Demokratie – Von der Kunst, Freiheit und Herrschaft zu versöhnen

Nichts von dem, was ich in diesem Aufsatz schreiben werde, ist völlig neu. Ich bin kein Demokratietheoretiker. Lediglich bin ich ein Mensch mit einer eigenen Meinung. Diese Meinung stieß im Fall meines Kommentars über die Minderheitsregierung auf den energischen Widerspruch eines überzeugten Marxisten. Es entwickelte sich eine interessante und bereichernde Diskussion über das Wesen des Staates, der Demokratie und der Herrschaft überhaupt. Wir sprachen über die Abgrenzung von Diktatur und Demokratie, und wir erörterten die Methoden, die zur Sicherung einer Herrschaft erlaubt sind oder nicht. Die Frage, ob die menschliche Geschichte als zwangsläufige Entwicklung nach wissenschaftlichen Gesetzen erfolgt, die naturgesetzlichen Charakter haben, oder ob man sie, die Geschichte, als Entwicklung zu betrachten hat, die immer wieder einen unterschiedlichen Verlauf nehmen kann, wird vermutlich ein Knackpunkt in unserer Diskussion werden. Jedenfalls veranlasst mich diese Debatte dazu, einmal festzuhalten, was für mich Staat und Demokratie eigentlich bedeuten, und welche Erwartungen ich an ein System habe, dass wörtlich übersetzt „Herrschaft des Volkes“ bedeutet.Eine klassische Staatstheorie geht davon aus, dass der Staat eine Organisation menschlichen Zusammenlebens ist, die als unbedingte Merkmale ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt aufweisen muss. Während man über die Frage des Staatsgebietes und seiner Entstehung ganze Bücher schreiben könnte, will ich mich hier begrenzt mit dem Staatsvolk und eigentlich mit der Staatsgewalt befassen. Demokratie bedeutet, wie schon erwähnt, „Herrschaft des Volkes“. Wer aber ist das Volk? Damit stellt sich bereits eine Grundfrage jener Regierungsform, die Winston Churchill einmal als eine schlechte Regierungsform bezeichnete. Doch er fügte hinzu, es sei die Beste, die wir hätten. Die Gegner der Demokratie sind sich erstaunlicherweise oft bei ihrer Ablehnung in den Argumenten einig. Die Nationalsozialisten bezeichneten die westlichen Demokratien als „Plutokratie“, als eine Herrschaft des Geldadels. die Kommunisten sprechen von der sogenannten „Bürgerlichen Demokratie“ als der „Herrschaft der Ausbeuter“, der kapitalistischen Klasse, also auch des „Monopolkapitalismus“, was man auch mit „Geldadel“ übersetzen könnte. Das „Volk“ wäre also in diesem Sinne eine Minderheit, die die Mehrheit der arbeitenden Massen unterdrückt. Schon im alten Athen, wo die Demokratie quasi erfunden wurde, gehörten zum „Volk“ auch nur wenige freie Bürger, keine Sklaven und keine Frauen. Dort herrschte das „Staatsvolk“, eine Minderheit der ansässigen Personen, über die eigentliche Mehrheit. Heute werden unter dem „Staatsvolk“ in der Regel alle Personen verstanden, die der in einem Staatsgebiet lebenden Hauptnation oder in einigen Fällen den Hauptnationen angehören. Staatsbürger besitzen, wenn sie alt genug sind und nicht durch Gerichtsurteil gehindert sind, das aktive und meistens auch das passive Wahlrecht, wirken also theoretisch an der politischen Willensbildung mit.

