Ärger mit der Arge 1 – Das Vorspiel

Ich kenne Menschen, die würden mir davon abraten, den folgenden Beitrag zu schreiben und zu veröffentlichen. „Wer weiß, wer hier mitliest“, würden sie sagen, „ich würde mir nicht alle Chancen verbauen mit einer solchen Äußerung“. Aber wo kämen wir hin, wenn wir schon der Angst nachgäben, weil wir das offene Wort führen, die freien Gedanken zulassen wollen. Dieser Beitrag mag politisch unklug sein, aber er hat nun einmal mit meiner persönlichen Situation zu tun. Doch betone ich ausdrücklich, dass alle in diesem Beitrag geäußerten Meinungen ausschließlich und vollständig meine eigenen, und nur meine eigenen Ansichten sind. 

Irgendwann erwischt es jeden mal, das weiß ich jetzt. Lange Jahre, seit Sommer 2004, habe ich zuerst auf Demonstrationen, dann vom Schreibtisch des Journalisten aus gegen sie Gewettert und geschrieben, immer aus einer Position des nur halb betroffenen heraus, den man ja in Ruhe ließ. Das hat sich jetzt gründlich geändert.

 

Zunächst ein Wort an sie! Ja, ich meine Sie, verehrter Sachbearbeiter oder Fallmanager, der sie hinter Ihrem Schreibtisch sitzen und mit einem Federstrich das Leben von Menschen verändern. Ist Ihnen selbst eigentlich bewusst, was Sie da tun? Begreifen Sie überhaupt die Tragweite Ihres Handelns? Sie sind ein Angestellter des Staates, der als Schutz- und Beistandsverbund freier Individuen gegründet ist. Sie haben in Ihrem Amt stets der Gemeinschaft, aber auch jedem einzelnen Individuum zu dienen, denn diese Staatsform legt wert auf die Kreativität ihrer individuellen Bürger. Ihre vordringlichste Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass jeder Bürger dieses Staates ein menschenwürdiges Leben führen kann, wie es Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland verlangt. Aber Sie, verehrter Fallmanager, und ich meine jetzt nicht einen Bestimmten, sondern dem Wesen Ihrer Tätigkeit nach Jeden, Sie tun etwas ganz und gar undenkbares. Sie dienen einer Maschinerie, die Menschen erniedrigt und sie der fundamentalsten Grundlagen ihrer Menschenwürde beraubt. Sie sind Schreibtischtäter! Sie machen sich natürlich die Finger nicht schmutzig, aber Sie entscheiden. Werden Sie sich bewusst, dass Sie per Gesetz dazu ermächtigt sind, das Einkommen jedes Menschen, der Ihnen anvertraut ist, unter das vom Bundesverfassungsgericht festgestellte absolute Existenzminimum zu drücken, wenn dieser Mensch Ihnen nicht gehorcht. Denken Sie gut darüber nach. Eine Unterschrift genügt, und ein Mensch hat 30 % weniger Geld, um seine notwendigsten Bedarfsgüter einschließlich der Mahlzeiten zu kaufen. Und warum? Weil er sich Anordnungen Ihrerseits nicht sofort und widerspruchslos fügt, oder weil er Ihre Anordnungen z. B. aus organisatorischen Gründen noch gar nicht kennt. Zum Einen muss jede Handlung, die Menschen die Existenzgrundlage raubt, ungesetzlich sein in einem Land, das auf Menschenwürde hält, selbst wenn es eine gesetzliche Ermächtigung gibt. Das Gesetz *muss* verfassungswidrig sein. Zum Anderen offenbart diese seelenlose Maschinerie, für die wir Deutsche ja so bekannt sind, welches Menschenbild die Erfinder dieses Gesetzes haben. Und Sie, lieber Fallmanager, führen dieses Gesetz auch noch aus, anstatt, wie es ihre staatsbürgerliche Pflicht wäre, kollektiv den Gehorsam zu verweigern. Sie setzen Ihre Anordnungen mit Hungerdrohungen durch. Sie zwingen die Menschen, einen Vertrag zu unterschreiben, der es Ihnen erlaubt, das Geld, das so eben zum Leben reicht, bei Ungehorsam zu kürzen. Sie zwingen die Menschen dazu, diesen Vertrag zu unterschreiben und drohen auch hier mit der Kürzung des Lebensnotwendigen. In welch perfidem und perversem System leben wir denn? Was sind die Menschen denn für Sie? Sie, verehrter Schreibtischtäter, tun einfach, was Sie für Ihre Pflicht halten. Sie bestellen Menschen ein, fordern, den Knebelvertrag zu