Ist das Ende des Sozialstaates gekommen?

Diesen Kommentar habe ich für die Sendung „17-20, der Soundtrack zum Tag“ auf ohrfunk.de am 19.01.2010 geschrieben und veröffentlicht.

Ist das Ende des Sozialstaates gekommen?

Diese Frage muss man sich stellen, wenn man die neuesten Vorschläge und Diskussionen hört, und wenn man Zeitungsartikel dazu liest. Selbst ein Blatt wie die süddeutsche Zeitung schreibt offen vom schwindenden Wohlstand in Deutschland. Wenn dem so ist, dass wir darauf zusteuern, immer ärmer zu werden, dann muss man sich die Frage stellen, wer in Deutschland immer ärmer wird, wem man Geld abziehen kann, und wessen Arbeit für das Gemeinwohl wie viel wert ist.

Der philosophische Publizist Peter Sloterdijk plädiert für einen neuen Umgang mit den Leistungsträgern unserer Gesellschaft. Er findet, dass Steuern Zwangsabgaben sind und höchstens eines Obrigkeitsstaates würdig. daher sollte man sie zu einer freiwilligen Leistung machen und an die gebende Seite des Menschen appellieren. Damit wären alle unteren Einkommensschichten von der Gnade der reichen Geber abhängig, denn der Staat hätte zur Erfüllung seiner Aufgaben keinen Anspruch mehr auff das Geld seiner Bürger. Sloterdijk widerspricht damit dem Menschenbild von Thomas Hobbes, wonach Menschen grundsätzlich miteinander in Konkurrenz stehen, weswegen es des Staates bedarf, der durch die Vernunft Aller entsteht und die Beziehungen der Menschen untereinander regelt. Wer wie Peter Sloterdijk für weniger Staat in der Gesellschaft plädiert, der liefert die Schwachen mehr und mehr der Willkür der Starken aus. Wie soll unter solchen Umständen noch ein Sozialstaat erhalten werden?

Ebenfalls für weniger Staat bei der sozialen Sicherung, aber für erheblich mehr Staat in der sozialen Ordnungspolitik plädieren der hessische Ministerpräsident Roland Koch und der Wirtschaftsweise Prof. Wolfgang Franz. Koch möchte eine Arbeitspflicht für Arbeitslose einführen, er spricht offen von mehr Druck, der auf die Bezieher des Arbeitslosengeldes II ausgeübt werden muss. Professor Franz wünscht eine Kürzung der ALG-II-Bezüge um rund 100 Euro, da es sich um eine Fürsorgeleistung des Staates handle. Wer eine Arbeit aufnehme, der solle durch ein erheblich höheres Schonvermögen belohnt werden, so Franz.

Bei all diesen Vorschlägen und Theorien fehlt der für eine soziale Marktwirtschaft unabdingbare Grundsatz der sozialen Solidarität mit den Schwachen. Hier ist sich entweder nur noch jeder selbst der Nächste, oder es wird an die Gnade und das Herz der Besitzenden appelliert. Peter Sloterdijk glaubt, dass in Deutschland viele Menschen die Besitzenden beneiden und bestrafen wollen, anstatt sie, wie es angesichts ihres Erfolges nur recht und billig wäre, zu bewundern. Ich hingegen sage, dass ein Gemeinwesen nur funktionieren kann, wenn es sich um die Schwachen kümmert und ihnen seine Solidarität gibt. Nur dann kann es auf die Dauer auf Gewalt und Repressalien gegen Unzufriedene und Arme verzichten. Nur dann ist es human und wirklich fortschrittlich.

