Ein kurzer Blick in die alte Heimat

Ein Beitrag ohne Politik und ohne Motzerei erwartet euch, ein Beitrag mit Nostalgie und ein wenig Sehnsucht und Schmerz, aber nur so viel, dass die Erinnerung schöner strahlt.Ich bin ein wenig krank. Es war schlimmer diese Woche, jetzt klingt es ab. Ich bin langsam auf dem Weg der besserung, und ich bin allein. Meine Liebste besucht einen Freund und geht auf ein Konzert.

Als ich heute Nachmittag hinaus ging auf unseren Balkon, strahlte mich die Sonne an, und es war fast sommerlich warm. Ich setzte mich in meinen Gartenstuhl und ließ mich von der Sonne bescheinen. Ab und an hörte ich ein paar Vögel, ab und an ein paar Stimmen. Und ganz weit weg klang leise ein Radio. – Und das Zeittor sprang geradezu auf und sog mich unwiderstehlich auf die andere Seite …

… Als ich hinaus ging auf unsere Terrasse, strahlte mich die Sonne an, und es war sommerlich warm. Ich setzte mich in meinen Gartenstuhl und ließ mich von der Sonne bescheinen. Ab und an hörte ich ein paar Vögel, ab und an ein paar Stimmen. Und vom See oder einem der Nachbarhäuser klang ein Radio herüber. Und die Kinder planschten im Wasser, wie an jedem warmen Tag, fuhren Schlauchboot und johlten. Nachrichten klangen aus dem Radio, dann Werbung, und dann begannen, wie jeden Freitag um 3, die niederländischen Top 40.
Ich stand auf und holte mein eigenes Radio heraus, schloss es an, schaltete es ein, ließ mich zurück in meinen Gartenstuhl sinken und lauschte wie jedes Wochenende der Stimme des Radiomoderators Lex Harding oder Erik de Zwart, der die Top 40 moderierte. …

… Und von einer plötzlichen Eingebung getrieben stand ich auf, holte meine Funkbox, schloss sie an, schaltete sie ein, rief am Computer „Radio Veronica“ auf, setzte mich wieder in meinen Gartenstuhl auf dem Balkon und lauschte, wie schon seit vielen Jahren nicht mehr, dem Radiomoderator Erik de Zwart, der Ausschnitte aus alten Top-40-Sendungen präsentierte.

Ich werde es wohl nie in meinem Leben ganz verwinden. Als ich 13 Jahre alt war, kauften meine Eltern auf dem niederländischen Campingplatz Heelderpeel ein kleines Zelthaus für etwas mehr als 1000 Mark. Mein Vater verbrachte die nächsten sieben Jahre, die letzten seines Lebens, damit, für sich und unsere Freunde den Baumeister zu spielen, er baute unser eigenes Haus zu einem stabilen Holzhaus um und vergrößerte es auf das knapp dreifache. Für Freunde baute er ebenfalls, natürlich zusammen mit Anderen. Es entstand eine schöne Nachbarschaft und intensive Freundschaften. Ich selbst machte Heelderpeel zu meiner zweiten Heimat. Mit 2 Freunden erlebte ich spannende kleine Abenteuer, durch Gespräche mit den Nachbarn und durch das Radio lernte ich niederländisch. Jedes Jahr nahm ich an einer sogenannten Talentenjagd teil, wo ich Keyboard spielte und sang und manchmal einen Preis gewann. Freunde und Freundinnen, die ich in Marburg kennen lernte, kannten mich erst richtig, wenn sie mich in Holland sahen, wo meine Eltern und ich jede freie Minute verbrachten. Auch als mein Vater gestorben war. – Auch nachdem mein Bruder gestorben war. – Auch als unsere ältesten Freunde den Campingplatz verließen. – Auch als meine Mutter krank wurde. – Solange es ging ging sie jeden Freitag Abend in die Kantine und spielte Bingo. Und ich? Meine Leidenschaft war das Radiohören. Nicht nur: Nach und nach entdeckte ich die niederländische Politik, ich war oft mit Freunden in der Umgebung unterwegs, abends feierten wir im Sommer herrliche Grillfeste mit geselligem Beisammensein. Nachts fiel der Regen beruhigend auf das Zeltplanendach unseres Hauses. Und die Welt war Frieden. – Tagsüber saß ich bei Regen oft im Haus, wenn ich zum Beispiel Radio Veronica hörte, im Sommer draußen auf der Terrasse, auf demselben Gartenstuhl, der heute auf unserem Balkon steht und schon 25 Jahre alt ist.

Meine Mutter starb 20 Jahre, nachdem wir das haus gekauft hatten, es gehörte nun meiner Liebsten und mir. Zusammen mit einem Freund versuchten wir, es zu erhalten, aber niemand von uns konnte die Reparaturen ausführen, die notwendig wurden. Und leider war der Kontakt zum Großteil meiner noch lebenden Familie durch Streitigkeiten abgebrochen. Niemand konnte uns helfen. Am Ende bestand Einsturzgefahr…

… Und so mussten wir Heelderpeel nach 24 Jahren verlassen, es war, wie ins Exil zu gehen. Für 90 Prozent des von meinen Eltern gebildeten Hausrats hatten wir keine Transportkapazität, und wir mussten noch Geld dafür bezahlen, dass man das Haus, das mein Vater mit so viel Mühe gebaut hatte, einfach abriss. Wie gesagt: Ich werde es wohl nie ganz verwinden. Es ist grausam, nie wieder von den Eichhörnchen geweckt zu werden, die über das Dach laufen und nach Nüssen jagen, oder von den Vögeln im Frühling, oder den Fröschen im See. Und obwohl ich einen Computer habe, habe ich fast nie wieder holländisches Radio gehört seither, … bis heute. Eine Funkbox, eine Tasse Kaffee und ein warmer Frühherbstnachmittag auf dem Balkon haben es möglich gemacht.

Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, einen Ort haben, der für Sie Heimat und Frieden ist, lassen Sie dies nie Routine und Alltag werden, genießen Sie jede Sekunde, halten Sie es fest. Es sind Schätze, die man sonst oft erst zu schätzen weiß, wenn sie vergangen sind.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
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Eine Antwort zu Ein kurzer Blick in die alte Heimat

  1. Sammelmappe sagt:

    Ich hoffe sehr, dass du inzwischen wieder fit bist. Ja, ich geniese ab und an die Stille in meiner Wohnung, in meinem Zimmer. Dann wenn ich nach einem harten Tag nach Hause komme. Angefüllt mit Eindrücken und Emotionen.

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