Über die Wutbürger

Den folgenden Kommentar habe ich am 04.01.2011 auf www.ohrfunk.de veröffentlicht.Gehören Sie eigentlich zu den Menschen, die empört darüber sind, dass viele politische Entscheidungen über Ihren Kopf hinweg getroffen werden? Verspüren Sie ein großes Bedürfnis, über die Wahlentscheidung hinaus ein Mitspracherecht bei gesellschaftlich und politisch relevanten Projekten zu haben? Kurz: Stehen Sie für Ihre Rechte ein und gehen auch mal auf die Straße? Herzlichen Glückwunsch, denn wenn dies alles auf Sie zutrifft, dann sind Sie ein Wutbürger. Sie dürfen sich freuen, das Wort des Jahres 2010 auf Ihrer Seite zu haben. Zweite Frage: Sind Sie wohlhabend und nicht mehr jung? waren Sie früher gelassen und staatstragend, sind jetzt aber zutiefst empört über die Politiker? Wehren Sie sich gegen den Wandel? Wollen Sie nicht Weltbürger sein? Wollen Sie zu Lasten einer guten Zukunft des Landes unbedingt bewahren, was Sie haben und kennen? Denken Sie eher an sich als an die Gemeinschaft? Hegen Sie tief empfundenes Misstrauen gegen Andersdenkende, Andersgläubige und anders aussehende Menschen? Herzlichen Glückwunsch: Auch Sie sind ein Wutbürger. Vermutlich ist es deshalb möglich, dass der Begriff zugleich Wort und Unwort des Jahres werden könnte, am 18. Januar 2011 werden wir es genau wissen.

Das Problem mit dem Begriff „Wutbürger“ ist, dass man ihn sowohl als Ausdruck eines heiligen und gerechten Zorns gegen zu wenig Partizipation verstehen kann, als auch als Ausdruck des stark angewachsenen rechten Potentials in der Gesellschaft, das sich aus Unzufriedenheit und Angst nährt. Veränderung und Wandel bringen Angst mit sich. Sei es die Tatsache, dass nun einmal mehr als ein drittel der jetzigen Kindergeneration fremdländisch ist, oder dass ein neuer Bahnhof nun einmal eine jahrelange Baustelle erfordert. Je nach Interessenlage verbündet sich der Wutbürger mit den Protesten von links oder von rechts, er ist in keiner Weise ideologisch gebunden. Seine Wut, seine Angst und seine Ohnmacht treiben ihn an. Dabei entstehen kaum Netzwerke, kaum ein Wir-Gefühl, kaum positive Zukunftsvisionen, sondern lediglich negative Abwehrreaktionen gegen die gegenwärtige Realität. Der Wutbürger verliert seine Contenance, die ihn früher als Bürger auszeichnete. Als Thielo Sarrazin in München seine Thesen vorstellte, so berichtete die Süddeutsche Zeitung, hätten gut situierte Bürger im Publikum gegen die Kritiker Sarrazins gezischt, gehetzt und gegeifert. Ein „Hauch von Sportpalast“ sei zu spüren gewesen. In Stuttgart erhalten die linken Parteien und Organisationen, die sich gegen die 10-Jahres-Baustelle des Bahnhofs wenden, massiven Zulauf. Und zwar durchaus aus dem konservativen Lager. Die Grünen werden derzeit von einem viertel der Deutschen als ihre Partei geschätzt, weil sie sich gegen die Castor-Transporte aussprechen. Es ist aber immer nur das eine Thema, das den einzelnen Wutbürgern derzeit am Herzen liegt, das ihre politische Richtung und gegebenenfalls auch ihre Wahlentscheidung bestimmt, keine ideologische Nähe zu einer politischen Gesamtkonzeption. Morgen kann alles schon wieder ganz anders sein. In den Niederlanden wurden so in den letzten Jahren von verschiedenen rechten Protestgruppierungen Wahlen gewonnen, während sich das Establishment auflöste. Tiefes Misstrauen gegen die Demokratie und ihre Institutionen greift um sich. Dieselben Wutbürger, die heute die Grünen wählen, könnten morgen Sarrazin wählen, wenn die Überfremdung das Hauptthema wird und die Atomkraftwerke ohne große Zwischenfälle weiterlaufen. Sensationsberichterstattung der Medien bewegt millionen Menschen in die eine oder andere Richtung, und Joseph Goebbels hätte seine reinste Freude. Der Wutbürger ist ein Angstbürger, aber er hat nicht nur welche, er macht auch welche.