Für mich gehört zu einer Demokratie unbedingt, dass so viele Personen wie möglich an ihren Entscheidungsprozessen beteiligt sind. Das Staatsvolk sollte aus allen in einem bestimmten Staatsgebiet lebenden Personen bestehen, die ihren dauerhaften Wohnsitz und Lebensmittelpunkt innerhalb dieses Staatsgebietes haben. Das schließt ausländische Mitbürger mit ein, auch wenn sie einem anderen Kulturkreis angehören. Dass von jedem Bürger erwartet werden muss, sich als Gegenleistung für das Mitbestimmungsrecht an gewisse Regeln zu halten, ist selbstverständlich und wird später erläutert. Jedenfalls ist es heute nur noch bedingt möglich, das Mitbestimmungsrecht in einer Demokratie auf den Begriff der Nation zu beziehen. Die Staatsbürgerschaft sollte unabhängig von der Nationalität sein.

Um einen funktionierenden Staat zu schaffen, bedarf es neben dem Staatsgebiet und dem Staatsvolk noch der Staatsgewalt. Demokratie ist eine Antwort auf die Frage, wie eine solche Staatsgewalt aussehen könnte. Sie ist aber nur dann sinnvoll zu beantworten, wenn das Wesen und der Zweck eines Staates geklärt ist.

Überlässt man die Menschen sich selbst, errichtet man keine Art von Ordnung, so muss Jeder um sein Leben kämpfen. Also werden sich Menschen zu Gruppen zusammenschließen, um sich zu schützen. Aus diesen Gruppen, Familien und Stämmen, entwickelten sich im Laufe der Geschichte Staaten. Sie beenden den – so von Thomas Hobbes beschriebenen – ursprünglichen Kampf jedes Menschen gegen jeden Menschen. Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen errichtet also Ordnungen, schafft sich selbst Regeln und legt in einem Vertrag Rechte und Pflichten für jedes Individuum fest. Dieser Vertrag deligiert die Aufgabe der Führung eines Staates an eine Person oder personengruppe. So entsteht – vereinfacht ausgedrückt – die Herrschaft, die Staatsgewalt. Der Kommunismus geht davon aus, dass der Staat als solches bereits ein Unterdrückungsapparat der herrschenden Klasse ist, das Instrument, mit dem die herrschende Klasse ihre Macht ausübt und die ohnmächtigen Massen unterdrückt. Wenn aber der Auftrag zur Führung eines Gemeinwesens von den Mitgliedern dieses Gemeinwesens kommt, so ist die Staatsgewalt das Mittel zur Ausführung des Gesellschaftsvertrages, der von allen freien Individuen geschlossen wurde. Die Gruppe der Herrschenden wäre also in einer dienenden Funktion tätig. Sie besäße nicht die Macht, den Gesellschaftsvertrag zu ihren Gunsten abzuändern, denn sonst handelte es sich um eine Tyrannei. In einer Demokratie wird auch die Herrschaft selbst bestimmten Regeln und Kontrollen unterworfen und nur auf Zeit gewährt. Bei Hobbes ist lediglich davon die Rede, dass der vom gesellschaftsvertrag bestimmte Herrscher auch zum Wohle der Allgemeinheit handeln muss. Doch Demokratie trifft Vorsorge, dass Herrschaft nur auf Zeit ausgeübt werden kann. Natürlich ist das alles Theorie, aber es ist nötig, sich den eigentlichen Sinn des Staates klar zu machen. Für mich ist der Staat und auch die Staatsgewalt nicht an sich ein Unterdrückungsinstrument. Es kommt darauf an, wie man mit der Staatsgewalt umgeht, wie viel davon überhaupt an Einzelpersonen oder Gruppen deligiert wird. Komplizierter wird die Angelegenheit auch dadurch, dass staatsfremde Elemente wie die Wirtschaft und ihre herausragenden Vertreter auf die Staatsgewalt Einfluss nehmen, weil sie selbst eine Gewalt ausüben, da sie, solange Privatbesitz an Produktionsmitteln erlaubt ist, einen erheblichen Teil der Lebensgrundlage des Staatsvolkes bereit stellen. Dies wäre nun ein Argument, den Privatbesitz an Produktionsmitteln abzuschaffen. Hier jedoch begegnen wir zum ersten mal dem Begriff der Freiheit. Welches Maß an Freiheit ist in einer Demokratie notwendig, welches Maß ist schädlich?