unterschreiben, und wenn die im Schriftstück gesetzte Frist verstrichen ist, kürzen Sie das Geld. Auf diese Weise ist 2007 in Speyer ein Mann verhungert, weil individuelle Gründe und Lebensumstände ja keine Rolle spielen. Aber werden Sie sich bewusst, dass jede Kürzung des Lebensnotwendigsten zwar nicht offiziell gegen Ihre Ausführungsbestimmungen, aber gegen höherrangiges Recht verstößt, gegen das höchste Recht, das es gibt, das Menschenrecht auf ein würdiges Leben. Sie nehmen mit Ihren Federstrichen den Menschen die Würde, und zwar unmenschlich und kalt. Und reden Sie sich bitte nicht mit Ihrem Status als Befehlsempfänger heraus. Wir kennen alle Beispiele, wohin unmenschliche Systeme führen können, wo jeder nur dem Papier gehorcht. Ich verstehe ja: Sie müssen Quoten erfüllen, dem Amt Geld sparen und so weiter, nur dann bekommen Sie Ihre Prämien. Aber denken Sie daran: Schreibtischtäter hat es im Nationalsozialismus und im Stalinismus auch gegeben. Menschen, die ihren Anweisungen gehorchten und nicht links, nicht rechts geschaut haben. Auch Sie, verehrter Sachbearbeiter, sollten zu einem mündigen Bürger geworden sein im Laufe der Jahrzehnte. Wie oft haben Sie sich selbst die Frage gestellt, wie der nationalsozialistische Wahn solche Ausmaße annehmen konnte? Es sind die Schreibtischtäter, die das Elend nicht sehen oder nicht von ihm berührt und bewegt werden, oder die Angst haben, die sichere Position auf der anderen Seite der Barriere zu verlieren, die den NS-Staat möglich gemacht haben. Und sie machen auch den unmenschlichen Staat der Entwürdigung möglich, dem Sie nun zu Dienen begonnen haben. Das Böse ist banal, das stellte schon Hannah Arendt fest, als sie den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem beobachtete. Die Banalität besteht einfach darin, einen Beamtenjob zu machen und die Verantwortung für sein Handeln an Jene zurückzugeben, die die Gesetze machen und die Verordnungen herausgeben. Aber ohne das Heer der Willfährigen und Indifferenten wäre ihre Macht bedeutungslos. Von Ihnen also, verehrter Sachbearbeiter oder Fallmanager, hängt es ab, ob Menschen morgen noch ihre Würde behaupten können. Mit knurrendem Magen, abgerissenen Kleidern, auf die die anderen Menschen mit Abscheu starren, ängstlich und verzweifelt wird ihnen kaum ein Leben in Würde möglich sein. Sie, verehrter Fallmanager, haben sie diesen Menschen genommen, sie haben sie ausgestoßen aus der Gesellschaft, haben sie zu faulen Drückebergern und Abschaum degradiert. Sie haben zumindest dazu beigetragen, indem Sie eine Sanktion verhängten. 30 % weniger wegen Ungehorsam, lautete Ihr Urteil. Dabei hat nicht der Bürger Ihnen zu gehorchen, sondern Sie haben dem Bürger zu dienen, auch denen, die aufgrund einer verfehlten Politik und der fortschreitenden Rationalisierung keine Arbeit haben. Zumindest keine gut bezahlte Arbeit. Viele von diesen Menschen dienen der Gesellschaft und ihren Mitbürgern ehrenamtlich und aufopferungsvoll viel mehr, als Sie das tun. Sie, der Sie hinter ihrem Schreibtisch sitzen und mit einem Federstrich Existenzen vernichten, ohne sich dessen Bewusst zu werden, was Ihre Federstriche in der Welt anrichten oder auslösen. Es muss Sie auch nicht kümmern, der nächste Packen Akten wartet schon auf Ihrem Schreibtisch. Sie haben Macht: Macht unter Umständen über Leben und Tod, auch wenn Ihnen das unangenehm ist. Aufgrund seelenloser Entscheidungen, die einer von Ihnen getroffen hat, ist 2007 ein Mann in seiner Wohnung verhungert. Wenn Sie sich dies klar machen, können Sie da noch eine einzige Sanktionsanordnung unterzeichnen? Sie sind doch eben nicht ein Schreibtischtäter im Nationalsozialismus, sie sind in einem demokratischen Land geboren und aufgewachsen. Sie dürfen ihr eigenes Gewissen befragen, Sie dürfen es ablehnen, zum bloßen Befehlsempfänger gemacht zu werden. Ich wünschte mir, sie alle würden dies tun.

