„Du … trägst die Angst in die Herzen der Ungläubigen“ – Gedanken zum WTC-Jahrestag

In den letzten Tagen rauschte das alljährliche stereotype Gedenken an die Terroranschläge

des 11. September 2001 über uns hinweg. Alle alle sollten wir uns an die Dinge erinnern, die

wir ohnehin nie vergessen werden, es sei denn durch einen Akt des Willens. Der Spruch, dass

die Welt nicht mehr sei wie vor jenem Tage, kreiste wie gewöhnlich in jeder Runde, die über

das Thema sprach. Und doch wird die wahre Bedeutung dieses Satzes viel zu wenig gewürdigt.Am Samstag Nachmittag, kurz nach den jährlichen Gedenkfeiern wegen der Anschläge am 11. September 2001, standen sich in New York, ganz in der Nähe des World Trade Centers, 2 etwa gleich große Demonstrationsgruppen gegenüber. Die eine Gruppe demonstrierte gegen, die andere für den Bau einer Moschee nur zwei Häuserblocks vom sogenannten „Ground Zero“ entfernt, dem Ort, an dem damals die gewaltigen Türme des alten WTC einstürzten und mehr als 2600 Menschen mit sich in den Tod rissen. Die eine Gruppe empfand den geplanten Gebetshausbau als eine Beleidigung der Opfer, als den Versuch der gegen die westliche Demokratie gerichteten Ideologie des Islam, am Ort ihrer größten Schandtat dauerhaft Flagge zu zeigen. Gerade weil der Westen tolerant sei, so der aus den Niederlanden angereiste Rechtspopulist Geert Wilders in einer Ansprache, dürfe er den intoleranten Kräften nicht kampflos nachgeben. Solange in Mekka keine christliche Kirche erlaubt sei, dürfe man auch am Ground Zero keine muslimische Moschee zulassen, sagte Wilders sinngemäß. Die andere Demonstrantengruppe berief sich auch auf die Toleranz. Gerade weil man tolerant sei, könne auch eine Moschee gebaut werden, vor allem auch, weil sie als Zeichen der Versöhnung dienen könne, gerade an diesem symbolträchtigen Ort. Die Auseinandersetzung der beiden toleranten Gruppen führte zu lautstarken Sprechchören und einem Polizeiaufgebot, dass vorsichtshalber die Vertreter unterschiedlicher Meinungen voneinander trennte: Wahrlich ein Ausdruck von Toleranz. Der erbitterte Meinungsstreit trägt groteske Züge und erlaubt einen Einblick in die tief sitzenden Folgen der Terroranschläge vom 11. September. Einen Einblick, der tief ins eigene Herz führt. Natürlich waren die Anschläge Verbrechen, natürlich sind entsetzlich viele Menschen gestorben, unschuldige Menschen, die grausam ermordet wurden. Aber der Zyniker, der es auf sich nimmt, die Anschläge in Relation zu setzen mit anderen Ereignissen des Weltgeschehens wird schnell feststellen, dass es andere Gebiete auf der Welt gibt, in denen am Tag auch mehr als 2000 Menschen sterben können, durchaus auch mit amerikanischer Unterstützung, ohne dass die Welt in gleicher Weise aufgerüttelt wird. Nicht die Zahl der Toten, nicht das zerstörte Material ist es also, das uns schaudern lässt. Aber was ist es dann?

Zunächst einmal natürlich die Medien. Sie haben die Terroranschläge zelebriert, das zweite Flugzeug hat man live im Fernsehen gesehen, ebenso den Einsturz der beiden Zwillingstürme. Aber auch den verzweifelten und aufopferungsvollen Kampf der Rettungskräfte um das Leben jedes einzelnen Menschen im Gebäude. Nirgendwo blieb man von den Bildern verschont, tagelang wurde man mit ihnen konfrontiert. Um sie abzuschütteln oder auch nur für eine Weile in den Hintergrund zu drängen war eine enorme Willensanstrengung nötig.

Dann natürlich die Folgen: In Afghanistan gab es Krieg mit all seinen Schrecken, ebenso im Irak, und beide Länder haben bis heute keinen Frieden gefunden, was durchaus voraussehbar war. Und in Europa und den USA wurden die Sicherheitsgesetze verschärft und die Bürgerrechte eingeschränkt.

Der Hauptgrund aber, warum der 11.09.2001 vermutlich sehr lange in unserer Erinnerung zurückbleiben wird, lässt sich gut in einem Satz zusammenfassen, der in der sogenannten „Terroristenfibel“ zu finden ist, jenem Dokument, das für die Selbstmordattentäter als Leitfaden diente: „Du kommst nicht zur Erde zurück und pflanzt die Angst in die Herzen der Ungläubigen.“ Und genau das, so zeigen die Demonstrationen für und gegen den Moscheebau am 9. Jahrestag der Anschläge, ist geschehen. Denn obwohl alle von Toleranz sprechen, ist es eben diese Toleranz, die verloren gegangen ist. Stattdessen bestimmen aufgepeitschte Emotionen das Bild.