Staatsgewalt, und erst recht demokratische Staatsgewalt, muss sich legitimieren. Ihre Legitimation kann sie nur von den Individuen erhalten, die den Staat bilden. Und hier endet die Theorie, denn diese Legitimation muss ganz praktischer Natur sein. Die ganz ganz überwiegende Mehrheit der Bürger, der Regierten also, muss mit der Regierung einverstanden sein, zumindest mit der Form der Regierung. Was die personelle Zusammensetzung der Regierung angeht, ist zwar auch eine Mehrheit von nöten, sie kann aber bei konkurrierenden Programmen, Ideen und Personengruppen niemals so groß sein wie die Grundsatzmehrheit, die sich über die Form der Staatsgewalt einig sein muss. Da die Staatsgewalt letztlich von allen Individuen innerhalb des Staatsgebietes ausgeht, hat sie auch die Verpflichtung, alle Individuen gleichermaßen zu schützen und so weit wie möglich an der Staatsgewalt zu beteiligen. Dies begründet den Schutz auch der Minderheit und schließt eine reine Herrschaft der Mehrheit aus.

Die reine Form der direkten Demokratie, der Basisdemokratie oder der Radikaldemokratie geht davon aus, dass jede staatliche Maßnahme im Einzelfall der Bestätigung durch die Mehrheit der Bürger bedarf. Gleichzeitig ist es aber auch selbstverständlich, dass diese Bürgerentscheidungen in jedem Falle bindend sind. Eine solche Form der Demokratie bedeutete die Willkür der Mehrheit über die Minderheit. Die Herrschaft auf Zeit und zum Wohle Aller delegitimiert sich in einem solchen Falle selbst, sobald eine Mehrheit dafür gewonnen werden kann, der Minderheit Rechte abzuerkennen oder ähnlich eingreifende Maßnahmen zu erlassen. Daher muss die Herrschaftsbefugnis vernünftigerweise beschränkt werden, sie darf ihre eigenen Grundlagen nicht zerstören. Grundrechte und -Freiheiten der Individuen, die ja der Souverän sind und bleiben, dürfen auch von den anderen Individuen nicht eingeschränkt werden können, nur weil sie zufällig die Mehrheit stellen. Die Grundlage des demokratischen Gemeinwesens also muss der demokratischen Entscheidung entzogen bleiben, so paradox das klingt. Demokratie kann keine absolute Freiheit bringen.

Trotzdem ist es das Streben von Demokratie, so viel Partizipation und Freiheit, so viel Herrschaft wie möglich auf so viele Schultern wie möglich zu verteilen, zumindest finde ich, dass dieses Ziel angestrebt werden sollte. Die Demokratietheorie kennt mehrere Formen der Volksherrschaft, die Diskussion konzentriert sich auf einen scheinbaren Gegensatz: Repräsentative oder direkte Demokratie. Außerdem gibt es Mischformen, zum Beispiel das Rätesystem oder das Schweizer Modell der sogenannten Konkordanzdemokratie. Deutschland gehört zu den Ländern mit ausgeprägter repräsentativer Demokratie mit sehr starker Stellung der Regierung und schwacher Volksvertretung, auch wenn viele Wissenschaftler die Stellung von Bundestag und Bundesrat stärker einschätzen als ich. In einer so stark repräsentativen Demokratie ist der Einflussnahme durch Lobbyisten kaum Herr zu werden. Die Politik wird mehr und mehr zum Erfüllungsgehilfen von Einzelinteressen, das persönliche Wohl der Deligierten steht im Vordergrund. In einer radikal direkten Demokratie ist die Gefahr der Mehrheitsfindung durch populistische Demagogen zumindest nicht ganz auszuschließen, die dann leichter an den Grundlagen des demokratischen Gemeinwesens sägen können, indem durch Mehrheitsentscheidung eine Minderheit unterdrückt wird. Darum ist ein Austarieren der beiden Radikalkräfte nötig, aber beide Elemente müssen vorhanden sein. In einer faschistischen „Volksgemeinschaft“ kann ich ebenso wenig einen Segen erkennen, wie in einer sozialistischen „Diktatur des Proletariats“, zumal die Verfechter dieser Strömungen offen zugeben, dass sie die Herrschaft notfalls mit Gewalt, mit eigener – aus ihrer Sicht notwendiger – Unterdrückung erringen wollen, bis sich das menschliche Bewusstsein zu ihren Gunsten verändert hat. Die Idee des Gesellschaftsvertrages aller Individuen eines Staates, die frei sind, sich zu entscheiden, wird damit ad absurdum geführt. Dem vermag ich nicht zu folgen. Es ist ja gerade das Wesen der freien Entscheidung für die eigene Regierung, dass vorher keine erzieherische Maßnahme zur Veränderung des Bewusstseins zugunsten einer Klasse, Schicht oder Interessengruppe erfolgt.