 

Und im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir ein bedingungsloses Grundeinkommen brauchen!

Als es am 1. Dezember klingelte, war darauf niemand vorbereitet. Es waren 2 Damen eines „Projekts“ des marburger Kreisjobcenters. Wir hätten auf die erste Einladung zum Profiling nicht reagiert, darum würden sie uns diese Einladung noch einmal persönlich vorbei bringen. Ich fand das nett, dass sie so hartnäckig waren, dass sie erst einmal keine Sanktionen anordneten sondern zu uns kamen, um zu sehen, warum der erste Termin nicht funktioniert hatte. Von diesem speziellen Projekt hatte ich bislang auch nur Gutes gehört. Es holt die Menschen dort ab, wo sie stehen, bietet grundsätzliche Kurse an, um überhaupt eine Teilnahme an der Gesellschaft wieder zu ermöglichen. Auch Kurse, die bestimmt nicht leicht zu machen sind wie „Hygiene“, „Kleidung“ und ähnliches werden dort angeboten. Allerdings muss man, wenn man Menschen dazu bringen will, sich den Leuten in diesem Projekt anzuvertrauen, auch geschultes Personal haben. Offenes, ehrliches, menschlich arbeitendes, Vertrauen einflößendes Personal, Menschen, die ihre Arbeit ernst nehmen. Die beiden Damen, die zu uns kamen, unterhielten sich mit uns über die Arbeit, die wir derzeit für Ohrfunk machen. Sie schienen im ersten Moment recht angetan zu sein. Die Stimmung änderte sich, als wir eine interessante Frage stellten: „Sie sprachen von einer Einladung. Heißt das, dass die Teilnahme an diesem Projekt freiwillig ist, also ein Angebot, oder werden wir dazu von unserem Fallmanager verpflichtet?“ So fragten wir. Die Antwort: „Nun, also Sie sind jetzt erst einmal ein halbes Jahr in dem Projekt drin, alles Weitere erzählen wir Ihnen, wenn Sie uns besuchen.“ Wir: „Aber Sie müssen doch wissen, ob es sich tatsächlich um eine Einladung, handelt, die Sie uns da bringen, oder um eine mit Sanktionen bewährte Anordnung.“ Sie: „Das ist Sache Ihres Fallmanagers.“ Wir: „Und wie ist es in unserem Falle?“ Sie: „Wir haben alles gesagt, was wir dazu sagen können.“ Die Atmosphäre war spürbar kühler geworden. Und als sie dann routinemäßig fragte, ob wir noch Fragen hätten, konnte ich nur fassungslos und zugleich belustigt den Kopf schütteln. Was nützt es, Fragen zu stellen, wenn einem die erste Frage schon nicht beantwortet wird? Als wir insistierten meinte diese Frau unverschämt: „Wir haben lange Wartelisten im Projekt, wenn Sie also partout nicht arbeiten wollen…“ – Das verschlug mir die Sprache. Nur, weil wir eine Infformation erbeten haben, und zwar mit aller gebotenen Höflichkeit. Wir haben uns vorher lobend über das Projekt ausgelassen, haben unsere Mitwirkungsbereitschaft mehr als einmal bekundet. Und dann erhalten wir so eine vollkommen unverschämte Antwort. Es machte mir klar, wie sehr diese Leute am längeren Hebel sitzen.

 

Sie gingen, ohne unsere Frage tatsächlich zu beantworten. Dies an sich fanden wir zwar unverschämt und seltsam, aber wir waren gewillt, das Beste daraus zu machen.