In Zeiten, in denen das Durchschnittsalter der Bevölkerung immer höher wird, ist es nicht verwunderlich, dass sich so viele Menschen gegen Veränderungen stämmen. Ab einem gewissen Zeitpunkt will man völlig zurecht ein ruhiges Leben verbringen, die Früchte seiner schweren Arbeit ernten und ein kleines Glück genießen. Die anderen Unzufriedenen aber, die jetzt nach mehr Volksbeteiligung als Lösung aller Probleme rufen, die verkennen ein ganz gravierendes Problem: Wo immer die Mehrheit bestimmt und der Schutz der Minderheit fällt, gibt es demokratisch legitimierte Unterdrückung. Denn der Wutbürger richtet sich nicht nur gegen überkommene politische Institutionen, lange Entscheidungswege und politische Kungelei, er verlangt Volksentscheide mit bindender Kraft. In der Schweiz, deren Demokratie in mancher Hinsicht ja immer noch funktioniert, hat man so den Bau von Moscheen verhindert, in Hamburg die Bildungsreform abgeschmettert und in Bayern den Nichtraucherschutz gestärkt. Staatliche Beschränkungen sieht der Wutbürger in einer echten Bürgerdemokratie als überflüssig an. Er ist eben nicht im eigentlichen Sinne konservativ, sondern reaktionär.

Doch was kann man nun tun, um die Wut des Wutbürgers wieder in staatstragende Gelassenheit und Contenance zu verwandeln? Durch Volksabstimmungen allein schafft man kein Wir-Gefühl, das alle umfasst, auch die Schwächeren einer Gesellschaft. Durch das Stoppen jeder weitreichenderen Veränderung geht es dem Land auch nicht besser. Aber aus Angst jede weitere Demokratisierung der Gesellschaft abzulehnen, mit dem hochnäsigen „Das haben wir doch schon immer gewusst, der Bürger ist nicht reif“ auf den Lippen, kann auch nicht die Lösung sein. Eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn die übergroße Mehrheit der Bevölkerung sie trägt und Vertrauen in ihre Entscheidungen hat. Dieses Vertrauen ist zutiefst erschüttert. Um es zurückzugewinnen müssen nicht die Politiker etwas tun, sondern die engagierten Bürger selbst. Sie müssen verstärkt in die Politik gehen, in die Parteien eintreten und die Basisversammlungen dieser Parteien dominieren, dort nämlich werden die Politiker gewählt, die bei den Parlamentswahlen auf allen Ebenen antreten. Denn eins ist klar: Solange es so viele Wutbürger gibt, werden die besonnenen Bürger wohl kaum an den mündigen Bürger glauben.

 

Hier ein paar Links:

 

Originalartikel des Spiegel über die Wutbürger,

Wer abstimmt hat ein Ventil aus dem schweizer Tagesanzeiger,

Interessanter Artikel aus der Wochenzeitung „Die Zeit“,

Artikel der Süddeutschen Zeitung, der den Spiegel zur Wortschöpfung Wutbürger veranlasste.

Über Jens Bertrams

Jahrgang 1969, Journalist bei www.ohrfunk.de, Fan der Niederlande und der SF-Serie Perry Rhodan.
Dieser Beitrag wurde unter Die Niederlande, erlebte Geschichte, Leben, Politik veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten zu Über die Wutbürger

  1. Bernd sagt:

    Ein schwieriger Artikel! Wenn ich mir die Fragen die am Anfang gestellt wurden beantworte kommen derart ausreichend viel „Ja“ das ich also auch ein Wutbürger bin.
    Anderseits kann ich 20 Jahr zurückdenken und war früher auch nicht „gelassen und staatstragend, wollte mehr Mitspracherecht …. – also teilweise schon immer ein „Wutbürger“.
    Was hat sich also geändert? Ich bin mir nicht sicher ob der oben durchaus treffend beschrieben „Wutbürger“ wirklich etwas Neues ist? Ich weiß auch nicht wie weit die dafür ausschlaggebenden Ereignisse von 2010 wirklich als Maßstab dafür gelten können.
    Stuttgart 21? Da wurde eine Entscheidung die vor 15 Jahren wahrscheinlich sinnvoll war und durchaus als zukunftsweisend angenommen wurde, nach Jahren einer „Börsenoptimierten Bahnpolitik“ mit eben merkbaren Verschlechterungen für die „normalen Bürger“ eben so nicht mehr akzeptiert. Die Bahn kann eben nicht Preise erhöhen, das Angebot in vielen Nebenregionen verschlechtern und dann gleichzeitig eben derartige Mammutprojekte weiterhin forcieren.
    Das war in meinen Augen ein „ganz normaler Protest“ der durch das besonders ungeschickte Verhalten von Bahn und Politik (und die völlig irrsinnige Polizeiaktion) dann eskalierte.
    Die Proteste gegen die Castortransporte waren nun ja auch nicht neu. Hier kam meines Erachtens ein fast kleinlicher „Rachegedanke“ zusätzlich zum Ausdruck. „ Wenn Ihr da oben die Laufzeiten verlängert dann werden wie da unten Euch wenigstens bei den Transporten so viele Schwierigkeiten machen wie möglich“. Und die Grünen haben dieses Potential sofort erkannt und dementsprechend ausgenutzt.

    Ich weiß eben wirklich nicht ob es den „Wutbürger“ wirklich gibt, der sich, wie oben beschrieben, gegen Veränderungen stemmt? Es gibt den „unzufriedenen Bürger“ welcher mit gewissen Ohnmachtsgefühlen dem politischen Geschehen gegenübersteht und sich nicht mehr repräsentiert fühlt. Der wahrscheinlich auch in diesem politischen Spektrum keine Repräsentanz findet. Wie anders kann man es sich erklären, dass es eine schwarz gelbe Regierung geschafft hat die Regierungsmehrheit zu erhalten und nach wenigen Monaten sind nun alle Umfragewerte im Keller. Was diese Regierung in der Zwischenzeit zu verwirklichen begonnen hat war doch von vornherein vorauszusehen.
    Und schwarz gelb wurde ja nicht gewählt weil man schwarz-gelb WOLLTE sondern weil man rot-grün NICHT WOLLTE. Also such hier eine Haltung die nicht mehr konstruktiv etwas Bestimmtes will, sondern nur mehr der Ausdruck einer generellen Haltung gegen etwas. Ich befürchte, dass die derzeitigen Überlegungen zu mehr direkter Demokratie derartige Haltungen nur weiter bestärken und dazu führen, dass wirklich eine „Verhinderungspolitik“ entstehen kann.
    Hier kann ich als Österreicher, der seit 11 Jahren hier lebt nur das österreichische System der Volksbefragung loben. Dabei wird keine rechtlich bindende Situation geschaffen sondern ein Thema muss damit „nur“ nochmals im Parlament behandelt werden. Und damit werden eben alle Pros und Kontras noch einmal behandelt und wenn eine Regierung danach noch immer der Meinung ist, GEGEN eine Mehrheit der befragten Bürger etwas durchzusetzen muss sie eben auch die entsprechenden Argumente haben bzw. die Konsequenzen bewusst in Kauf nehmen. Ich finde dabei eben wirklich gut, dass die Verantwortung dabei eben nicht auf „irgendwelche abstimmenden Bürger“ geschoben wird, sondern dass politisches Handeln dabei eben auch in der Verantwortung der gewählten Vertreter bleibt.

  2. Das ist genau der Grund, warum ich denke, dass sich etwas im Gegensatz zu früher geändert hat. Die alten Konstellationen in der Politik sind verschwunden, es herrscht Destruktivismus, der „Wutbürger“ treibt von einem Thema zum Andern und macht seine Wahlentscheidung von Einzelthemen, die gerade in den Medien präsent sind, abhängig. Schweden, Dänemark, vor allem die Niederlande sind Beispiele für dieses Wählerverhalten in den letzten Jahren. Die beiden unterschiedlichen Definitionen von „Wutbürger“ stammen übrigens nicht von mir. Sie stammen aus der Begründung für das Wort des Jahres und aus der Begründung für den Antrag, es zum Unwoet des Jahres zu wählen. Ich bin gespannt, ob es das tatsächlich wird.

    Natürlich ist dies ein schwieriger Artikel. Die Bürger identifizieren sich immer weniger mit dem Staat. Du wolltest früher mehr Mitspracherecht, aber dir war nicht alles scheißegal. Wenn der Trend zu immer weniger Wahlbetteiligung anhält, wird das für die Demokratie kein gutes Jahr.

    Der Blick nach Österreich ist tatsächlich sehr interessant. Eine Demokratisierung unserer deutschen Parteienlobbykratie wäre meiner Meinung nach wünschenswert.

Schreibe einen Kommentar