In beiden Systemen von Demokratie muss zusätzlich die Neigung unterdrückt werden, die Herrschaft immer als Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit zu sehen. In der Repräsentativen Demokratie gilt das Wort der Mehrheit der Parlamentarier, oft sogar nur das Wort der Mehrheit der Ausschussmitglieder oder eben der Regierungsfraktionen, in der direkten Demokratie das Wort der Mehrheit der zur Abstimmung gehenden Individuen. Das kann nicht alles sein. Die Fraktionsdisziplin, wie sie in den Parlamenten repräsentativ demokratisch organisierter Staaten immer zum Einsatz kommt, würdigt das Parlament auf die Stufe der Abstimmungs- und Bestätigungsmaschine der Regierung herab. Insofern ist hier ein Parlament nichts weiter als das Machtinstrument der herrschenden Klasse. Mehr Demokratie müsste darin bestehen, innerhalb der durch ein Programm zusammengeschlossenen Parteien die Kandidatenauswahl zu demokratisieren und weniger von dem Willen der Parteispitze abhängig zu machen. Außerdem müssten vom Parlament beschlossene Gesetze durch relativ einfach zu erreichende Quoren zur Volksabstimmung gelangen können. Der Lobbyismus müsste massiv eingeschränkt bzw. verboten werden, nur Sachberatung in öffentlichen Anhörungen dürfte erfolgen, die wäre vermutlich auch notwendig. So könnten politische Entscheidungsträger die notwendige Expertise erhalten, ohne notwendigerweise unter den Einfluss von Interessenverbänden zu geraten. Man müsste stärker auf Elemente der partizipatorischen Demokratie setzen, das heißt die Bürger und ihre Initiativen stärker an Anhörungen und Expertenrunden beteiligen, damit ein Gegengewicht zu den Interessenverbänden geschaffen würde. Außerdem müssten die Bürger auch stärker an der personellen Auswahl von Funktionsträgern, also Deligierten, beteiligt werden. So sollten die Mitglieder der Exekutive ebenso der Wahl unterliegen wie die Mitglieder der Judikative, die natürlich die Befähigung zum Richteramt besitzen müssten, um wählbar zu sein.

Ein demokratisch verfasster Staat muss einige Balance-Akte vollbringen. Zum Beispiel zwischen Freiheit und Gemeinwohl. Für mich ist ein demokratischer Staat ohne individuelle Freiheit nicht denkbar. Doch die Vernunft verlangt die Beschränkung absoluter Freiheit, die ja schon durch den Staat selbst gegeben ist. Sie verlangt aber auch die Beschränkung der absoluten Freiheit der Mehrheit der Individuen innerhalb eines Staates. Das wird ja schon dadurch notwendig, dass die Grundrechte und -Freiheiten für jedes Individuum gelten und vom Staat gleichermaßen geschützt werden sollen. So genießen alle Bürgerinnen und Bürger z. B. das Recht auf Vereinigungsfreiheit, aber Vereine dürfen sich nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder die Völkerverständigung richten. Jeder genießt die persönliche Freiheit, das schließt aber eben nicht ein, einen Mitmenschen umbringen zu dürfen, denn der Andere genießt das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. In jedem Einzelfall ist also eine Abwägung der Rechte geboten, bei der regelmäßig ein Rechteinhaber den Kürzeren zieht. Das ist nicht ideal, aber wie schon gesagt gibt es keine idealen Gesellschaften.