Wenn es wirklich stimmt, dass Deutschland ärmer wird, dass der Wohlstand zurück geht, auf wen trifft das dann zu? Auf die Konzerninhaber, Wirtschaftslenker, Manager, Politiker, Fußballspieler und Popstars? Auf die sogenannten Leistungsträger unserer Gesellschaft also? Wohl kaum. Es trifft auf die arbeitende Bevölkerung der Mittelschicht zu, Angestellte und Arbeiter, Verkäuferinnen, Krankenschwestern. Und es gilt für das Heer derer, die zwar genau so viel arbeiten, dafür aber nur noch das Arbeitslosengeld II plus einen lächerlich geringen Betrag als Zusatzverdienst erhalten. Und genau diese Menschen sollen nach den Vorstellungen der Herren Franz und Koch unter Druck gesetzt werden, für noch weniger Lohn noch mehr für unsere Gesellschaft zu erwirtschaften. Oder sie sollen gemäß der Ideen des Herrn Sloterdijk zu Allmosenempfängern degradiert werden. Kurz gesagt: Wer schon wenig hat, der soll noch mehr abgeben. Und das nennt man dann eine neue Gerechtigkeit. Die Wirtschaft, so sagt Professor Franz, könne sich keine Jobs für Geringverdiener mehr leisten, denn das Einkommen der unteren Lohngruppen sei überproportional angehoben worden. Was er nicht sagt ist, dass dies eben geschah, um etwas mehr Lohngerechtigkeit herzustellen, und dass es auch nur teilweise wahr ist.

Armut und Überschuldung machen sich breit in unserem ach so reichen Land, so sehr, dass wir uns ein soziales Denken nicht mehr leisten können. Zumindest sagen das die, die bei Fortführung des Sozialstaates etwas mehr von dem überproportionalen Gewinn abgeben müssten, den sie für ihre Leistung erhalten haben. Und weil die Starken nun einmal die Schwachen deckeln, brauchen wir den Staat, der die Schwachen vor der Willkür der Starken schützt.

In Großbritannien werden neue Ansätze zur Bemessung des Wertes einer Arbeitstätigkeit entwickelt. Danach hat die Arbeit am meisten Wert, die für die Gesellschaft am nützlichsten ist. So müssten Alten- und Krankenpfleger nach dieser Theorie am Besten, Steuerberater, die der Gemeinschaft Geld entziehen, am schlechtesten bezahlt werden. Natürlich wird das niemand umsetzen, aber es ist ein interessantes Gedankenexperiment. Und es zeigt, dass die größte Leistung nicht automatisch der erbringt, der das meiste Geld verdient.

Ist in Deutschland das Ende des Sozialstaates gekommen? – Ich fürchte ja, und ich bedaure es zutiefst. Nicht, weil ich mich dann nicht mehr auf die faule Haut legen kann, das tue ich schon jetzt nicht. Ich bedaure es, weil die kapitalistisch ausgerichtete aber soziale Marktwirtschaft ein Gesellschaftsentwurf war, der alle berücksichtigte, der mit dem, was erwirtschaftet wurde zeigte, dass alle davon leben konnten, und dass jeder an seinem Platz zum gemeinsamen Wohlstand beitragen konnte. Dieses solidarische System wird von Männern wie Roland Koch, Prof. Wolfgang Franz und Peter Sloterdijk bewusst infrage gestellt. Sie haben ein Menschenbild, in dem der Reiche mehr wert ist als der Arme, und sie haben auch die Macht. Hoffen wir, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinen Entscheidungen zum Arbeitslosengeld II und eines Lebens in Würde diesen mächtigen Bestrebungen einen Riegel vorschiebt.

© 2010, Jens Bertrams.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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2 Antworten zu Ist das Ende des Sozialstaates gekommen?

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  2. Klaus Wallmann sen. sagt:

    „Ende des Sozialstaates, Fortführung des Sozialstaates …“?
    Sollte man nicht erst die Frage klären, ob die BRD je einer war, ob ein kapitalistischer Staat überhaupt ein „Sozialstaat“ sein kann, oder ob das nur eine ideologische Phrase ist, die spätestens mit dem Ende des vermeintlich kommunistischen Lagers ihre Bedeutung für die Ideologen und Apologeten des Kapitalismus zunehmend verloren hat?
    Ganz schlimm finde ich: „Hoffen wir, dass das Bundesverfassungsgericht …“ – Der Autor geht offensichtlich davon aus, daß Recht und Gesetz keine materielle Basis haben, sondern ebenso wie Polizei und Richter irgendwo da oben in blauer Luft schweben, ganz unabhängig vom Staat und den „Mächtigen“.

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