Drei Tage nach den Anschlägen hat die WDR-Redakteurin Gabriele Gillen ein Sakrilleg begangen. In einem Essay für ihren Sender, der tatsächlich auch ausgestrahlt wurde, erklärte sie: „Trotz der pausenlosen Wiederholung dieser Floskel in den vergangenen Tagen – es stimmt nicht, dass sich die Welt durch den Zusammenbruch des World Trade Centers verändert hat. Verändert hat sich die Silhouette von New York. Ansonsten ist die Welt die gleiche geblieben. Überall Probleme, für die niemand eine Lösung hat oder auch nur zu haben vorgibt. Die selben Kriege, der selbe Hunger, die selbe Hoffnungslosigkeit…“ Aus ihrer Sicht war dies eine verbitterte, aber zutreffende Analyse, und man muss sich wundern, dass sie dieser Essay in den aufgewühlten Tagen nicht ihren Job gekostet hat. Aber es stimmt doch, dass sich die Welt verändert hat. In jedem Einzelnen von uns hat sie sich geändert, und das oft auf subtile Weise. Wir begegnen dem Islam entweder mit Vorsicht und Ablehnung, oder mit demonstrativer und uneingeschränkter Solidarität, je nach politischer Ideologie. Viele betrachten die Gegenwart als den gefürchteten Zusammenprall der Kulturen, in dem wir unsere westlichen Werte von Freiheit und Menschenrechten behaupten und verteidigen müssen. Und zur Verteidigung dieser Menschenrechte und der Grundfreiheiten heben wir die Menschenrechte auf und schränken die Freiheit der Menschen massiv ein. Angst ist in unseren Herzen, und in diesem Sinne haben die Attentäter genau das erreicht, was sie sich erhofft haben. Angst ist in uns. Die Welt ist nicht klüger geworden, sondern paranuider.

Warum aber diese Angst? Anschläge, so könnte ein nüchterner Geist mit dem gebotenen Abstand formulieren, kann es überall geben, davon geht die Welt nicht unter. Doch es war ein Anschlag im Zentrum einer Zivilisation. Für wieviele Menschen in der westlichen Welt ist New York eine Art lockerer Mittelpunkt? Das Mekka der Finanz- und Wirtschaftswelt? Wie können im Land von Hightech und Supergeheimdiensten solche Anschläge erfolgen? Nicht auf irgendeine Fabrik, nicht auf irgendeinen Militärstützpunkt, sondern auf das Welthandelszentrum? Obwohl viele Firmen durch die Anschläge Teile ihrer Vorstände verloren haben, waren diese Terrorakte nicht wirklich ein Schlag gegen die wirtschaftliche Führungselite der westlichen Welt. Darauf kam es aber auch nicht an. Es ging den Attentätern nicht darum, tatsächlich kurzfristig Handel und Finanzwesen zu schwächen. Der Angriff auf ein Ziel, das fast allen Menschen in der westlichen Welt bekannt ist, war wichtiger als der tatsächlich angerichtete Schaden. Die Botschaft lautete: „Seht her, nichts und niemand ist vor uns mehr sicher.“ Und irgendwie wussten wir ja auch, dass es der Westen war, der Osama bin Laden groß gemacht hat.

Wir haben Angst, davon bin ich überzeugt. Auch, wenn wir es abstreiten. Wir wissen, dass es auch der Westen selbst ist, der den Boden für die radikalen und übergeschnappten Gotteskrieger bereitet hat. Solange Amerika sie brauchte, hat man sie zu Werkzeugen amerikanischer Außenpolitik gemacht. Und diese, wie auch unsere eigene, Außenpolitik gilt nun einmal vorrangig der durchsetzung eigener wirtschaftlicher Interessen. Warum wohl musste Bundespräsident Köhler zurücktreten, als er genau das arglos öffentlich gesagt hat? Darum ist die Angst nur all zu verständlich, die wir empfinden, denn für die armen und unterdrückten Menschen im nahen und mittleren Osten, die die westliche Zivilisation in erster Linie als reich und verschwenderisch wahrnehmen müssen, können die Terroristen nur die Speerspitze eines sich aufbauenden Widerstandes gegen die Verteilungsungerechtigkeit der Welt sein. Und irgendwann wird dieser vereinzelte Widerstand die Massen genug radikalisiert haben, um in einen allgemeinen Kampf umzuschlagen. Davor haben wir angst, glaube ich.

Was also können wir dagegen tun? Angst ist nur so lange ein Automatismus, wie man sie nicht erkennt und durchschaut. Wir können zum Beispiel zulassen, dass ein muslimisches Gotteshaus in der Nähe des WTC entsteht. Es ist ein Gotteshaus, ein Gebetsraum, ein Versammlungsort. Von jeder anderen Liegenschaft aus kann auch ein Terroranschlag vorbereitet werden, eine Moschee am Ort des Geschehens macht die Welt nicht unsicherer. Wir können Toleranz bis an die Grenze dessen ausdehnen, was möglich ist, um Toleranz auch weiterhin leben zu können. Toleranz gilt jenen, die nicht unserer Meinung sind. Das ist ihr Wesen, also handeln wir danach, wenn nicht vorhersehbar ist, dass ein solches Handeln den Grundfreiheiten schadet. So wenig wie die Sicherheitsgesetze tatsächlich hundertprozentige Sicherheit bringen können, so sehr schaden sie den Menschenrechten in Europa und Amerika. Schaffen wir sie wieder ab, sie zertreten die Werte, die sie schützen sollen. Entscheiden wir uns bewusst, uns von den Anschlägen nicht ins Herz unserer Wertegemeinschaft treffen zu lassen, sondern nutzen wir die Ereignisse zum Nachdenken. Suchen wir die Gründe und nehmen wir den Radikalen soweit es uns möglich ist den Wind aus den Segeln.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Der Westen ist nicht schuld an der politischen und gesellschaftlichen Ideologie des Islam oder seiner radikalen Vertreter. Das sind hausgemachte Probleme. Aber der Westen tut längst nicht alles, was in seiner Macht steht, um einen Ausgleich zwischen den Kulturen zu ermöglichen. Viel zu sehr wird unser Handeln noch von der Angst bestimmt, die vor 9 Jahren in unsere Herzen getragen wurde.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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