Freiheitsrechte der Individuen sind Abwehrrechte gegen den Staat, entfalten aber, so bestimmte es das Bundesverfassungsgericht, mittelbar auch Wirkung auf andere Grundrechtsträger. Ich darf meine Meinung frei äußern, aber ich darf keine Verleumdung aussprechen, die das menschenwürdige Leben eines Anderen zerstört. In diesen Spannungsfeldern bewegt sich ein demokratischer Staat. Radikale Lösungen helfen da nicht.

Die Frage, welche Form der Demokratie man wählt, ist schon deshalb schwer zu beantworten, weil man von unterschiedlichen Definitionen ausgeht. Während die Radikalen, wie oben erwähnt, bei sogenannten bürgerlichen Demokratien immer von einer Herrschaft des Geldadels ausgehen, unterscheiden die Bürgerlichen selbst, zu denen man auch Sozialdemokraten, Reformsozialisten und Grüne zählen muss, zwischen mehreren Formen bürgerlicher oder besser parlamentarischer Demokratie. Es gibt die Mehrheitsdemokratie, in der die Mehrheit entscheidet, ohne auf die Minderheit besonders Rücksicht zu nehmen. Ich habe bereits dargelegt, dass ich diese Form der Demokratie ablehne, vor allem weil es genügend Gruppen gibt, die aus guten Gründen bestimmte besondere Interessen haben, auf die man Rücksicht nehmen sollte. Ansonsten würden auch in der Demokratie einzig die Starken regieren. Bei der Konsensdemokratie wird bei Entscheidungen nach möglichst viel Übereinstimmung gesucht. Reformprozesse sind langsam, aber es herrscht eine große Kontinuität, und neue Regierungen stoßen die Entscheidungen der Vorgänger nicht einfach um. In diesem Sinne wird Deutschland als Konsensdemokratie bezeichnet. Der Nachteil ist natürlich, dass auch notwendige Reformen und Veränderungen, die durchaus dem Gemeinwohl dienen, auf der Strecke bleiben. Außerdem finde ich den Begriff für Deutschland fehl am Platz, weil aus dem angestrebten Konsens große Teile der Bevölkerung, die eine schwache soziale Stellung haben, ausgeschlossen sind. Bleibt also die Konkordanzdemokratie, die zum Beispiel Exekutiv- also Regierungsfunktionen nach Wahlproporz besetzt und ein Nebeneinander von plebiszitären und repräsentativen Entscheidungsprozessen kennt. Auch hier gilt natürlich wieder der Grundsatz, dass es keine perfekte Gesellschaft gibt. Aber die Kräfte, die sich gegenseitig kontrollieren und korrigierend eingreifen dürfen, bieten größere Gewähr für ein gerechtes Handeln.

Was aber ist gerechtes Handeln? Welches Handeln dient dem Allgemeinwohl? Es kann nicht das absolut freie Handeln jedes Einzelnen sein. Dazu müsste tatsächlich ein allgemeines und jederzeit aktives Bewusstsein jedes einzelnen Individuums existieren, dass alle Handlungen immer und vollkommen ethischen Gesichtspunkten unterwirft, ohne von außen dazu gedrängt zu werden. Ich glaube nicht, dass dies möglich ist. Daher bedarf es eben jenes Gesellschaftsvertrages, der von allen betroffenen Individuen eingegangen wird, oder zumindest, denn auch hier gibt es keine Absolutheit, von der ganz überwiegenden Mehrheit. Und aus diesem Vertrag entsteht die Staatsgewalt mit der fest umrissenen Aufgabe, die Rechte aller Individuen zu schützen und ihnen ein Leben in Freiheit und sozialer Sicherheit zu ermöglichen. Es kommen natürlich weitere Aufgaben hinzu, aber aus diesen Grundsätzen besteht nach meiner Ansicht die eigentliche Aufgabe der Staatsgewalt. Gleiche Rechte, Pflichten und Chancen für alle, Freiheit so weit wie möglich, Pflicht zur Beachtung des Allgemeinwohls und der Solidarität mit den Benachteiligten. Dies sind einige der Grundsätze, die für mich eine Richtschnur für einen gut verfassten demokratischen Staat darstellen. Größtmögliche Partizipation aller Bürger bei gleichzeitig dem größten Nutzen für dieselbe Gruppe.