 

Am nächsten Morgen erhielten wir eine Mail unseres Sachbearbeiters beim Kreisjobcenter hier in Marburg. Er habe uns einen Brief mit der Aufforderung geschickt, zu einer Sanktionsanhörung zu erscheinen, weil wir auf sein Schreiben vor ein paar Wochen nicht reagiert hätten. Da die Kollegen vom Projekt ihm nun aber gesagt hätten, dass ein Termin stattfinde, könnten wir das Schreiben über die Sanktionsanhörung als Gegenstandslos betrachten.

Allein das Wort „Sanktionsanhörung“ offenbart die Denkweise dieser Behörde. Es war ein Schlag ins Kontor. Da haben wir ein Schriftstück wegen eines vorübergehend fehlenden Vorlesers nicht sofort beantwortet, sind nicht zu einem kurzfristig anberaumten Termin erschienen, und anstatt eine Mail zu schreiben oder anzurufen, schickt man uns die Aufforderung zu einer „Sanktionsanhörung“, bei der also über „Sanktionen“ gegen uns unartige Befehlsverweigerer und Faulenzer entschieden wird. Wie soll unter solchen Umständen eine vertrauensvolle Zusammenarbeit möglich sein?

 

Inzwischen weiß ich auch, dass wir Eingliederungsvereinbarungen erhalten haben. Bei der Unterschriftsverweigerung droht man uns mit 30prozentiger Kürzung des Arbeitslosengeldes. Wenn wir die Vereinbarung aber unterschreiben, dann erkennen wir damit vertraglich das Recht auf Kürzung an, was den gesetzlichen Schutz der Menschenwürde aushebelt, weil es sich um eine Vertragsangelegenheit handelt. Der Staat tritt dann nicht als Hoheitsträger, sondern als privatrechtlicher Vertragspartner auf und ist offenbar nicht an die Zahlung des existenzsichernden Minimums mehr gebunden, weil er unser Einverständnis hat. So habe ich das verstanden. Für mich bedeutet dies natürlich eigentlich, dass ich die Vereinbarung nicht unterschreibe. Das widerum schließt nicht aus, dass ich mich mit bestimmten Maßnahmen einverstanden erkläre, die in der Vereinbarung stehen. Aber ich bin schon entsetzt, wie gedankenlos Politik mit dem Hunger Anderer gemacht wird. Und wenn man eine Vereinbarung will, die ja ihrem Wesen nach freiwillig ist, und wenn man die mit einer Kürzung des Existenzminimums erzwingt, dann ist das perfide und unmenschlich, zynisch und kalt.

 

Ich schreibe nichts Neues: Alle wissen dies, trotzdem hat es keinen Aufstand gegen diese unmenschlichen Gesetze gegeben. Trotzdem ist alles ruhig geblieben, und das wird es auch in Zukunft tun. Wer arbeitslos ist und wem die ganze Zeit nur Faulenzerei vorgeworfen wird, hat natürlich Angst, fühlt sich gedemütigt und eingeschüchtert. Wie soll er staatsbürgerlichen Mut entwickeln und sich auflehnen?

 

Was werde ich nun tun? Ich werde zwei Termine wahrnehmen: Einen mit den Leuten dieses Projekts, einen mit unserem Fallmanager. Wir werden das Beste daraus machen, wir hoffen immer noch, dass vieles einfach Gedankenlosigkeit war. Aber ich persönlich glaube schon, dass es eine sehr effektive Methode der Einschüchterung ist, Gedankenlosigkeit zum System zu machen.

 

Update: Im persönlichen Gespräch mit den Leuten des Projekts und der ARGE konnten die Probleme, die wir selbst hatten, ausgeräumt werden. Wir wurden tatsächlich nicht gezwungen, die Eingliederungsvereinbarung zu unterschreiben, da man unseren guten Willen anerkannte. Unser Fallmanager hat sich im persönlichen Gespräch mit uns sehr entgegenkommend und äußerst kompetent verhalten. Es kommt eben doch oft auf die Einzelperson an, und sie hat Möglichkeiten, ihre Spielräume zu nutzen.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter Leben, Politik veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar