant Harald Jäger, der Diensthabende an der Bornholmer Straße, rief seine Vorgesetzten an, erhielt aber keine Weisung.

Um 19:35 Uhr sagte Berlins regierender Bürgermeister Walter Momper in der Abendschau des SFB: „Die Grenze wird uns nicht mehr trennen.“ Um 20 Uhr blendete die Tagesschau zwar den Schriftzug „DDR öffnet Grenze“ ein, Sprecher Joe Brauner erklärte aber lediglich, ausreisewillige DDR-Bürger müssten nicht mehr den Umweg über die Tschechoslowakei nehmen.

Bundeskanzler Helmut Kohl wurde um kurz nach 20 Uhr während eines Abendessens mit Polens Ministerpräsident Tadeusz Mazoviecki vom Lagezentrum im Kanzleramt informiert. Wenige Stunden zuvor hatte Lech Walesa ihm gesagt, er vermute, die Grenze zur DDR werde innerhalb der nächsten Tage oder Wochen fallen.

Auch im deutschen Bundestag widmete man sich ausführlich der neuen Situation. Unter dem Eindruck der Meldungen stimmten um 21:08 Uhr drei Unionsabgeordnete die Nationalhymne an. Der Weg zur deutschen Einheit begann in diesen Minuten.

Ab 21:15 Uhr gestattete Oberstleutnant Harald Jäger in der Bornholmer Straße die ständige Ausreise. Inzwischen hatten sich weit über 15000 Menschen vor der Grenzübergangsstelle versammelt. Sie riefen: „Macht das Tor auf!“ Die lautesten von ihnen durften zwar ausreisen, ihre Pässe wurden aber ungültig gestempelt, sie wurden faktisch ausgebürgert. Bis zu diesem Zeitpunkt ging es nur um wenige dutzend DDR-Bürger.

Immer mehr Menschen machten sich auf den Weg zur Grenze, darunter auch Angela Merkel und Regine Hildebrand, die spätere SPD-Arbeitsministerin von Brandenburg.

Um 21:50 Uhr versuchte Egon Krenz, mit Michael Gorbatschow zu telefonieren. Der sei allerdings bereits im Bett, teilte man ihm aus Moskau mit. Krenz gab sich damit zufrieden. Auch der sowjetische Botschafter in der DDR, Kathschemasow, hatte sich bereits zurückgezogen. Sein Stellvertreter Maximytschew beobachtete die Ereignisse und beschloss, nicht einzugreifen. Er wollte verhindern, dass er Befehle aus Moskau von Leuten entgegennehmen musste, die vielleicht eine militärische Lösung bevorzugten. Damit ließ die Sowjetunion der Entwicklung ihren Lauf.

An diesem Abend fand ein DFB-Pokalspiel statt und wurde im Fernsehen übertragen. Daher begannen die Tagesthemen erst um 22:42 Uhr. Hans-Joachim Friedrichs erklärte: „Die Tore in der Mauer stehen weit offen“, obwohl das noch gar nicht stimmte. Es ermutigte allerdings noch mehr DDR-Bürger, zu den Grenzübergangsstellen zu gehen. Von seinen Vorgesetzten erhielt Oberstleutnant Harald Jäger an der Bornholmer Straße keine Weisungen, eine Eskalation der Situation wollte er keinesfalls riskieren. Um 23:14 Uhr teilte er seinen Vorgesetzten mit: „Wir können nicht mehr halten, ich stelle Kontrollen ein. Wir fluten jetzt.“ Seinem Beispiel folgten andere Kommandanten binnen weniger Minuten. Jetzt erst wurde die Grenze geöffnet, fiel symbolisch die Mauer. Was viele an diesem Abend nicht begriffen: Mit der Öffnung der Mauer zerbrach auch das gesamte sozialistische Lager. Das gesamte System konnte nur funktionieren, solange die Bürger eingeschlossen blieben, solange sich der Ostblock vom Rest der Welt abschottete. Mit der Öffnung der Grenze in der DDR war klar: Der Ostblock würde sich auflösen, und selbst die Sowjetunion würde zerbrechen. Nur wenige trauten sich allerdings in diesen Stunden, so etwas auch laut auszusprechen. Statt solcher Gedanken dominierte die Freude, wurden die DDR-Bürger mit Sekt und kostenlosem Essen aus Gaststätten begrüßt. Berlin und Deutschland feierte die Nacht der Nächte.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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3 Antworten zu Der 9. November 1989 – eine Rekonstruktion

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  2. fast_beinahe sagt:

    Chronologie der Grenzöffnung
    ——————————

    Bln-Zehlendorf/ Potsdam 20:00 Uhr [1]
    Bln-Rudow / Schönefeld 20:30 Uhr [2]
    Transit Helmstedt/Marienborn 21:15 Uhr [3][4][5]
    Bln, Bornholmer Str. 21:45 Uhr [6][7]
    Lübeck/Schlutup 22:30 Uhr [1]

    22.41 Uhr Tagesthemen
    Hans-Joachim Friedrichs
    „Dieser 9. November ist ein historischer Tag.

    Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind, die Tore der Mauer stehen weit offen.“
    ____________________________

    [1] https://publikationen.sachsen.de/bdb/download.do;jsessionid=71004D0C5221C31FF848872AD48AF4F4.bdb_lb?id=1957912

    [2] http://www.presseportal.de/pm/7840/1498881/zdf

    „Am 9. November 1989, dem Abend des Mauerfalls, überschritt Annemarie Reffert zusammen mit ihrer Tochter Juliane um 21:15 Uhr an

    dem Grenzübergang Helmstedt-Marienborn die innerdeutsche Grenze.“

    [3] ARD-Sendung vom 09.11.2009 „Als die Mauer fiel“
    [4] http://de.wikipedia.org/wiki/Grenz%C3%BCbergang_Helmstedt-Marienborn
    [5]http://www.mdr.de/mdr-figaro/hoerspiel/6842630.html

    [6] http://de.wikipedia.org/wiki/Grenz%C3%BCbergang_Bornholmer_Stra%C3%

    Fe#Der_9._November_1989_und_Erinnerung_an_die_.C3.96ffnung_der_innerdeutschen_Grenze

    [7] http://www.chronik-der-mauer.de/index.php/chronik/Chronical/Detail/day/9/month/November/year/1989

    [8] http://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Mauer
    „Bis Mitternacht waren alle Grenzübergänge im Berliner Stadtgebiet offen.“

  3. Vielen Dank. Ich stütze mich bei den Zeiten, die ich genannt habe, größtenteils auf wissenschaftliche Quellen mit Zeitzeugen, die dann in verschiedenen Medien wiedergegeben wurden. Allerdings bin ich nicht in der Lage, die Genauigkeit zu beweisen. Meiner Ansicht nach könnte es aber sein, dass die Zeitangaben sich wegen der sogenannten „Ventillösung“ nicht widersprechen, man hat schon relativ früh einzelne Personen ausreisen lassen und ihre Pässe ungültig gestempelt. Dass ein Grenzübergang vollständig vor 21:30 Uhr geöffnet worden sein soll, halte ich aber für unwahrscheinlich, weil bis dahin die Vorgesetzten der Grenztruppen nach ihren schriftlich niedergelegten Befehlen nicht die geringsten Anstalten machten, die Situation überhaupt in ihrer Tragweite zur Kenntnis zu nehmen.

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