Was ist aber nun mit der Wirtschaft in der Demokratie? Schließen sich demokratische Regierung und freie Wirtschaft aus, weil sie nicht am Gemeinwohl orientiert ist und ganz bestimmt keine Solidarität mit den Benachteiligten übt? Tendiert eine Klasse von Kapitalisten nicht natürlicherweise immer zur Ausbeutung und damit zur Unterdrückung? Leitet sie nicht aus ihren individuellen Freiheitsrechten die Profitmaximierung ab? Ich bin sicher, dass diese Tendenz statistisch betrachtet besteht. Damit mache ich individuellen Personen oder Personengruppen keinen Vorwurf, aber in der freien Wirtschaft kann ein Individuum viel mehr Geld anhäufen, als es zum Leben braucht. Daher kann es mit dem Geld Einfluss nehmen. Der Kommunismus will das Problem mit purer Gleichmacherei lösen, aber die Gleichmacherei, so sehr ich den Gedanken anziehend finde, verhindert persönliche Initiative. Und weil ich nun einmal der Ansicht bin, dass wir aus Individuen bestehen, die eine ganz persönliche Verantwortung tragen, muss auch die Möglichkeit für jeden Einzelnen gegeben sein, etwas mit seinen Talenten anzufangen. Wenn nun jemand etwas erfindet, um ein klassisches Beispiel zu nennen, dann soll er dafür auch belohnt werden. Bei Individuen, die pro Tag 8 Stunden in der Fabrik arbeiten, ist das vergleichsweise einfach. Bei Menschen mit Ideen ist das schwieriger. Aber auch sie müssen die Freiheit haben, ihre Ideen umsetzen und davon gut leben zu können. Es gilt also, die Auswüchse der freien Wirtschaft zu bekämpfen und das soziale Element zu stärken.

Wirtschaft kann nie ganz frei sein. Sie hat eine dienende Funktion, sie ist dafür da, die Lebensgrundlagen des Menschen zu schaffen und bereitzustellen. Man tendiert dazu, Manager als Leistungsträger der Gesellschaft zu sehen, aber was ist mit der Gesellschaft, wenn kein Brot mehr gebacken, kein Korn mehr gemalen, keine Straße mehr gefegt und kein Kranker mehr versorgt wird? Die Leistungsträger sind alle, Jeder an seinem Platz. In der Wertigkeit der Arbeit kann und darf es keinen Unterschied geben. Der von mir eben erwähnte Erfinder erbringt ebenso Leistung wie der Arbeiter in der Fabrik, der Postbote und der Fußballspieler. Dasselbe gilt für den Manager. Daher muss jeder nach seiner Leistung bezahlt werden. Ein Manager, der pro Tag nicht 8, sondern 13 Stunden arbeitet, der muss eben einen Lon für 13 Stunden erhalten. Ein Unternehmer soll durchaus belohnt werden für die Initiative, ein Unternehmen zu gründen. Privatbesitz, so meine Meinung, kann man nicht abschaffen, wenn man nicht will, dass viele Menschen demotiviert werden. Aber die Gerechtigkeit verlangt, dass die Gehälter von Vorständen, Managern und auch das persönlich verfügbare Kapital des Firmeninhabers begrenzt werden. Der Rest muss nach dem Grundsatz „Eigentum verpflichtet“ wieder investierrt werden. Nun bin ich weiß Gott kein Wirtschaftsfachmann, und man wird mir an allen möglichen Stellen meine Ansicht widerlegen können. Es geht mir auch vor allem um die Grundprinzipien von Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Mindestlöhne und Höchstgehälter müssten, so denke ich es mir, die Tarifautonomie einschränken…

Lange Rede kurzer Sinn: Eine völlig freie Wirtschaft ist in einem wirklich demokratischen Staat nach meiner Auffassung ebensowenig möglich, wie ein vollkommen freies Individuum. Während für das Individuum meiner Ansicht nach gilt: So viel Freiheit wie möglich, so viel Einschränkung wie nötig, gilt für die Wirtschaft: So viel Kontrolle wie möglich, so viel Freiheit wie nötig. Nötig wohl gemerkt, um das Ziel zu erreichen, dass die Wirtschaft dem Wohl der Individuen und ihrer Gesamtheit dient.

In diesem kleinen Aufsatz war immer wieder von der Staatsgewalt die Rede. Das Wort „Gewalt“ legt nahe, dass diese Staatsgewalt ihre Aufgaben mit Zwang und notfalls bewaffnet ausübt. Einen demokratischen Staat mit einem funktionierenden Gesellschaftsvertrag erkennt man aber daran, dass die Staatsgewalt keine politisch motivierte Gewalt ausübt, denn sie ist von den Regierten legitimiert, ihre bloße Existenz erinnert alle Individuen an die Einhaltung der einmal von allen gegebenen Spielregeln. Sicher ist im Notfall „Gewalt“ zur Kriminalitätsbekämpfung oder zur Sicherung eben jener Grundwerte nötig, die den demokratischen Staat ausmachen. Wenn aber häufiger Gewalt eingesetzt wird, dann verliert entweder der Staat aufgrund veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse seine Legitimation und immer mehr Bürger kündigen den Gesellschaftsvertrag, oder es ist die Staatsgewalt, die ihren Einfluss über die Grenzen des Erlaubten ausbreitet. Erst dann, wenn die Staatsgewalt in falschen Händen ist, wird der Staat zum Unterdrückungsinstrument. Dies ändert nichts daran, dass jede Freiheitseinschränkung persönlich als Unterdrückung empfunden werden kann. Die tatsächliche Unterdrückung aber muss in einem demokratischen Staat durch die Kontrollmechanismen verhindert werden, die eine derartige Verfassung bietet, nicht zuletzt durch die Gehorsamsverweigerung der Mehrheit der Bürger gegenüber den unrechtmäßig regierenden, bis hin zum Recht des Widerstandes gegen Jeden, der es unternimmt, die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzuschränken oder zu beseitigen.

Ich gebe zu, das waren keine Gedanken, wie sie durch monate- oder jahrelange Arbeit mit diesem Thema entstehen. Sie entstanden binnen weniger Tage aufgrund eines Briefwechsels. Natürlich sind auch ältere politische Überzeugungen meiner Person eingeflossen, aber ich habe hier keinen wissenschaftlich fundierten Aufsatz hingelegt, sondern meine Gedanken geäußert. Darum können sie auch nur sehr vage formulierrt sein, denn das Thema ist sehr weit gefasst und sehr kompliziert. Man kann es überhaupt nicht bewältigen, solange man nach einer perfekten Staats- und Gesellschaftsform sucht. Erst wenn man akzeptiert, dass menschliches Denken und Handeln immer Mängel aufweist, immer eine Kehrseite hat und oft erst nach langer Zeit klar wird, welche Auswirkungen solches Denken und Handeln hat, kann man sich dem Thema nähern. Dann werden theoretische Modelle zu Denkanstößen über mögliche Verbesserungen, ohne den absolutheitsanspruch wissenschaftlich begründeter Gesellschaftstheorien. So, und nur so, will ich diesen Text verstanden wissen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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